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Europameisterschaft: Fußballflucht quer durchs Revier – Ein Protokoll

Wenn mich später jemand fragt, wo ich das Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft erlebt habe, kann ich umfassend Auskunft geben. Ich habe im Bus gesessen und in der Bahn. Ich habe versucht, diesem Spiel zu entgehen, im öffentlichen Nahverkehr.

20:48 Uhr. Der Bus ist pünktlich. Die UEFA ist es nicht. Als der SB 20 den Busbahnhof verlässt, fängt das Viertelfinale in Warschau gerade an. Die Verbindung zwischen Recklinghausen und Herne ist die einzige Strecke, mit der die Vestische Straßenbahnen AG Gewinn erzielt. Mögen die Straßen menschenleer sein, der Gelenkbus ist es nicht. Er muss schon nach hundert Metern einen Umweg nehmen, der Wall ist gesperrt für das Public Viewing. Busse haben zum Glück kein Autoradio. Unter den Fahrgästen dominiert die U20. Männer mit Migrationshintergrund, MMH. Gibt es die Abkürzung schon? Spätestens jetzt. Neulich hörte ich im WDR-Fernsehen erstmals das Fachkürzel MILF. Ich sitze also im Gelenkbus mit Menschen, die sich wohl auch deshalb nicht für die EM interessieren, weil ihre Herkunfts-Nationalmannschaft erst gar nicht dabei ist.

20:58 Uhr. Wir passieren die Vestlandhalle. Ihre Blütezeit ist bald 50 Jahre her, Beatfestivals füllten den Zweckbau. Jetzt gibt es dort nicht mal mehr Erotikmessen. Aus einer Seitenstraße nähert sich eine einsame Inline-Skaterin, um die Sechzig, mit Warnweste und allen frei erwerblichen Gelenkschonern am Körper. Der Bus unterquert die Autobahn A2, Recklinghausen-Süd. Merke: Dort wo die wenigsten Deutschen wohnen, hängen die größten Fahnen aus dem Fenster.

Um 21:08 Uhr hält der Bus in Herne, Schloss Strünkede. Schon immer nicht direkt am Eingang zur U-Bahn, sondern gut 50 Meter davor. Hier stoßen eben zwei verschiedene Verkehrsgesellschaften aufeinander, Vestische und BOGESTRA. Den minimalsten Kundenservice hat man in 20 Jahren nicht hinbekommen. Hinter der Wiese zur Rechten liegt das Stadion am Schloss Strünkede, die Heimat von Westfalia Herne. Der bekannteste Spieler der Clubgeschichte ist Torwart Hans Tilkowski, dann folgen schon Michael Steinbrecher und Sönke Wortmann. Westfalia spielt in der nächsten Saison in der Oberliga. Als die Herner vor 60 Jahren schon mal dieser Liga angehörten, war diese noch erstklassig. Jetzt tritt man unter gleichem Namen vier Etagen tiefer an. 32 000 Zuschauer fasst das Stadion. Keine zehntausend kamen in der gesamten letzten Saison.

Später schaue ich in einem Live-Ticker nach. Etwa hier muss das 0:1 gefallen sein.

21:10 Endstation Herne Bahnhof, der nicht Hauptbahnhof heißen darf. Den Titel trägt die eingemeindete Station in Wanne-Eickel. Die Busfahrerin genehmigt sich in der kurzen Pause eine Zigarette. Ich schaue auf ihr schwarz-rot-goldenes Schweißband am rechten Arm. Wenigstens nicht so affige Gummibänder, wie sie Waldemar Hartmann in seiner Gruselveranstaltung in der ARD zur Schau stellt. Ich rauche ebenfalls still neben ihr. Der Eingang zur U-Bahn ist verrammelt. Ich vermute, man sorgt aus Angst vor randalierenden Fußballfans vor. Eine andere Busfahrerin, In Dienstkleidung des örtlichen Verkehrsbetriebs HCR, raucht nicht, gibt aber nur zögernd Auskunft: „Keine Ahnung. Vor einer Stunde war der noch offen.“ – Pause. Ob es denn einen anderen Eingang gebe? – Pause. „In der Unterführung vielleicht, da hinten.“ Danke. Korrektur. Sie gibt nur zögernd keine Auskunft.

21:20 Uhr. Die U35 fährt. Ich erreiche sie über den Nebeneingang. Schnell sind wir in Bochum. Fußballerisch derzeit eher unaufsteigbar denn unabsteigbar. Zwei Sitzreihen hinter mir zirpt ein Handy die Liveübertragung. Ich schaue in meinem Telefon nach.

0:2. Dafür haben die Italiener vor sechs Jahren noch 120 Minuten gebraucht. Auch im Fußball steigt also die Produktivität. Ich müsste mal prüfen, ob eine Fußball-Europameisterschaft jemals direkt hintereinander dieselben Finalteilnehmer gesehen hat. Später.

Wir passieren die Haltestelle Riemke Markt. Hier gab es vor viereinhalb Jahren die große Demonstration gegen die Schließung des Nokiawerks. Vielleicht sollte den Managern von GM mal jemand erzählen, was mit Unternehmen passiert, die sich aus Bochum zurückziehen.

Die Scheiben der unterirdischen Straßenbahn, richtige U-Bahnen wie in München oder Berlin verkehren hier nicht, haben Blagen vollgerotzt mit den Geleekugeln aus ihren Bubble Teas. Kurz vor dem Bergbaumuseum, das nie ein Bergwerk war, steigt ein MMH zu. Vietnamese, nehme ich an. Abeitsthese: Vietnamesen tragen immer Kartons bei sich, ein Volk von Kleinhändlern.

21:33 Uhr. Bochum Hauptbahnhof. Auf der Rolltreppe stehen ein paar leere Flaschen. Die Treppe ist abgestellt. Vor dem Bahnhof ist es ruhig. Eine ältere Frau quatscht mich an. Wenn sie bessere Tage in ihrem Leben gesehen hat, kann sie sich an diese wohl kaum noch erinnern. Sie bietet mir elf Cent für eine Zigarette. Ich schenke ihr eine. Daraufhin bittet ihr Begleiter auch um eine Nikotinspende. Sie fragt mich: „Können Sie mir das genaue Datum sagen?“ Ich wundere mich gar nicht, muss selber nachschauen: „Der 28. ist heute.“ Die beiden trollen sich auf eine Bank. „28., dann müsste morgen Geld vom Amt drauf sein“, sagt sie und genehmigt sich einen Schluck aus der Weinflasche. Eine Frau hastet über den Vorplatz zum Taxistand. Sie trägt eine alberne Deutschlandperücke des Bierbrauers Carlsberg.

Halbzeitpause in Warschau. Es steht immer noch 0:2. Die Sonne geht unter in Bochum.

Unter der Decke der Bahnhofshalle hängen bunte Plastikblumen in Reih und Glied. So muss die Frühjahrsdekoration damals in DDR-Kaufhallen ausgesehen haben. Ist das hier Kunst oder wieder eine Deeskalationsmaßnahme für Fußballanhänger, die bei Niederlagen schnell vergessen, wie fröhlich ihr Patriotismus heutzutage zu sein hat? Bis auf den Zeitschriftenladen und die Tchibofiliale sind alle Geschäfte geschlossen. Wo ist in Bochum eigentlich das Public Viewing? Ich will weiter nach Gelsenkirchen. Auf dem Weg zur U-Bahnstation  begegne ich Mädchen im Teenageralter. Eines berichtet empört von einer Begegnung mit einem Kontrolleur: „Fragt der mich: Wollen Sie sofort ´ne Anzeige oder noch mal ´ne Nacht drüber schlafen? Ich sag nee, wissen Sie…“ Den Rest der Rede und mich schluckt die Rolltreppe. Ich stemple meinen Fahrschein ab.

21:51 Uhr. In Warschau beginnt die zweite Halbzeit. In Bochum entkommst du dem Fußball nicht. „Balotelli – Man of the Match“, brüllt ein leicht angetrunkener Mann seinen Begleitern zu, den Umstand genießend, dass der komplette Bahnsteig mithörrt, „bis wir bei diesem scheiß – wie heißt datt? – Public Viewing sind, steht datt 3:0. Wer ist denn hier für Italien?“. Die Bahn fährt ein.

21:55Uhr. Bochum guckt im Westpark. Hunderte wollen jetzt schon nach Hause. Eine Handvoll Fans steigt aus, zu mir gesellen sich vier junge Männer in Deutschland-Trikots, die sie offensichtlich schon länger tragen. Die Jungs haben schlechte Zähne und gute Laune. Bei einem steht „Höwedes“ auf dem Rücken. Aha, der ist offensichtlich auch bei der EM dabei. Ein Kumpel von mir telefoniert hin und wieder mit dem, beide kennen sich aus ihrer Halterner Jugend. Mein Straßenbahn-Höwedes hat etwa die Maße seines Idols. Das heißt, er ist wesentlich kleiner, dafür einiges schwerer. Rein mathematisch macht es keinen Unterschied, wenn man Körperlänge x Gewicht rechnet.

Die Jungs schieben Sprüche, entdecken mein Schreibzeug. „Ey, der ist von der Bildzeitung“, ruft Höwedes, „schreiben Sie: Wir fahren alle schwarz. Nee: Der hier fährt schwarz. Der ist aus Essen, der ist schwul. Wir sind aus Gelsenkirchen, wir machen sowas nicht.“ „Quatsch, der ist nicht von der Bild, der ist Kontrolleur“, spekuliert der Essener im roten DFB-Trikot aus früheren Zeiten und hält mir unaufgefordert seinen etwas speckigen Personalausweis unter die Nase. Ich überlege, ob ich auf dem Niveau einstiegen kann, die Linie 302 frisst kreischend Schienen, überquert die A40 und erreicht Wattenscheid. Für einen Moment will ich mich als Bildredakteur ausgeben, der undercover als Kontrolleur recherchiert. Ich lächele stattdessen deeskalierend und sage:  „Okay, ich schreibe: Die Gelsenkirchener sind so schwul, die kaufen sogar nachts freiwillig Tickets.“ Die Bahn hält überraschend an einer Baustelle, wir müssen alle in den Bus umsteigen, ich verliere die Gruppe vorübergehend aus den Augen. Der Service der BOGESTRA ist dürftig. Irgendjemand hätte mal ansagen können, dass der Schienenersatzverkehr nach nur zwei Stationen am Friedrich-Ebert-Platz schon wieder in der nächsten Bahn endet.

Wir fahren knapp am Lohrheidestadion vorbei. SG Wattenscheid 09. Die spielte mal in der 1.Bundesliga, was Westfalia Herne mit und ohne Goldin nie gelungen ist. In der neuen Saison treffen beide Clubs in der Oberliga wieder aufeinander. Das dürfte den Zuschauerschnitt am Schloss Strünkede erhöhen. Bekanntester Wattenscheider Spieler wird auf ewig Hannes Bongartz bleiben. Daran rütteln auch die Altintops nicht. Noch berühmter sind jedoch der ewige Vereinsboss Klaus Steilmann und die alte Würstchenbude, die bei packenden Partien schon mal von Polizisten gesichert werden musste, was nicht immer gelang.

22:20 Uhr. Unauffällig überqueren wir die Stadtgrenze nach Gelsenkirchen-Ückendorf, sind jetzt in der Heimat von Mesut Özil. In Warschau geht das Spiel in die Schlussphase. Die Umsteigerei hat so viel Zeit gekostet, dass ich meinen Plan aufgebe, mit der Bahn weiterzufahren bis nach Buer, der Heimat von Manuel Neuer, vorbei an der Glückauf-Kampfbahn. Da habe ich 1973 mein erstes von nur vier Bundesligaspielen gesehen, Schalke spielte damals gegen Kaiserslautern 2:2.

Kurz vor dem Hauptbahnhof oute ich mich gegenüber meinem Fußballquartett als Blogger. Warum sie so früh das Public Viewing verlassen haben, möchte ich wissen. Höwedes deutet auf seinen Bruder: „Sein Kind ist krank, und außerdem haben wir sowieso verloren.“ Der Konflikt zwischen Liebe und Leidenschaft.

Eigentlich müsste die Regionalbahn nach Haltern längst abgefahren sein. Aber auf die Bahn ist in entscheidenden Momenten Verlass. Sie ist so exakt verspätet, dass ich meinen Anschluss mit einer kleinen Sprinteinlage exakt erreiche. Der Zug fährt aus. Knapp einen Kilometer nach links, also nördlich, in Gelsenkirchen-Bulmke-Hüllen, steht der berühmte Affenkäfig, in dem Mesut Özil als Kind Bolzplatzkönig wurde. Zugegeben, das musste ich später zuhause nachschlagen. Ich hätte ihn in Ückendorf verortet. Aber zwischen Ückendorf und Bulmke-Hüllen liegen im Ruhrgebiet Welten.

22:36 Uhr. Wir müssen kurz hinter Wanne-Eickel sein. Özil schießt das 1:2.
Wenig später geht es über den Rhein-Herne-Kanal. Ich bin wieder in Recklinghausen. In tiefer Chronistenpflicht höre ich nun doch Radio auf dem Smartphone.

22:38. Wieder an der Vestlandhalle. Abpfiff. Drei Minuten später erreiche ich den Ausgangspunkt meiner Halbfinalreise, eile aus dem Bahnhof. Unüberhörbar, die Fans vom nahen Public Viewing starten zum Autokorso. Das hat eine gewisse Konsequent. Schließlich hat man vorher vollgetankt, das Auto und sich selbst.

Wenig später, zuhause, schalte ich den Fernseher ein. Reinhold Beckmann redet schamfrei von der „Last der Geschichte“. Sein Gegenüber Mehmet Scholl trägt schwarz und sagt erst einmal nichts. Dann wird geworben für die Sendung von Waldemar Hartmann. Til Schweiger wird angekündigt. Ich suche die Fahrpläne für den Nachtexpress.

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Arnold Voß
Arnold Voß
11 Jahre zuvor

Wunderbare Story, Martin. Ich verneige ich.

Detlef Obens
11 Jahre zuvor

brilliant geschrieben!

Robin Patzwaldt
11 Jahre zuvor

Sehr schön! Scheinst einen netteren Abend gehabt zu haben als ich, der ich zwar TV geschaut habe, den Kommentar dort aber nicht ertragen habe und daher zum TV-Bild lieber ‚The Cure‘ gehört habe. Das hatte zwar auch was, aber ich bin trotzdem ganz neidisch jetzt….

Norbert
Norbert
11 Jahre zuvor

Ich habe versucht, diesem Spiel zu entgehen, im öffentlichen Nahverkehr.

Und dann die ganze Zeit nach Spuren des Spiels schauen?

Und auch noch gezielt Infos abfragen? Z. B.:

Zwei Sitzreihen hinter mir zirpt ein Handy die Liveübertragung. Ich schaue in meinem Telefon nach. 0:2.

Das muss man nicht stringent finden, oder? 🙂

Helmut Junge
Helmut Junge
11 Jahre zuvor

Martin,
da, wo Du entlang gefahren bist, soll früher ein Seitenzweig des Jakobsweges gewesen sein. Wenn das stimmt, bist Du, ohne es zu ahnen, einem Weg gefolgt, der vielen Menschen früher eine innere Befriedigung ähnlicher Art verschafft hat, wie es heute eine EM tut. Auch damals werden sich die Pilger gegenseitig informiert haben. Insofern wundert es mich nicht, dass du diesem quasireligiösem Ereignis nicht entgehen konntest.
Also rechne ich Deine gut geschriebene Geschichte zu den Pilgergeschichten.
Ist Dir das recht?

Norbert
Norbert
11 Jahre zuvor

@Martin

Lieber Martin,

ich wollte es nur loswerden, da ich ich persönlich immer vergleichsweise viel daran störe, wenn Erzählungen nicht stringent sind.

Auf jeden Fall eine gute Idee, zu zeigen, dass nicht alle voll auf das kommerzielle Großevent fixiert sind. Mich interessiert das nämlich auch nicht.

Dank deiner Erklärungen kann ich nun nachvollziehen, warum du das so gemacht hast. Danke. Ich glaube, dass es auch ohne gegangen wäre, aber dann hätten sich vielleicht andere beschwert.

Beste Grüße

Norbert

trackback
11 Jahre zuvor

Links anne Ruhr (02.07.2012)…

Duisburg: OB-Wahl: Sozi Sören siegt, CDU beharkt sich (xtranews) – … und der WDR informiert nicht wirklich bzw. nicht richtig. Bottrop/Dinslaken: Bauen Bottroper Kumpel ab 2013 auch in Dinslaken Kohle ab ? (Bottblog.de) – Das Ruh…

Martin Böttger
Martin Böttger
11 Jahre zuvor

Lieber Martin,
erst jetzt lese ich Deine großartige Reportage. Ich gestehe, so bekloppte ÖPNV-Rundfahrten habe ich auch schon gemacht, allerings keinem was davon erzählt, geschweige denn geschrieben 😉
Zur Zeit Deiner Reportage bin ich in Hamburg gewesen, von St.Pauli zum Schanzenviertel gelaufen, dort in einem von Iranern geführten „indischen Imbiss“ mit Freunden (eine Migrantin aus dem Ruhrgebiet und ihr US-amerikanischer Freund) gespeist und das Spiel geglotzt, ein wenig Bier getrunken und dann wieder nach St.Pauli gelaufen. Es war warm – nicht so wie jetzt – alle Fenster und alle Türen aller Gaststätten, und das sind da sehr viele, waren offen und drinnen und drauessen mit Flachbildschirmen ausgestattet. Die gesamte Landjugend aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein war angereist; die F+MMHs waren schon da, die wohnen (noch) und arbeiten ja da.
Es war eine tolle Party, auch nach dem Spiel. Und da, wo ich war, also Hamburg nicht Wuppertal, absolut unaggressiv.
Es ist also, das muß ich Dir nicht erzählen, nicht alles schlecht am Fußball.
Und die Besseren hatten ja auch gewonnen 😉

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