Zurück in’s Glied, Christoph Harting!

Foto: Ailura, CC BY-SA 3.0 at

Herr Harting hat gefeixt. Herr Harting hat herumgehampelt. Herr Harting hat die Höchststrafe erhalten: öffentliche Hinrichtung, an der sich selbst sein eigener Trainer per Bild-Zeitung beteiligte. Weil er nicht die gleiche Zurichtung an den Tag gelegt hat wie seine Teamkollegen. 

Christoph Harting wirft den lieben langen Tag in der Bundespolizeisportschule Kienbaum mit dem Diskus. In Rio de Janeiro schaffte er fast 70 Meter – Goldmedaille. Man mag das für Verschwendung von Steuergeldern halten, aber es geht doch um so viel mehr. Denn Harting soll für Deutschland werfen, für Deutschland siegen – und dann gefälligst bei der Siegerehrung für Deutschland stramm stehen und ein gerührtes Tränchen vergießen. Anschließend soll er einem Mitarbeiter des öffentlichen Rundfunks erklären, wie zufrieden er nun sei und ob er am Abend ein Bierchen trinken werde. Seine Sportkameraden tun das. Harting tat es nicht, und ist seither nicht bloß einem handelsüblichen Shitstorm ausgesetzt, sondern einer persönlichen Hexenjagd, die in Zeiten von Google den Rest seines Lebens überschatten wird. 

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Experimente in einer toten Stadt – heute beginnen die 62. Internationalen Kurzfilmtage

Foto: Kurzfilmtage / Daniel Gasenzer
Foto: Kurzfilmtage / Daniel Gasenzer

Das Oberhausener Kurzfilmfestival startet zum 62. Mal. Es findet in einem Viertel statt, in dem die Hälfte aller Kinder aus Hartz 4-Familien stammt. Genau der richtige Ort für kritische Kunst. Aber die Besucher des Festivals wirken in Oberhausen wie Außerirdische – eine Interaktion mit der gescheiterten Stadt gibt es kaum.

In Oberhausen, laut New York Times das deutsche Detroit, liegt eine trübe Stimmung über allem. Die hoffnungslose Situation sieht der Besucher vielen Einwohnern auf den ersten Blick an, wenn er den Hauptbahnhof in Richtung Kino verlässt. Die Verwaltungszentrale des Festivals liegt auf der anderen Seite der Innenstadt – der besseren Seite. „Die Villa“, wie das Gebäude völlig zu Recht genannt wird, eines der schönsten Häuser der Stadt, thront wie eine exterritoriale Trutzburg im Grünen. Oberhausen ist Deutschlands einzige Großstadt ohne Hochschule. Abgesehen vom Festival gibt es keine nennenswerten kulturellen Ereignisse. Mit dem riesigen Einkaufszentrum Centro haben die Filmtage gemein, dass nur ein Bruchteil der Besucher aus der Stadt selbst kommt. 

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Trunken von Tocotronic

Pressefoto Universal/Sabine Reitmeier
Pressefoto Universal/Sabine Reitmeier

Im deutschen Pop herrscht der Untertanengeist, die Selbstoptimierung und das unverkrampfte Bekenntnis zum Mitmachen. Mia, Thees Uhlmann, Silbermond, Jan Böhmermann – die konformistische Rebellion tobt Allerorten. Überall? Nun, die Gruppe Tocotronic trat gestern in Dortmund auf und es war eine Wucht.

Als revolutionäre Zelle entfesselten die Musiker eine verloren geglaubte Kraft der Popmusik, eine Absage an das Durchhalten und die Normativität, an Nachhaltigkeit, Enthaltsamkeit und Praxis, an alle Grenzen und jede Provinz. Stattdessen empfiehlt die Gruppe das Scheitern und die Selbstermächtigung, den Zucker und die Schwäche – und eine neue Seltsamkeit. Damit überfordert sie jenen Teil des eigenen Publikums, der auf die plumpen Botschaften beliebigen Betroffenheitsgedudels konditioniert ist. „Systemkritik!“ forderte einer vor der Bühne. Die Antwort von ebender: „Den Wunsch erfüllen wir doch die ganze Zeit. Du musst nur mal zuhören!“.

Tocotronic: Eine romantische Scherbendemo in der langweiligsten Landschaft der Welt.

Der Ringlokschuppen ist unverzichtbar!

Erst vor einigen Tagen gaben die Verantwortlichen des Mülheimer Ringlokschuppens bekannt: 435.000 Euro müssen bis zum Ende des Monats aufgetrieben werden, sonst ist das Haus insolvent. Ein aufgeblähter Mitarbeiterstab und ein fatales Missmanagement sind am Ausmaß des Desasters schuld. Und all das, obwohl kaum ein anderes Kulturzentrum im Ruhrgebiet so hohe Zuschüsse erhält wie der Schuppen.

Trotzdem: Freie Kultur ist immer ein Zuschussgeschäft. Eine Hinwendung zum immergleichen glatten Programmeinerlei wirtschaftlich ausgerichteter Kulturdienstleister wäre der völlig falsche Weg – nämlich der in die Bedeutungslosigkeit. Events gibt es in Mülheim schon genug. Zum Beispiel einen schönen kleinen Hafen, in dem nicht ein einziges Schiff ankert. Der Ringlokschuppen ist als Zentrum der experimentellen Theaterszene unverzichtbar – das sehen auch über tausend Mülheimer so, die innerhalb kürzester Zeit eine Petition für den Erhalt unterzeichnet haben. 

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Philosophische Spielzeuge, zu sehen mit zwei Augen beim Shiny Toys Festival in Mülheim

Performance von Mariska de Groot und Dieter Vandoren.
Performance von Mariska de Groot und Dieter Vandoren.

Am Samstag findet das fünfte Shiny Toys Festival in Mülheim statt, mittlerweile eines der wichtigsten internationalen Festivals für audiovisuelle Experimente. Ein Treffen für Tüftler, Entdecker, Historiker und Zukunftsforscher. Dabei treten Performancekünstler und Bands auf, die an den Schnittstellen von Ton und Licht mit unserer Wahrnehmung spielen. Im Zentrum stehen auch in diesem Jahr wieder Exponate aus der – offenbar schier endlosen – Sammlung des Experimentalfilmers Werner Nekes. Dieses Jahr mit einem Schwerpunkt auf der räumlichen Wahrnehmung: „Der Blick mit zwei Augen“. Das Festival findet auch 2014 im Ringlokschuppen statt, die Ausstellung erstmals im neuen „Zentrum für Kunst und Technik“, dem Makroscope. Dort haben wir mit dem Festivalleiter Jan Ehlen gesprochen.

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Popmusik: Der schnellste Weg zur dunklen Seite

Der Keller voller Wasser, die Nacht um die Ohren gehauen um zu retten was zu retten ist – Sie kennen das. Belohnt wurde ich mit einem so kuriosen wie unterhaltsamen Fundstück. Mir fiel die 42. Ausgabe der Soziale Hygiene – Merkblätter zur Gesundheitspflege im persönlichen Leben in die Hände. Thema: “Pop-Musik – Faszination der Jugend”.

Eine weitere Sternstunde der Anthroprosophie eröffnete sich mir während der Lektüre! Rasch hatte ich die 20 Seiten, die vor Jahren offenbar auch im Umfeld der Essener und Mülheimer Waldorfschule kursierten, gelesen – und bin nun schwer begeistert. Ein krudes Machwerk wie aus den dreißiger Jahren, elegant-pointiert geschrieben und veröffentlich im Jahre 1982. Einziger Schönheitsfehler: Das Pamphlet ist keineswegs als Satire gedacht, es wurde auch nicht von der TITANIC herausgegeben, sondern vom Verein für ein erweitertes Heilwesen e.V., der, damals noch im Schwarzwald sein Unwesen treibend, heute unter neuem Namen in Berlin ansässig ist. 

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Fünf Jahre Skribble

Am Samstag feiert die Gruppe Skribble ihren 5. Geburtstag im Oberhausener Druckluft mit einem kleinen Festival.

Die Konzerte, Happenings und Partys der Gruppe sind im Ruhrgebiet mittlerweile ein Begriff. Sie stehen für einen unverkrampften Umgang mit audiovisueller Kunst und für einen ganz eigenen Klang irgendwo zwischen Ambient, Techno und IDM.  Die Einbeziehung des Publikums in die kreativen Prozesse der Künstler spielen dabei eine wichtige Rolle – so greifen Gäste von Skribble-Veranstaltungen auch mal selbst zum Pinsel.
Das vor allem die alljährlichen Geburtstagsfeten von Skribble sich in ihrer liebevollen Gestaltung von anderen Abendvergnügungen abheben, zeigt schon die Werbung: Die Flyer und Plakate der Gruppe entstehen nicht im Computer, sondern als aufwändige Objekte in Werkstatt und Atelier. Nach einer Mini-Industriemetropole im Wohnzimmersofa und einem an die Arbeiten von John Cage angelehnten Multiphantasieinstrument hat die Künstlergruppe in diesem Jahr die Zukunft der Vergangenheit (wieder)entdeckt: Der „Hyperdrive 5YRS“ ist eine Zukunftsvision aus den achziger Jahren, und wird am Samstag auch im Druckluft stehen.

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