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Gott wohnt in der Nordstadt – Ein Portrait von beiden

3,80 Euro für Pommesmayo, Currywurst, Cola. Wir sind im Herzen der Nordstadt. 55.000 Menschen wohnen in diesem Dortmunder Stadtteil, in dem sich prachtvolle Altbauten wie Perlen aneinanderreihen. Hier leben all die Abgehängten und Gestrandeten dieser Gesellschaft, die, denen Drogen und Alkohol durch den Tag helfen, die ohne Jobs und Geld, die Hälfte mit Migrationshintergrund. Und Gott, Boris Gott.

Der Musiker wohnt zurzeit am Hafen, einen Steinwurf vom PCB-Verseucher Envio entfernt. Die Nordstadt beginnt direkt hinter dem Hauptbahnhof, seit zehn Jahren ist Gott hier, gekommen aus Kehl am Rhein, dem Sauer- und dem Münsterland. 1977 haben seine Eltern sich scheiden lassen, da war er gerade fünf. Seine Mutter war damals eine der ersten Alleinerziehenden, sie lebten von Sozialhilfe, „Armut war für mich ziemlich präsent“, sagt er. Die Schattenseiten des Lebens sind bis heute sein Thema. Und so kam er wohl auch in die Nordstadt, der er viele seiner Lieder gewidmet hat. In „Bukowski-Land“ zum Beispiel reimt sich Bordsteinrand auf Nordstadtstrand. „Hier sind alle irgendwie fremd, und in dieser Fremdheit ist man wieder gleich“, beschreibt Gott das Lebensgefühl.

Sucht und Wahnsinn

Zunächst hat Boris Gott Diplompädagogik studiert, dann als Sozialarbeiter in einem Obdachlosenbrennpunkt in Ahlen gearbeitet. Später war er rechtlicher Betreuer in Mülheim. „Auch da hatte ich es mit Extremen zu tun, mit Leuten, die am Rand leben. Als Betreuer ist man von Sucht und Wahnsinn, von Demenz und von Armut umgeben“, erzählt er aus dieser Zeit. Gott und ich sitzen zunächst vorm Café Fink, direkt am Nordmarkt, einer der dunkelsten Seiten der Stadt. Das fällt jedoch nicht auf, weil die Sonne an diesem Spätsommertag auf die Menschen mit den Bierflaschen in der Hand scheint und noch die finstersten Ecken erhellt. Viele erhabene Häuserzeilen mit Gründerzeitflair schmücken die Straßen, viele saniert, viele nicht. Die Nordstadt ist das größte zusammenhängende Altbaugebiet der Region.

Seit einem Jahr gibt es das Café Fink, von der Straße aus erkennt man es nur an der roten Fassade. Kein Schild weist den Weg – dazu wäre ein Bauantrag nötig gewesen. Vor einigen Jahren gab es viele Kampfhunde auf dem Nordmarkt, heute kriegt man hier für kleines Geld Maultaschen auf schwarzen Gemüsegnocchis in Senfsauce. Dem Sänger gefällt die Stimmung in seinem Stadtteil: „Was woanders hinter verschlossenen Türen stattfindet, ist hier ganz offensichtlich. Im Grunde ist es ein harmonisches Miteinander, ich bin noch nie angemacht oder überfallen worden. Wenn die Leute hier Stress haben, dann untereinander in ihren Gruppen.“ Die Migrationsdebatte hält er vor allem für ein Medienproblem: „Man sieht immer nur entweder den türkischen Bollo-Gangsta-Rapper oder den toll integrierten Superaufsteiger.“

Überzeugter Spießer

Vor zwei Jahren hat Gott seinen Job an den Nagel gehängt und arbeitet seitdem hauptberuflich als Musiker. Einfach war die Entscheidung nicht. „Mit Musik Geld verdienen zu wollen, ist schon sehr idealistisch, und ich bin überzeugter Spießer“, erklärt er. Mittlerweile hat er sogar sein eigenes Label gegründet, Nordmarkt Records. Im November erscheint die neue Platte. Musikalisch ist er Autodidakt, spielt und singt, seit er vierzehn ist. Herausgekommen sind dabei so Zeilen wie die im Stück „Irgendwo in DO“: „Ein Penner krakeelt, grad ist Gott explodiert. Wenn das stimmt, wird das kein guter Tag.“ Apropos Gott. Es ist ein Künstlername, und Boris ist nicht der uneheliche Sohn von Karel Gott, der heißt nämlich wirklich so, fast zumindest. Trotzdem sagt er: „Karel Gott hat mich durchaus beeinflusst, Biene Maja fand ich damals großartig.“

Ein gewisser Schlagereinfluss lässt sich nicht verhehlen. Meine allererste Assoziation war ein Mix aus Stephan Sulke und Rio Reiser. Der Vergleich freut den Musiker, er summt „Uschi, mach kein Quatsch“. Selbst nennt er seine Musik Folkpop mit Ü 30-Blues, wahlweise Ruhrpottpop. Die eingängigen Melodien bringen auch seriöse Ü 60-Damen zum begeisterten Mitklatschen, gleichzeitig kichern sie bei mancher Textzeile verlegen. Beim bodo-Jubiläum letztens selbst gesehen.

Arbeiter- und Straßenstrich

Wir fahren ein Stück mit dem Auto. Direkt an den Nordmarkt grenzt die Schleswiger Straße, bekannt für den bulgarischen Arbeiterstrich. Dunkelhaarige Männer jeden Alters stehen hier vor den Häusern und warten auf Arbeit. Tagelöhner, die zur türkischsprachigen Minderheit in Bulgarien gehören. Für ein paar Euro am Tag entrümpeln sie Wohnungen, schleppen Steine, übernehmen Hilfsarbeiten. Oft haben sie keine eigene Wohnung, sondern teilen sich die Betten, schlafen in Schichten wie zur Zeit der Industrialisierung. Manche übernachten in den Autos, die vor den Häusern parken.

Weiter geht es, überall Gewusel, viele Menschen, viel Verkehr, vorbei am Baumarkt. Hinter Hornbach beginnt der Straßenstrich. Stark geschminkte, langbeinige Frauen in sehr engen Leggins auf sehr hohen Schuhen sind auf dem Weg zur Arbeit. Der Straßenstrich an der Bornstraße grenzt im Westen an das riesige Gelände der Westfalenhütte, deren Fläche etwa dreimal so groß ist wie das der Dortmunder Innenstadt. 25.000 stolze Hoeschianer haben in der Hochphase hier gearbeitet, heute sind es noch 1.300. Ein Viertel der Menschen im Stadtteil hat keine Arbeit.

Pommes Rot-Weiß


Dann kommen wir zur Pommesbude am Borsigplatz. Sie bietet nicht nur unschlagbare Preise, sondern auch echte Dortmunder Tradition. Genau hier war früher der „Wildschütz“, die Kneipe, in der 1909 der BVB gegründet wurde. Heute heißt der Laden „Pommes Rot-Weiß“ und drinnen hängen viele Erinnerungen an Schwarz-Gelb. Herbert Grönemeyer ist mit seiner Bochum-Hymne und der häufig widerlegten Behauptung, der VfL mache mit seinem Doppelpass jeden Gegner nass, reich und berühmt geworden. Gott winkt ab, er interessiert sich nicht für Fußball und möchte dem örtlichen Ballsportverein kein Lied widmen.

Weiter zum Hafen. Trotz des Spätsommertages weht der Wind nordseegleich. 1899 löschte hier der erste Dampfer seine Fracht, gebaut worden war der Hafen für die Montanindustrie. Eisenerz wurde importiert, Kohle exportiert. Heute hat die Logistik das Ruder übernommen, ungezählte Container stapeln sich im Hafen, Waren werden aus aller Welt und in alle Welt verteilt. Viel Importkohle wird umgeschlagen. Boris Gott mag den Hafen, geht gern hier spazieren.


Unfreiwillig hip

An den Hafen schließt sich der Fredenbaumpark an. Er gehört zu den großen Parkanlagen der Stadt und grenzt direkt an den Dortmund-Ems-Kanal. Da ist er also, der Nordstadtstrand. „Im Sommer kann man hier super schwimmen gehen, das wissen viele Leute gar nicht“, erzählt der Sänger. Gott ist damals zufällig in der Nordstadt gelandet, aber „es war Liebe auf den ersten Blick. Schicksal.“ Was er noch an seinem Stadtteil mag: „Die Leute hier sind unfreiwillig hip geworden, weil die Achtziger zurückgekommen sind und sie immer noch die Klamotten aus den Achtzigern tragen.“

Licht und Schatten, Schwarz und Weiß, das sind seine Themen, ganz persönlich und auch in seiner Musik. Er mag die Extreme, sieht den Stadtteil als Metapher für das Leben an sich. Auf der Bühne trägt er ein schwarzes Hemd und eine weiße Weste, weiße Schuhe. Sein „Ruhrpott-Dreikampf“ führte den Musiker von der Kneipe in die Pommesbude zum Arbeitsamt. Er spielte an jeweils zwanzig Orten, zuletzt am 1. Mai bei der „Hartz IV Tour Ruhr 2010“ vor zwanzig Arbeitsämtern.


Im November erscheint die neue CD mit dem Titel „Es ist nicht leicht ein Mensch zu sein“. Da gehts um den „Bahnhofs-Blues“, der ähnliche Hitqualitäten hat wie seinerzeit „RTL & Rohypnol“, um „Sonnenschein“ und „Niemandsland“. Manchmal verlässt Gott das Ruhrgebiet und ist „Nackt in Brunsbüttel“.

Wir fahren zurück, vom Kanalufer wieder mittenrein, ins dunkle Herz des Ruhrgebiets. Wie heißt es bei Gott? „Heute ist ein schöner Tag, hier im Norden meiner Stadt. Junkies leuchten, Mütter schreien, es ist schön hier zu sein.“

(Alle Fotos: Barbara Underberg)

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bodo
13 Jahre zuvor

Schöner Text über einen richtig guten Typen!
Eine Kleinigkeit: „Kein Schild weist den Weg…“
Um ein bisschen den Untergrund-Grusel zu nehmen: Das Fink braucht als einziges Gebäude auf dem Nordmarkt neben dem Diakonie-Kiosk wirklich kein zusätzliches Hinweisschild – und dann eben auch keinen weiteren Bauantrag.
Das EU-finanzierte Gebäude ist deutlich sichtbar, neu (2008) und architektonisch gelungen. (Der neben dem Text abgebildete Kiosk am Hafen ist es nicht.)
Manchmal ist es hier gar nicht so schlimm…

Phil.
13 Jahre zuvor

Auch ich habe diesen sehr gut geschriebenen Text gern gelesen.

Detlef Obens
13 Jahre zuvor

als gebürtiger Dortmunder schliesse ich mich den Vor-Kommentaren an!
Sehr gut geschrieben, sehr angenehm zu lesen!

Naja
Naja
13 Jahre zuvor

Die Realität sieht dann aber so aus:

https://www.derwesten.de/staedte/dortmund/Parteien-sehen-Nordstadt-am-Abgrund-id3629955.html

Gewalt, Drogen, Prostitution auf dem wohl größten Straßenstrich Westdeutschlands, 4000 Osteuropäer, die teils in schlimmen Verhältnissen leben – Dortmunds Parteien sehen den Problemstadtteil Nordstadt am Abgrund

bodo
13 Jahre zuvor

@naja: Die Lage im Umkreis der Kreuzung Mallinckrodtstraße / Bornstraße ist wirklich dramatisch. Die Ballung von Straßenstrich, „Arbeiterstrich“ (beides dominiert von Migrantengruppen aus Bulgaren und Rumänien), offener Drogenszene und „Freiluft“-Alkoholkonsumenten dürfte in Deutschland relativ einmalig sein.
Der zitierte WR-Artikel zeigt aber das zweite Dortmunder Problem. Die schimpfende Stadtbezirksvorsitzende ist einerseits Immobilienmaklerin in der Dortmunder Nordstadt und andererseits Angehörige der ewigen Mehrheitsfraktion, die in den letzten 30 Jahren die o.g. Probleme genau dort plaziert hat.
Junkies und Trinker wurden mit viel Aufwand aus der City in den Norden getrieben, der Straßenstrich bewusst dort angesiedelt. Gegen eine Betreuung der Problemgruppen vor Ort und damit eine Entlastung der Anwohner verweigert sich die SPD. Gut, dass es einen manchmal etwas naiven Nicht-Genossen als Dezernenten gibt (auch im Text), dem man das Ganze jetzt in die Schuhe schieben kann.

(In Klammern: Wie strukturell dieses Problem ist, zeigt sich im Bereich Jugend. Hier wird die zweite grüne Dezernentin seit Monaten durchs Dorf getrieben, weil ein desolates Jugendamt und z.B. die offene Korruption rund ums FZW einen Sündenbock brauchen.)

Barbara Underberg
Barbara Underberg
13 Jahre zuvor

Natürlich sind die Zustände in der Nordstadt nicht nur wildromantisch. In dem Beitrag ging es mir aber darum, die Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit dieses oft geschmähten Stadtteils zu zeigen.
Die Zustände am Arbeiter- und Straßenstrich sind tatsächlich katastrophal. Nach dem, was ich bisher weiß, ist das teilweise fast wie moderne Sklaverei. Bin weiter am Thema und werde über die Nordstadt hoffentlich bald noch mehr schreiben können.

Michael Kolb
Admin
13 Jahre zuvor

Zu Boris: Von Karel beeinflusst und Biene Maja mögen, aber keinen Bezug zum BVB haben… na, das hab ich gern… Da ist Boris wohl der einzige Mensch auf dem Erdenrund, den die Streifenstutzen in den neunziger Jahren unbeeinflusst gelassen haben…

Und zu Barbara: Ich finde es unnötig, daß Du diesen schönen Text zu verteidigen versuchst, das hat der Text nicht nötig und Du schon mal gar nicht.

Natürlich gibt es im Norden von Dortmund Zustände, die schlimm sind und die es zu hinterfragen gilt. Wenn auch nur ein paar Tage, so bin ich doch älter als Gott. Die Nordstadt, das war immer schon: Linienstraße, Musikschule, Nutten, Navyshop Stamschrör (hab ich das jetzt richtig geschrieben?), Studio X, Hannibal, kroatische Lebensmittelhandelstartups und irgendwann ist auch Heike Hintermbannoff dorthingezogen, Haydn oder Mozartstraße … Der Norden von Dortmund, das war immer „Nachtjackenviertel“, für mich seit mehr als dreissig Jahren und ziemlich wahrscheinlich sogar schon viel länger.

Wenn es Gott nun dorthin verschlagen hat, dann empfinde ich das als ein Signal: Der Norden wird eben nicht sich selbst und den Bulgaren überlassen (und ob die tatsächlich nur auf Arbeit warten, das sei mal dahingestellt), nö, es gibt immer noch Menschen, denen es dort nicht nur gefällt, sondern die auch noch etwas dafür tun, daß „ihr“ Stadtteil ein wenig lebenswerter wird, noch ist also die Hoffnung, die bekanntlich zuallerletzt den Löffel abgibt, gestorben.

Michael Kolb
Admin
13 Jahre zuvor

@ Barbara

Ich weiss, daß Du es ernst meinst, und die Lage ist tatsächlich ernst. Dennoch, Du brauchst keinen Artikel verteidigen, der sich mit den „wildromantischen“ Aspekten beschäftigt. Jedem der denken kann sind die Probleme bekannt. Kann ja sein, daß Du ihn gar nicht verteidigst, aber bei mit als Leser kommt der Kommentar eben so an und das ist einfach nicht nötig!

NIx für ungut, toller Artikel!

Arnold Voss
13 Jahre zuvor

Richtig, bleib dran Barbara. Es ist nicht nur die Nordstadt, es ist der ganze Norden des Ruhrgebietes der auf die Tagesordnung gehört. Da gibts eine Menge zu berichten. Da gibts eine Menge Probleme zu lösen. Und da gibt es auch Leute die dazu bereit sind anstatt immer nur rumzujammern.

JK
JK
13 Jahre zuvor

Die Bulgaren sind halt die Tageslöhner wie die Tageslöhner in den USA, aber es könnte auch sein das die, die schulden von der Familie abarbeiten müssen…

Frauenhandel und großer Drogen Handel wird in der Nordstadt getrieben…

Man muss sich ja auskennen….

Der Text ist wirklich schön und zeigt auch mal die andere Seite 🙂

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Thorsten
Thorsten
13 Jahre zuvor

Komme gerade vom Nordmarkt. War da Einkaufen. Mache ich immer wenn es die Zeit zulässt. Alles 99 Dollar sagte der türkisch stämmige Gemüsehändler…

Martin Böttger
Martin Böttger
13 Jahre zuvor

Solche Stücke machen diesen Blog einzigartig. Danke!

Dortmunder
Dortmunder
13 Jahre zuvor

Chapeau, Frau Underberg.
So einen grandiosen Artikel bekommt wahrscheinlich nur ein Geograph hin 😉

https://www.zeit.de/1993/20/Geheimnisvoller-Geograph
(so von wegen Pommesbude und so)

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