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Hungermodels und Ernährungskampagnen

Foto: Thorsten Schraven

Hatte Marilyn Monroe Übergewicht? Wer sie mit heutigen Models oder Star-Schauspielerinnen wie Jessica Alba, Angelina Jolie oder Nicole Kidman vergleicht, müsste wohl zu diesem Schluss kommen. Nach einem Vorstoss der Frauenzeitschrift "Brigitte", die auf den Abdruck von professionellen Hungermodelfotos verzichten will, hat das Thema wieder Eingang in die öffentliche Debatte gefunden.

Noch 20 Jahre nach dem Tod der Monroe wurden in Karikaturen die fiesen Kapitalisten als Dicke in Anzug und mit Zigarre gezeichnet; in manchen Versionen zogen sie mittels eines Flaschenzuges einen Korb mit Nahrung vor den hungrigen Arbeitermassen hoch. Das ist heute alles umgewertet: die fiesen Kapitalisten sind heute durchtrainierte Männermodels à la René Obermann. Die Dicken sind die, die von ihnen rausgeschmissen werden. Ums Essen geht es auch nicht mehr, das macht weniger als 15 Prozent der privaten Haushaltsbudgets aus.

Vernachlässigt wird in landläufigen Ernährungskampagnen, dass es nicht nur viele Übergewichtige, sondern vielleicht noch mehr Essgestörte gibt. Von konkreten Strategien gegen die Ausbreitung dieser Massenkrankheit ist leider nirgends die Rede. Schon vor einigen Jahren hat eine Studie der Universität Jena ergeben, dass ein Drittel der 10-31-jährigen Frauen und Mädchen von Essstörungen betroffen ist oder war. Eine vom Robert-Koch-Institut veröffentlichte Studie zur Kindergesundheit kommt zu einem ähnlichen Ergebnis für 11-17-jährige: 28,9 Prozent der Mädchen und 15,2 Prozent der Jungen seien betroffen. Adipositas-betroffen sind dagegen nur 8,9 Prozent der 14-17-jährigen, beziehungsweise noch weniger in jüngeren Altersgruppen.

Bei Übergewichtigen lautet das Klischee, sie ließen sich gehen, würden sich selbst vernachlässigen. Da ist es stimmig, wenn Politik und Medien als Umerzieher auftreten und den unter Übergewichtigen stark vertretenen Unterschichtlern vorhalten, sie seien an ihrem Schicksal selber schuld und sollten sich erst mal selbst läutern, bevor sie Staat und Krankenkasse auf der Tasche liegen. Bei den Essgestörten sieht das Bild anders aus. Auch bei ihnen sind die Armen und die mit Migrationshintergrund (letztere laut RKI über 50 Prozent) überrepräsentiert. Sie versuchen, das Leben mit übersteigerter Selbstkontrolle in den Griff zu bekommen, sie üben zu viel Selbstdisziplin. Warum nur? Sigrid Borse vom "Frankfurter Zentrum für Ess-Störungen" beschreibt es als Versuch, "aus einer Ohnmacht heraus den Körper zum Bereich eigener Handlungsmacht" zu machen. Es fehle den Betroffenen an – schöner Begriff! – "innerer Sicherheit"! Und es gibt sie über 90 und unter acht Jahren, die Tendenz geht zur durchschnittlichen Verjüngung.

Es ist also unumstritten, dass Ess-Störungen eine Massenerkrankung, eine Volkskrankheit sind. Doch es ist merkwürdig, wie wenig das politische Debatten beschäftigt. Die Essgestörten sind schlimme Opfer herrschender Individualisierung. Sie treiben sie gegen sich selbst auf die Spitze, und kommen zu allerletzt auf die Idee, sich gar politisch dagegen zu organisieren. Foren, in denen sie sich zu immer höheren Hungerleistungen anspornen, gibt es dagegen wie Sand am Meer. In Wohngemeinschaften junger Frauen, besonders natürlich wenn sie "schön" sind, gehört das Kotzen zur gemeinsamen Alltagskultur. Sie finden nichts dabei, so wenig wie Alkoholiker ihr Saufen bemerkenswert finden. Den Regierungen fällt offensichtlich nichts dazu ein. Selbst in den Debatten der Feuilletons kommt es selten vor. Sind zu viele in der Branche selbst betroffen? Wer mag schon über sich und seine ganz persönlichen Fehler disputieren?

Doch es ist nicht "ganz persönlich". It´s the economy, stupid! Der Halt, den Berufstätigkeit und Arbeit gegeben haben, wurde und wird demontiert. Heute versuchen alle, nach Kräften zu funktionieren, weil sie nur dann durch Gehalt und soziale Anerkennung belohnt werden. Bei wem das Funktionieren gefährdet wird, verbirgt das lieber – darum auch die abnehmenden Krankheitstage. Das lässt sich der Körper nicht gefallen. Er reagiert bei jedem und jeder anders. Die einen fressen, die andern hungern, wieder andere tun beides. Die häufigste Krankheitsursache, sagt Wiglaf Droste, ist die Arbeit. Wer also gesund leben will, sollte als Erstes das Arbeiten, aber nicht Essen und Trinken einstellen.

But it´s not only the economy. Die Deutschen sind durch eine lange preußische und faschistische Genussfeindlichkeit geschädigt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. (Sic!) War das nicht sogar ein Slogan von sozialdemokratischen Revolutionären? Die Hartz IV-Politik lässt sich jedenfalls genau davon leiten. Hier wird Essen als Nahrungsaufnahme zwecks Funktionieren des Körpers verstanden. Und das ist genau das große Missverständnis. Wenn der Mensch gesund bleiben soll, braucht er Lust und Genuss. Am Mittelmeer wurde das traditionell immer besser verstanden. Weil es dort mehr Licht gibt? Während im winterlich dunklen Skandinavien trotz prohibitiver Steuern und Preise erheblich haltloser gesoffen wird?

Heute existieren längst soziale, technische, wissenschaftliche und kulturelle Instrumente, die aus diesem archaischen Abhängigkeitsverhältnis von der Natur befreien können. Genuss kann gelernt werden, in Frankreich sogar in der Schule. Die internationale Slowfood-Bewegung bemüht sich darum, die sich bedauerlicherweise in Deutschland mehr als elitäre Gourmet-Vereinigung darstellt, als es diesem eigentlich hochpolitischen und sozialen Gedanken gut tut. Global engagiert sie sich unter italienischer Führung für regionale Erzeuger gegen die Patentpolitik der internationalen Saatgutkonzerne und für "das Recht auf Genuss". Auf jeden Fall kann man den nicht autoritär durch Regierungsdekret vermitteln, sondern nur durch Mitmenschen, die Freude und Genuss selbst vorleben können und dürfen. Furcht, Angst, Strafe haben da keinen Platz. Sie breiten sich aber gerade aus. Das ist das Ernährungsparadox unserer Tage. Wer da nicht dran will, wird weder Übergewichtigen noch Essgestörten helfen können.

Informationen über Essstörungen:

www.essstoerungen-frankfurt.de

www.bzga-essstoerungen.de

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1 Kommentar
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David Schraven
Admin
14 Jahre zuvor

Schönes Stück.

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