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Ich möchte diese Krise in keiner anderen Zeit erleben

War geschlossen, heute wird vor leeren Rängen gespielt: Schauspielhaus Bochum

Ja, an einer globalen Pandemie ist nichts Gutes und sie wird uns alle auch nicht achtsamer, klüger oder sonst irgendetwas bewirken, was sich verschwurbelte Hippiehirne so alles ausdenken. Und ja, noch im Januar war das Leben besser, alleine schon, weil noch mehr Menschen lebten, weil wir Freunde treffen und feiern konnten, weil Millionen Existenzen noch nicht verloren waren oder auf dem Spiel standen. Ich persönlich setzte mich extrem ungerne mit Krankheiten auseinander, habe aber in den vergangenen acht Monaten hunderte, eher über tausend Artikel, zum Thema Corona, Impfstoffentwicklung oder Pandemien gelesen, dazu noch ein paar Bücher. Und auch wenn man sich mit Freunden oder Kollegen unterhält, ist Corona natürlich das große Thema. Es ist alles eine gottverdammte Scheiße, man kommt nicht Drumherum, das anzuerkennen.

Aber es könnte schlimmer sein, viel schlimmer. Wir erleben diese globale Krise in einer Zeit, in der hervorragende Wissenschaftler in nie gekannter Zahl sich der Seuche entgegenstellen. Eine leistungsfähige Pharmaindustrie der Hochleistungsrechner und gentechnische Verfahren zur Verfügung stehen arbeitet an Impfstoffen und Medikamenten. Und dieses Land verfügt über  sehr gute Ärzte, Pflegekräfte und Krankenhäuser. Es ist Geld da, um Beatmungsgeräte, Schutzkleidung und Masken zu kaufen. Es wird großflächig getestet.

Und was auch nicht selbstverständlich in einer Krise dieses Ausmaßes ist: Die Versorgung steht. Die Lebensmittelversorgung ist exzellent, die Ernte in diesem Jahr konnte eingebracht werden. Im Frühjahr war das noch nicht sicher, aber es hat geklappt.

Ja, in Kneipen und Restaurants zu gehen, macht im Moment keinen Spaß. Seitdem ich 16 bin war ich an fast jedem Wochenende raus – das geht im Moment nicht mehr. Fußball, Kino, Konzerte, alles ist anders und das ist natürlich ein Problem. Es ist jedoch vor allem ein Problem für Künstler, Wirte und Veranstalter. Aber auch bei ihnen geht es nicht ums Leben. Im schlimmsten Fall gibt es einen gut ausgebauter Sozialstaat, der einem unter die Arme greift.

Wir erleben diese Krise in einem der reichsten Länder der Welt. Wir sind auch jetzt privilegiert und sollten uns das alle klar machen. So mies alles im Moment ist, ich möchte diese Krise in keiner anderen Zeit und in keinem anderen Land erleben. Das liegt auch an der Politik: Sicher, die Politiker machen Fehler und wie viele sie gemacht haben, werden wir erst erkennen, wenn alles vorbei ist. Aber unterm Strich machen sie bislang einen guten Job. Und sie geben sich wirklich Mühe. Die meisten Politiker schätzen es, wenn sie wie der Weihnachtsmann mit einem vollen Sack durch die Gegend gehen und Präsente verteilen können, denn Geschenke mögen wir alle. Und wer gemocht wird, hat gute Chancen, wiedergewählt zu werden. Alles was gerade beschlossen wird, Maskenpflicht, Sperrstunden und die Absage von Weihnachtsmärkten, ist nichts, was Politiker gerne machen, weil es sie Sympathien kostet. Sie machen es, weil sie ihr Verantwortungsbewusstsein dazu zwingt. Klar, man muss aufpassen, dass der eine oder andere durch die Krise nicht größenwahnsinnig wird und Gefallen am durchregieren findet. Aber die meisten Politiker übergeben lieber Schecks und eröffnen irgendwas, als etwas zu schließen und in der Not die Haushalte gegen die Wand zu fahren. Denn sie wissen, dass sie es sein werden, die später kürzen und sparen müssen – und zwar dann, wenn alles vorbei ist und sich niemand mehr an die heutigen Monate erinnern mag.

Wir stehen vor unserem ersten Coronawinter und wenn wir bald einen Impfstoff haben, wird es auch keinen zweiten Coronawinter geben. Die nächsten Monate werden dunkel, kalt und gefährlich. Viele Menschen werden erkranken und sterben. Die meisten von uns hatten bislang das Glück, eine solche Krise nicht erleben zu müssen und ja, es ist eine große Herausforderung. Für die Gesellschaft, aber auch für jeden von uns. Aber wir leben in einer Demokratie, in einem reichen Land, wir haben hervorragende Ärzte und können auf die avancierteste Technik zurückgreifen, die Menschen je zur Verfügung stand. In anderen Ländern geht es den Menschen deutlich schlechter, in allen anderen Zeiten wäre so eine Katastrophe noch verheerender gewesen. Wir können durchkommen, wenn wir die Nerven behalten, uns gegenseitig helfen und ein wenig zurückstecken. Wir haben Glück im Unglück. Das ist nicht unser Verdienst. Aber ab und an daran zu denken, ist sicher kein Fehler.

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Elarianne
Elarianne
3 Jahre zuvor

Nicht zum Beispiel besser in den 80ern? Als es noch genügend Anstand und Moral in Gesellschaft und Politik, um die Millionen nicht den Reichsten in den Rachen zu werfen, denen die Pandemie ohnehin Rekordgewinne beschwert, sondern Denen, die es wirklich brauchen?

Susanne Scheidle
Susanne Scheidle
3 Jahre zuvor

2@ Eliane #1

Liebe Eliane, ich kann mich noch gut an die 80er erinnern. Nein, das wir nicht nur das Jahrzehnt in dem ulkige Jacken mit Schulterpolstern und ganz viel aufgeplusterte Haare getragen wurde und die Neue Deutsche Welle durch Radio und TV tobte – es war auch das Jahrzehnt des Parteispendenskandals – man nannte das "Pflege der politischen Landschaft weil sich das hübscher anhört als Korruption, die es bekanntlich ja nur in Italien gibt – es war das Jahrzehnt, in dem die lange zähe Kanzlerschaft Kohls begann und in dem die Weichen für genau den Turbo-Kapitalismus gelegt wurden, den Sie anprangern.
Es war das Jahrzehnt in dem kaum ein Wagen einen Katalysator hatte und die meisten mit verbleitem Benzin durch die Gegend kurvten und der Wagen galt als sparsam, wenn er "nur" 10 l verbrauchte. Die 80er waren das Jahrzehnt, in dem es auf einmal wahnsinnig wichtig wurde, welche Klamotten man am Leib trug, möglichst mit fettem Logo drauf, damit auch jeder sieht, wieviel sie gekostet hatten.

Die 80er waren übrigens auch das Jahrzehnt, in dem sich AIDS ausbreitete. Es dauerte damals, wenn ich mich recht erinnere, lange 1 1/2 Jahre, bis überhaupt das HI-Virus identifiziert war und einigermaßen feststand wie es übertragen wird!

Früher war alles besser? Da sind aber ein paar Zweifel angebracht…

Dirk Fern
Dirk Fern
3 Jahre zuvor

Dass wir heute dank des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts dieser Pandemie nicht so hilflos gegenüberstehen, wie es noch zwanzig Jahren gewesen wäre, sehe ich genauso wie Herr Laurin.
Allein schon durch die Tatsache, dass ein Test zum Nachweis auf eine Coronainfektion zur Verfügung steht, konnte die Anzahl der Neuinfektionen durch rechtzeitige Quarantänemaßnahmen effektiv gesenkt werden.
Vor zwanzig Jahren hätte es einen solchen Test noch nicht gegeben, und die Infektionszahlen wären durch die Verbreitung durch Personen mit Verläufen ohne Symptome frühzeitig stark angestiegen.
Allerdings werden die Möglichkeiten, die uns die Bioinformatik bietet, nur sehr unzureichend genutzt.
Es gibt weltweit über 500 Supercomputer, mit deren Hilfe die molekulare Struktur und Struktur der Eiweiße des Sars Cov2 Virus entschlüsselt und dadurch wirksame Medikamente entwickelt werden können.
Dazu aber müssten diese Computer diese Aufgabe international koordiniert durchführen und die Ergebnisse Open Source sein.
Die Realität sieht anders aus:
Viele Nationen und Staatenverbünde lassen ihre Supercomputer nur für sich rechnen und halten die Ergebnisse geheim. Andererseits gibt es verschiedene Hackerangriffe, die vermuten lassen, dass diese Forschungsergebnisse ausspioniert werden sollen.

Wir haben einen enormen technischen und wissenschaftlichen Fortschritt.
Dieser muss aber auch durch einen gesellschaftlich politischen Fortschritt ergänzt werden: internationale Zusammenarbeit und Open Source aller Forschungsergebnisse und ein klares politisches Primat gegenüber den Profitinteressen der Pharmaindustrie.
In allen anderen Bereichen gibt es doch ein politisches Primat, dass sich über demokratische Freiheitsrechte stellt. Warum dann nicht auch bei der Pharmaindustrie?

Ich persönlich lasse auf meinem PC Folding@Home laufen, um die Entschlüsselung des Coronavirus mit der bescheidenen Rechenleistung meines PC zu unterstützen.

thomas weigle
thomas weigle
3 Jahre zuvor

@ Elarianne Anstand in den 80ern? Nun ja, Flickaffäire, Neue Heimat, Oktoberfestattentat, Barschelaffaire, Reps, usw. sprechen nicht dafür. Es gab halt nur kein Internet.

Walter Stach
Walter Stach
3 Jahre zuvor

Stefan Laurin,
danke für Deinen Kommentar, der zeigt, daß auch heutzutage noch ein Journalist fähig und willens sein kann, nicht nur realistisch und pragmatisch, sondern zugleich auch zuversichtlich und auf das Beste hoffend seine Meinung zum Geschehen zu sagen.

Wenn ich das so empfinde, dann hat das -selbstverständlch- mit meiner persönlichen Situation und mit der meiner Familie -auch der in GB- zu tun; wir sind alles in allem mit dem was ist und wie es zufrieden, allerdings durchaus angstvoll mit Blick auf die schulische Situation, die "unseren" Enkel -8.Klasse Gymnsasium- betrifft oder noch betreffen kann.

Diese insgesamt auch in Corona-Zeiten meinerseits zu registrierende persönliche Zufriedenheit , resultierend aus alldem was im o.a. Kommentar angesprochen wurde, geht allerdings einher mit größter Besorgnis gegenüber all den Menschen, deren wirtschaftliche , deren finanzielle, deren wohnliche Situation, deren Ängste um den Arbeitsplatz u.ä. mehr keinen Raum lassen für relative Zufriedenheit und für Hoffnung und Zuversicht mit Blick auf das was kommen wird.
(Partei)Politisch formuliert:
Die Pandemie hat in Deutschland, in Europa, ja weltweit, radikal und brutal und für jedermann erkennbar deutlich gemacht, wie groß und wie tief die Kluft ist zwischen den relativ wenigen, denen es auch in Krisenzeiten noch "wohlergeht" und der großen Mehrheit der Menschen in Deutschland, in Europa, weltweit, die alltäglich um ihr Leben, um ihr Überleben zu kämpfen haben, oftmals aussichtslos/chancenlos -nicht nur, aber jetzt ganz besonders.

Björn Wilmsmann
Björn Wilmsmann
3 Jahre zuvor

Ich stimme voll und ganz zu. Noch vor 20 Jahren hätte es praktisch keine Optionen gegeben, proaktiv mit der Situation umzugehen.

Der enorme – und im letzten halben Jahr schon spektakuläre (sollte sich die Hoffnung auf einen schnell verfügbaren Impfstoff bewahrheiten, wonach es aktuell aussieht) – Fortschritt in der Biotechnologie, sowie nicht zuletzt die breite Nutzung digitaler Kommunikation haben uns überhaupt in die Lage versetzt, Entscheidungen treffen zu können und das Ganze nicht einfach auf natürlichem Wege durchlaufen lassen zu müssen.

Die wirtschaftlichen Folgen in der aktuellen Situation sind erheblich. Vor 20 Jahren, ohne weitverbreitete Internetnutzung und sich daraus ergebenden Möglichkeiten (Home Office, eCommerce), wären sie schlicht nicht tragbar gewesen. Und ein "Lockdown" wie Anfang des Jahres wäre keine durchführbare Alternative gewesen.

Dennoch muss man leider auch sagen, dass wir bei allem Fortschritt im Großen, im Alltäglichen doch noch weit hinter den Möglichkeiten zurück bleiben:

Deutsche Gesundheitsämter arbeiten immer noch im Wesentlichen mit Papier, Fax und Excel statt dem in Deutschland entwickelten und u.a. in mehreren afrikanischen Ländern bereits im Einsatz befindlichen digitalen Erfassungssystem SORMAS.

Das, was man in Deutschland für Datenschutz hält, ist oft ein Hindernis ohne Mehrwert und wird gerne als universelle Entschuldigung genutzt, einfach gar nichts zu tun.

Möglichkeiten, Bildung und Unterricht flexibler zu gestalten, wurden und werden ebenfalls völlig verpasst.

Auch die Option "Work From Home" / "Home Office" wird noch bei weitem nicht in dem Maße genutzt, wie es möglich und sinnvoll wäre.

Schließlich bleibt man auch, was weitere technische Optionen angeht, hinter den Möglichkeiten zurück. Fiebermessung durch Wärmebildkameras oder eine verbreitete Nutzung von Luftfiltern wären solche im Vergleich fast schon bodenständige Optionen, die aber immer noch kaum diskutiert werden (also jetzt in Deutschland, woanders natürlich schon).

Helmut Junge
Helmut Junge
3 Jahre zuvor

Gut an den Achtzigern war, daß ich die meisten Filme, die mir das staatliche Fernsehen heute immer noch und immer wieder vorsetzt, noch nicht kannte.

ccarlton
ccarlton
3 Jahre zuvor

Wäre Corona in den 1980 er Jahren ausgebrochen, wäre der Virus möglicherweise nicht aus China herausgekommen, da das Land damals kaum in die internationale Wirtschaft eingebunden war. Und wenn doch, hätte kaum jemand etwas mitbekommen. Die erhöhte Sterblichkeit wäre wahrscheinlich einer schweren Grippewelle zugeschrieben worden.

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[…] gemeldet. Die zweite Welle war da, trotzdem schrieb ich hier auf dem Blog an diesem Tag einen eher optimistischen Text. Ich lobte das Vorgehen der Politik, das Engagement von Wissenschaftlern, Ärzten und Pflegern und […]

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