Staatsanwaltschaft prüft neue Ermittlungen gegen Essens OB Reiniger

OB Reiniger (CDU und 2. vr) läßt sich bei Rot-Weiß Essen feiern. Jetzt neue Finanzlöcher im "Volkseigenen Kickerclub" Foto: Stadt Essen

Es sah so aus, als komme der noch amtierende Oberbürgermeister von Essen, Wolfgang Reiniger von der CDU mit einem blauen Auge aus der Rot-Weiß-Essen Affäre davon.

Die Staatsanwaltschaft Essen hatte Ermittlungen gegen den Politiker in der heißen Phase des Wahlkampfes eingestellt. Nun allerdings die überraschende Kehrtwende. Gegen Reiniger werden neue Ermittlungen geprüft, wie die Ruhrbarone erfahren haben. Und zwar in Sachen Untreue zu Lasten der Gemeinde.

Die Staatsanwaltschaft schaut sich den Sachverhalt erneut an, weil es zu einer Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens kam. In diesem Zusammenhang hat die Staatsanwaltschaft die Verträge zwischen Strunz.  dem Viertligisten RWE und der Stadt-Tochter EVE angefordert.

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Eine versteckte Intrige gegen SPD-Ypsilanti bleibt versteckt

Nun lege ich meine Lesebrille ab, stelle die Kaffeetasse an die Seite und berichte hier über ein Buch, ein politisches Buch, das Buch „Die Vier“ von Volker Zastrow, Politikchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ich habe das Buch gekauft, gelesen und weggelegt. Es geht um die vier abtrünnigen SPD-Abgeordneten, die sich im November 2008 weigerten, Andrea Ypsilanti mit den Linken zur hessischen Ministerpräsidentin zu wählen. Eine der großen politischen Affären der letzten zwanzig Jahre. Jetzt sind ein paar Tage vergangen, das Erfahrene ist verdaut. Und ich rate den Leuten ab, das Buch zu erwerben. Warum? Weil es in meinen Augen zu wenig taugt.

Das Buch „Die Vier“ ist schön geschrieben. Mit einem geübten, lakonischen Augenzwinkern. Wissend, nah dran, belesen und kenntnisreich.

Aber auf den ersten knapp 200 Seiten liest man vor allem Hass auf die Linkspartei. Und zwar allein aus der Perspektive der rechten SPD in Hessen. Das ermüdet auf Dauer. Auch wenn es mal interessant ist, zu erfahren, wie die SPD in Hessen so aufgebaut ist. Zastrow schreibt im Nachwort, er habe zunächst ein Heldenepos auf die vier Abtrünnigen schreiben wollen. Nun, das hat er gemacht. 200 EWIG QUÄLEND LAHME SEITEN LANG. Da wird beschrieben, wie die drei Frauen rauchen, wie sie einkaufen gehen, wie sie in die Sauna gehen und wie ihnen aber und aber und abermals Leute gratulieren, dass sie nicht die Linken wählen.

Gut, irgendwann hab auch ich das begriffen. Und nicht mehr lesen wollen. Ich wette, es gab auch etliche, die das doof fanden. Wahrscheinlich werden viele das Buch einfach weglegen.

Doch dann, irgendwann, so gefühlt auf Seite 250, merkt Zastrow, dass da eigentlich eine andere Geschichte zu entdecken ist. Die Geschichte einer Intrige. Wie nämlich der rechte SPD-Vordenker Walter seine Kontrahentin Ypsilanti eventuell mit Hilfe von Hessens Ministerpräsidenten Roland Koch ausschaltet. Und genau hier, wo es spannend wird, geht Zastrow nicht richtig in die Tiefe. Er kommt weit, keine Frage. Vielleicht weiter, als er jemals dachte oder irgendwer anders jemals gekommen wäre. Zum Beispiel beschreibt er sehr gut, wie Silke Tesch und Dagmar Metzger missbraucht werden, in ihrem naiven Glauben gegen Links. Und genau das ist das spannende. Hier wäre es wichtig, mehr zur Rolle von Koch zu erfahren, mehr zur Rolle von Walter zu erfahren. Mehr aus den staubigen Kulissen zu hören. Weiter zu gehen. Weiter, tiefer. Doch da kommt wenig.

Man merkt, dass die Ypsilanti-SPD nicht mit Zastrow geredet hat. Man merkt, dass ihm wesentliche Quellen fehlen – aus dem Umfeld von Koch etwa. Oder aus dem Kreis von Walter.

Zastrow hätte sein Buch umschreiben müssen. Er hätte die Heldengeschichte weglassen oder zumindest stark kürzen können. Aber er tat es nicht.

Vielleicht hat ihm die Zeit gefehlt, vielleicht die Lust. Vielleicht mochte er seine eigenen Worte so stark, dass er sie nicht löschen konnte.

Er tat es einfach nicht. Er hat den spannenden Teil hinter einer Wand Langeweile versteckt. Schade.

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Dortmund: Langemeyer will im RWE-Aufsauchtsrat bleiben…Der Westen

Bundestagswahl: Merkel mag nicht sparen…FR-Online

Opel: Briten gegen Magna-Verkauf…Welt

Bundestagswahl: Verwirrte Piraten…Weissgarnix

Essen: Abschied von Schwarz-Grüne…Der Westen

Bundestagswahl III: SPD kann kein Internet…Freitag

Bundestagswahl IV: Verschwörungsrapper will in den Bundestag…Der Westen

Opel II: Solidarität in Antwerpen…FR Online

Datenschutz-Demo: Opfer geht gegen Polizeichef vor…taz

Lünen: Neuer Filmpreis…Ruhr Nachrichten

Google: Ein trojanisches Pferd…2.0

Flasmobs: Im Arbeitskampf legal…Kueperpunk

 

Update: Meinungsmache der Energiekonzerne – Blogs im Visier

+++ Update: Energieversorger nehmen Blogs ins Visier +++

Die Nummer ist ein wenig undurchsichtig. Auf der einen Seite heißt es, die Firma PRGS habe keine Strategie im Auftrag der Energiekonzerne ausgearbeitet, wie man eine verdammt erfolgreiche PR-Kampagne pro Atom macht. Schon gar nicht E.on Energie habe das bezahlt. Auf der anderen Seite gibt es ein verdammt umfangreiches Strategiepapier der Firma, das nie im Leben irgendeiner für taube Nüsse aufgesetzt hat. 

In dem Papier vom 15. November 2008 wird dargelegt, wie man die öffentliche Meinung so geschickt beeinflusst, dass am Ende alle Pro-Atom sind, wenn man nur lange genug Windräder zeigt. Interessantes Stück Arbeit das Ding. Wird später bestimmt in Seminaren zum Kampaigning eingesetzt.

Update:

Auf Seite 92 geht es dann um Blogs. Da steht, dass zunächst die relevanten Blogs herausgefiltert werden sollen und dann sollen über diese "Argumente pro Kernenergie in den Webdiskurs eingespeist" werden. Für die Bestandsaufnahme sollen die sechs Argumentationslinien "Angst, Hoffnung, Unabhängigkeit, Innovation, Kosten, Risiko"  herhalten. "Entsprechend der Ausrichtung identifizierter Blogs werden die entwickelen Argumente zielgruppenadäquat formuliert und eingespeist." So könne der zu überzeugende Depp "von eher geopolitisch interessierten Zielgruppen bis zu einzig energiepreisfokussierten Bürgern" am besten gefunden werden.

Neben den Blogs setzt der PR-Laden PRGS darauf, "Callcenter" einzusetzen, "die Verbraucher und Wähler auffordern, sich nicht nur zur Kernkraft zu bekennen, sondern dieses Bekentnis auch ihren Wahlkreis-Abgeordneten schriftlich mitzuteilen." Zitat:

An die Kernenergiebefürworter gehen variierte vorformulierte Schreiben inklusive frankiertem Umschlag.

Update Ende:

Mir hat noch gefallen wie Hessen als Testlaufgebiet definiert wird für eine Pro-Atom-Kampagne. Zitat: "Hessen bietet eine Testlaufstrecke für die klima- und energiepolitischen Argumentationslinien, Aktionsformen und Mobilîslerungspraktiken"

Spannend deswegen, weil RWE vor ein paar Wochen die Demo zusammen mit dem hessischen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch am AKW Biblis gemacht hat. Dabei war der Protest ja angeblich allein von den Auszubildenden organisiert. Komisch, weil irgendwie scheint das in das PRGS-Konzept zu passen.

Weniger interessant finde ich die Nummer, dass und wie da Journalisten bewertet wurden. Mein Gott, dass der eine rot-grün und der ander eher schwarz-gelb denkt – das kann man auch an den jeweiligen Kommentaren ablesen. Dazu brauche ich keine PR-Strategen.

Lustig ist es hingegen, dass die PR-Fuzzis befürchten, die Versorger würden einen herben Imageverlust hinnehmen, wenn eine neue schwarz-gelbe Regierung den Ausstieg aus dem Atomausstieg einfach durchknüppelt. Deswegen soll immer mit der Versorgungssicherheit, mit Ängsten vor Russland und mit dem Klimaschutz argumentiert werden. Schleichend die Bevölkerung überzeugen.

Toll. Ich glaub, das war ein Schuss in den Ofen.

Ach was soll es, hier die PR-Studie in ganzer Pracht zum runterladen: klick (erster Teil) und klack (zweiter Teil)

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Als ob die Justiz alles klärt – Spitzelskandal in NRW

Der Focus hat aufgedeckt, dass die CDU in Nordrhein-Westfalen Parteiarbeit nicht von Regierungshandeln trennen kann. Laut Focus hat der engste Mitarbeiter von Jürgen Rüttgers, Boris Berger, für die Partei Wahlkampf gemacht, beziehungsweise er hat in den Wahlkampf eingegriffen. Mir persönlich sind ebenfalls direkte Eingriffe von Berger im vergangenen Kommunalwahlkampf bekannt. In mindestens einem Fall hat er sogar einen CDU-OB-Kandidaten zu sich in die Staatskanzlei eingeladen hat, um sich mit ihm über die Kommunalwahl zu beraten. Der Focus hat in der Causa aus Emails zitiert, die Berger und der Generalsekretär der CDU, Hendrik Wüst, ausgetauscht haben. Zitat:

Der Chefplaner und engste Vertraute von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU), Abteilungsleiter Boris Berger, hat nach einem FOCUS Online vorliegenden E-Mail-Verkehr seit Anfang September die CDU-Parteizentrale, Generalsekretär Hendrik Wüst und CDU-Pressesprecher Matthias Heidmeier beraten. Danach wurde Berger über die Schritte der CDU-Beobachtung von Krafts Wahlkampfauftritten durch professionelle Video-Teams informiert; er gab sogar Anregungen zur Perfektionierung der Maßnahmen.

Ein Skandal, sollte man meinen. Der Staatsbedienstete Berger mißbraucht im Namen seines Herrn Rüttgers seine Macht – und das Geld der Steuerzahler, um die SPD zu bespitzeln. Das geht nicht. Berger müsste eigentlich zurücktreten.

Doch genau das tut er nicht. Schlimmer noch. Die Reaktion der CDU auf die Enthüllung ist ein erneuter Skandal. Sowohl die Staatskanzlei als auch CDU-Mann Wüst setzen nicht auf Aufklärung des eigentlichen Fehlverhaltens, sondern sie schalten die Ermittlungsbehörden ein, um das Leck in den eigenen Reihen zu suchen. Sie mißbrauchen also nun auch noch die Staatsgewalt, um von ihrem Fehltaten abzulenken. Mehr noch: Die Staatskanzlei und die CDU mißdeuten die weitergeleiteten Emails als Bespitzelung der eigenen Untaten. Das Gegenteil ist richtig. Hier hat irgendwer Mut bewiesen und dabei geholfen Unrecht durch Rüttgers, Berger und Wüst aufzuklären.  Dafür sollte er gelobt und nicht verfolgt werden. Die Mächtigen in unserem Land NRW schießen aus dicken Rohren:

Zitat Staatskanzlei:

Die Bespitzelung der Regierungszentrale ist ein ungeheuerlicher Vor­gang. Offenbar wird die Staatskanzlei systematisch bespitzelt. Vor allem wird offenkundig ein bestimmter Mitarbeiter seit Jahren ausgespäht und auch in seine Privatsphäre eingegriffen. Es ist nicht auszuschließen, dass auch der Ministerpräsident Opfer der Bespitzelungsattacken ist. Die Staatskanzlei hat heute unmittelbar juristische Schritte eingeleitet. Zusätzlich hat das Landeskriminalamt Untersuchungen aufgenommen.

Zitat Wüst:

Das Ausspähen von E-Mails in der Staatskanzlei betrifft offensichtlich auch E-Mails der Landesgeschäftsstelle der CDU Nordrhein-Westfalen, von Mitarbeitern und auch meinen persönlichen Mailverkehr. Das ist eine schwerwiegende Straftat. Wir bestehen auf eine strafrechtliche Klärung. Die Täter müssen ermittelt werden.

Besonders schlimm finde ich, dass sogar das Landeskriminalamt hier erneut für politische Zwecke mißbraucht wird. Die LKA-Beamten sollen helfen vom eigentlichen Skandal abzulenken. Es wäre gut, Berger, Rüttgers und Wüst hätten ihre eigenen Fehler aufgeklärt oder besser noch, sauber zwischen ihren Aufgaben getrennt. Dann wäre der Skandalicht möglich gewesen.

Dieses Land gehört nicht der CDU. Das müssen Berger, Rüttgers und Wüst einsehen – oder sie müssen gehen.

Next Exit Kundus – Über den Ausstieg aus Afghanistan

Foto. flickr.com / army.mil

Gibt es einen Weg raus aus dem afghanischen Schlamassel oder nicht? Joscha Schmierer hat dazu ein Essay geschrieben, das wir hier veröffentlichen. Schmierer war von 1999 bis 2007 strategischer Berater im Aussenministerium – zunächst von Joschka Fischer (Grüne) und dann von Frank-Walter Steinmeier (SPD). Lange davor war der spätere Realo-Vordenker der Grünen auf einem leitenden Posten im Zentralkomitee des maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW). Sein Beitrag ist auf jeden Fall interessant. Und da wir hier auf den Ruhrbaronen schon über die Frage des Abzugs aus Afghanistan geredet haben, dachte ich, wäre es interessant auch mal jemanden zu hören, der gegen den Sofortabzug stimmt. Der Schmierer-Essay erschien zunächst bei der Böll-Stiftung. Wir sind via Soldatenglück auf den Text aufmerksam geworden. Genug der Vorrede: Es spricht zu Ihnen Joscha Schmierer….

Über Exitstrategien wird im Allgemeinen dann zu diskutieren begonnen, wenn sich zeigt, dass man es versäumt hat, die strategischen Ziele einer Intervention rechtzeitig und sorgfältig zu definieren sowie sich der Mittel zu vergewissern, wie die Ziele bei ausreichender Geduld und Beharrlichkeit aller Wahrscheinlichkeit nach erreicht werden können.

Was zum Beispiel jetzt als Exitstrategie für Afghanistan vorgeschlagen wird, ist der bessere und zielstrebigere Einsatz von Mitteln für Ziele, die immer schon bekannt waren, aber über nun acht Jahre lang nie mit der notwendigen Konsequenz verfolgt wurden: Der afghanische Staat sollte so geordnet und gestärkt werden, dass von seinem Territorium ausgehend nicht erneut ungestört terroristische Aktionen vorbereitet und angeleitet werden konnten, wie sie Al Qaida am 11.9.2001 in New York und Washington durchgeführt hatte.

Eine Restauration des Talibanregimes musste also dauerhaft ausgeschlossen werden, was eine Staatsverfassung und Regierung voraussetzt, ausreichende Sicherheitskräfte und eine Justiz, die den Anforderungen und Verpflichtungen einer UN-Mitgliedschaft gerecht werden. Und UN-Mitglied ist Afghanistan schon lange. Diese Ziele waren und sind hochgesteckt. Die Mittel, die für sie eingesetzt wurden, waren von Anfang an zu gering und schlecht koordiniert. Das rächte sich mit einem Neuerstarken der Taliban und eines vor allem paschtunischen Widerstands.

Es sind nicht nur die Taliban, die an einem funktionierenden staatlichen Gewaltmonopol und rechtstaatlichen Strukturen kein Interesse haben. Auf beidem musste der Schwerpunkt der Anstrengungen liegen, um die Voraussetzungen einer wirtschaftlichen Entwicklung zu schaffen. Letztere ist, worauf Paul Collier, Ökonom und Afrikaexperte, jüngst nachgewiesen hat, immer die eigentliche „Exitstrategie“(1). Stattdessen wurde Trost im Aufbau einer demokratischen Fassade gesucht. Wahlen, ohne hinreichende institutionelle Voraussetzungen, können Betrug und Korruption fördern und die Spannungen im Land erhöhen.

Erfolglose Jagd auf die Al Qaida-Führung

Das Ausgangsproblem in Afghanistan war: Eine entsprechende internationale Politik hätte die Führung durch die USA gebraucht. Die aber gaben sich in Afghanistan mit einer ineffektiven und bisher erfolglosen Jagd auf die Al Qaida-Führung zufrieden und bereiteten den nächsten Krieg im Irak vor. Insofern sind erst mit der jetzigen US-Regierung die Voraussetzungen gegeben, um die strategischen Ziele des internationalen Einsatzes mit angemessenen Mitteln zu verfolgen. Das kann man Exitstrategie nennen. Es geht darum, die strategischen Ziele zu erreichen, bevor man den Einsatz beendet.

Die Diskrepanz zwischen diesen Zielen und den Mitteln, mit denen sie verfolgt wurden, ist die Ursache für das drohende Desaster. Man kann versuchen, es abzuwenden, ihm aber nicht entgehen, indem man sich absetzt. Im Vortext zu einem Kommentar Peter Blechschmids in der Süddeutschen Zeitung heißt es: „In Afghanistan gibt es für die Bundeswehr nur zwei Möglichkeiten: Mehr Soldaten oder Abzug.“ Freilich geht es hier nicht um die Entscheidung der Bundeswehr, sondern um die des Parlaments. Es steht auch nicht einfach das Scheitern der Bundeswehr auf dem Spiel, sondern das der Vereinten Nationen und der internationalen Bemühungen, durch Staatsbildung die Freiräume des terroristischen Islamismus einzuengen.

Aber solange es bei der deutschen Verantwortung für den Norden Afghanistans bleibt, kann die Folgerung aus den jüngsten Entwicklungen nur lauten, „dass man die Bedingungen für den Einsatz grundlegend verändert. Die jetzt erlaubten 4500 Soldaten reichen nicht aus, die erstarkten Taliban erfolgreich zu bekämpfen. Vor allem reichen sie nicht aus, um befriedete Regionen dauerhaft zu sichern.“ Die militärische Schwäche ist ein Manko für die zivile Entwicklung: „Wenn Dorfälteste befürchten müssen, von nur zeitweilig vertriebenen Taliban wegen der Zusammenarbeit mit den Ausländern ermordet zu werden, dann werden sie zur Kooperation nicht bereit sein.(2)“

Lehrstück Bosnien-Herzegowina

Richard Holbrooke ist heute der US-Sonderbeauftragte für Afghanistan. Im Buch über seine Balkanmission erinnerte er 1998 an das anfängliche Versagen der IFOR bei der Implementierung des Dayton-Abkommens von 1995. Das Dayton-Abkommen sanktionierte einerseits die durch den Krieg erzwungene ethnische Territorialisierung, indem es sie institutionalisierte. Andererseits beharrte es auf einem gemeinsamen Staat der neu geschaffenen „Entitäten“, der Republica Srpska und der bosnisch-kroatischen Föderation. Im Rahmen dieses gemeinsamen Staates sollte auch die Rückkehr der Vertriebenen ermöglicht werden.

Beides, ethnische Territorialisierung und Rückkehr der Vertriebenen im Rahmen des gemeinsamen Staates, stand in Widerspruch. So musste die weitere Entwicklung zeigen, welche Seite den Vorrang einnahm. Das hing weitgehend vom Einsatz der IFOR ab. „Eingeschüchtert von dem Anblick der 60.000 IFOR-Soldaten taten die drei Volksgruppen in Bosnien bis zur Katastrophe im März (1996) fast alles, was die IFOR anordnete.“ Die Katastrophe bestand in der ethnischen Säuberung der serbischen Viertel Sarajewos durch serbische Banden, die eindeutig von Karadzic und seinen Leuten gelenkt wurden. Wohnungen und Häuser wurden angezündet, serbische Familien, die bleiben wollten, wurden bedroht.

„Wir dürfen nicht zulassen, dass auch nur ein einziger Serbe in den Gebieten bleibt, die unter muslimisch-kroatische Kontrolle fallen“, zitiert Holbrooke Gojko Klickvic, den Leiter des Umsiedlungsbüros der bosnischen Serben. Unter ihrem Kommandeur US-Admiral Smith sah IFOR diesem Wüten tatenlos zu. Polizeiaufgaben seien ihre Sache nicht, meinte Smith. So unternahm er auch nichts gegen Karadzic, der sich zu dieser Zeit noch frei durch Kontrollpunkte der IFOR bewegen konnte. „Wenn (die NATO) härter vorgegangen wäre, sähe die Lage jetzt anders aus“, sagte UN-Sprecher Janowski. „Wir erleben zur Zeit mit, wie das multiethnische Bosnien das Klo hinuntergespült wird.“

Gute Politik braucht eine gute Umsetzung

Holbrooke fasst zusammen: „Die Ereignisse von Mitte März (1996) boten ein Schulbeispiel für die Hartnäckigkeit und Rechtlosigkeit der Serben und für das Durcheinander unter den mit der Implementierung beauftragten Organisationen. Die Ereignisse veranschaulichen auch eine von Washingtons wichtigsten und zugleich am meisten missverstandenen Maximen: Wird eine gute Politik schlecht ausgeführt, so wird sie zu einer schlechten Politik.(3)“ Als es später die Rückkehr der Muslime in den serbischen Teil Bosniens zu ermöglichen galt, wurde sie von serbischer Seite mit dem Hinweis auf die Ereignisse in Sarajewo, die sie selbst in Szene gesetzt hatte, sabotiert.

Dass bei entschlossenem Vorgehen von der Internationalen Gemeinschaft ein politisches Umfeld geschaffen werden konnte, in dem ein friedliches Zusammenleben von Bosniaken und Serben praktiziert werden konnte, zeigt ein Bericht der European Stability Initiative (ESI) über die Entwicklung im Kreis Doboj nahe der Grenze zwischen Föderation und Republica Srpska. Im August 1997 hatte SFOR dort die Kontrolle übernommen und die Einheiten der Spezialpolizei entwaffnet und aufgelöst, die bis dahin die Rückkehr der Flüchtlinge verhindert hatten. Eine Abteilung hatte sich der Neuorganisation verweigert. SFOR stürmte im November schließlich ihr Hauptquartier, beschlagnahmte alles, was sie fand, entwaffnete die Offiziere und entzog ihnen die Amtsbefugnis.

In den folgenden Jahren wurde die lokale Polizei mit Hilfe der von den UN gebildeten International Police Task Force (IPTF) umgeformt. Eine Priorität war es, alle Offiziere auszugliedern, die an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen waren. Die Auflösung der Strukturen der städtischen Polizei aus den Kriegsjahren machte die Rückkehr der Bosniaken möglich. Zum Zeitpunkt des Berichts waren mehr als die Hälfte der Bosniaken zurückgekehrt, die vor dem Krieg hier gewohnt hatten. Der Bericht nennt dies die unerzählte Geschichte Bosniens (4).

Das Beispiel mag nicht typisch sein. Es zeigt jedoch, dass, wenn die internationalen Kräfte energisch auftreten und die kriminellen Strukturen aufbrechen, Wege der Verständigung eröffnet werden. Die ethnopolitische Repression scheint eher von oben institutionell gefördert als individuell verankert zu sein. In einer im Allgemeinen düsteren Lagebeschreibung nennen Patrice C. McMahon und John Western den selbstverwalteten Brcko District als eine weitere Erfolgsgeschichte. In Brcko hatten während des Krieges einige der schlimmsten Grausamkeiten stattgefunden, „aber heute leben dort die muslimischen, kroatischen und serbischen Communities in relativer Harmonie.“ Auch hier war das entschlossene und beharrliche Eingreifen der Internationalen Gemeinschaft entscheidend (5).

Und Afghanistan …

Meine Absicht hier ist nicht, die Situation in Bosnien-Herzegowina und in Afghanistan gleichzusetzen. Die Ausgangsbedingungen waren verschieden, die geopolitische Formation, in der sich diese Konflikte entwickelten, bleibt verschieden. Aber in beiden Ländern zeigt sich, dass die Probleme internationaler Interventionen weniger daraus entspringen, dass sie einen äußeren Eingriff darstellen als vielmehr aus dem spezifischen Charakter der Intervention. Halbherzigkeit, schlechte Vorbereitung und Ausrüstung, mangelhafte Koordination und ungenügende Kooperation zwischen den Kräften im Inneren, die an Stabilität, Gewaltverzicht und Friedensordnung interessiert sind, und den internationalen Interventionskräften, die Diskrepanz zwischen den hochgesteckten politischen Zielen und den geringen oder falsch und unkoordiniert eingesetzten Mitteln schaffen erst eine Lage, in der es nur noch um eine Exitstrategie zu gehen scheint. Und dies, weil der Intervention selbst keine Strategie zugrunde lag, die Ziele und Mittel in ein angemessenes Verhältnis gesetzt hatte.

Die gravierenden Anfangsfehler – und in dieser Hinsicht gibt es genug Parallelen zwischen Bosnien-Herzegowina und Afghanistan – können sich so auswirken, dass die Rettung der Mission nur noch im Verzicht auf die ursprünglichen Ziele gesehen wird. Es gibt genügend Beispiele für solches Rückgehen: Somalia etwa. Gegenüber Afghanistan fällt eine solche Haltung in der deutschen Politik umso leichter, als die Beteiligung an der internationalen Aktion immer in Begriffen des engen Selbstinteresses und der Verteidigung der deutschen Sicherheit unmittelbar am Hindukusch reflektiert und begründet wurde.

In dieser Unmittelbarkeit eines engen deutschen Interesses ist die Beteiligung nicht plausibel, als Aktion zur Sicherung des Weltfriedens hingegen, wie sie durch die UN-Sicherheitsratsbeschlüsse legitimiert ist, hat sie die Vernunft, das allgemeine Interesse und das Interesse der meisten Afghanen auf ihrer Seite. Sie muss dem allerdings gerecht werden. Vor allem muss sie Entwicklung und Verbesserung der Lage der Afghanen ermöglichen. Eine Bedrohung des Weltfriedens im Sinne der UN-Sicherheitsratsresolution gefährdet nicht unmittelbar unser Leben, wohl aber unsere postheroische Lebens- und Denkweise. Für den Einsatz der Bundeswehr heißt das, dass mangelnde Ausrüstung und fehlende politische Unterstützung durch individuelles Heldentum der Soldaten weder ausgeglichen werden kann noch ausgeglichen werden soll.

In Afghanistan wäre ein Abzug der Bundeswehr, wie ihn etwa die Partei Die Linke fordert, ein internationaler Skandal. Lafontaine kann lange Willy Brandt zitieren, dass von deutschem Boden nie mehr ein Krieg ausgehen dürfe. Der Krieg in Afghanistan geht nun wirklich nicht von deutschem Boden aus und der UN-mandatierte Einsatz, um die Bedrohung zu beenden, die von der Lage dort ausgeht, ist keine deutsche Entscheidung. Für die Stellung der Bundesrepublik in den UN wäre es eine politische Katastrophe, wenn die Entscheidung des Deutschen Bundestages, sich an dem Einsatz zu beteiligen, aus innenpolitischen Gründen einseitig rückgängig gemacht würde. In Bosnien-Herzegowina dagegen lässt sich ein deutsches und europäisches Wegschleichen denken, das erst auffallen wird, wenn erneut offene Gewalt ausbricht.

Bemerkungen:

1. Gefährliche Wahl. Wie Demokratisierung in den ärmsten Ländern der Erde gelingen kann, München 2009

2. Das Ende der Illusionen, SZ vom 12.9.09

3. Meine Mission. Vom Krieg zum Frieden in Bosnien, München 1998, S. 513- 518

4. A Bosnian Fortress. Return, energy and the future of Bosnia, 19. Dezember 2007

5. The Death of Dayton. How to Stop Bosnia From Falling Apart, Foreign Affairs, Sept.-Oct. 2009, S. 69 – 83, hier S. 72

Ruhrpilot

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JUNKIES OF LOVE

Unser Leben wird dominiert von der Sucht. Abhängig, ausgeliefert – Menschen sind Junkies der Liebe. Liebe ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Liebe ist die perfekte Droge. Einmal angefixt können wir ohne sie nicht existieren. Wir müssen lieben. Jeder Erniedrigung, jeder Verletzung, jeder Narbe zum Trotz schenken wir uns einander immer wieder. Nackt und voller Hingabe in der Hoffnung, dass Seelen miteinander tanzen werden. Doch Liebe ist ein teures Gut. Sex dominiert die Gesellschaft. Sex ist das Methadon im Individualismus. Es geht um Youporn, Flatrate-Puffs und den schnellen Fick auf dem Kneipenklo. Im Jetzt herrscht die Egomanie, der Voyeurismus, die Selbstdarstellung beim Maskenball. Romantiker fallen durch dieses Raster aus Narzissmus und Ellenbogen. Sie werden auf ihrer Suche nach Liebe verzweifeln. Wir gehören dazu. Glauben Sie uns – wir waren bei einer Ehe- und Partnervermittlungsagentur. Ein Erlebnisbericht von Herrn Schlange und Herrn Joswig.

Schlange und Joswig haben in ihrem Leben schon viele Aschenbecher gesehen: die Klassiker, die Styler, die Improvisierten. Leere Bierflaschen randvoll mit Zigarettenstummeln, zugeaschte Blumentöpfe, Spülbecken und alte Pommesschalen, in deren zähem Sud Kippenreste aufquellen. Das Exemplar vor ihnen auf dem Tisch ist ein gläserner Familienbottich. Groß wie eine Toffifee-Packung, schlicht gehalten, Fassungsvermögen gut sieben Schachteln. Schlange und Joswig sitzen im Beratungszimmer einer Ehe- und Partnervermittlungsagentur und warten.

„Und vergiss nicht, du hast seit fünf Jahren keine Frau mehr gefickt.“

„Verdammt.“ Joswig schaut seinen Freund an. „Was für ne Kack-Rolle.“

Schlange nickt ihm zu und packt seine Kippen und Brillenetui auf den Tisch. „Das ist halt unsere bekackte Geschichte. Du bist der hoffnungslose Fall, ich bin dein Finanzier. Punkt.“

Liebe ist ein gefährliches Business. Als die zwei die kleine Backsteinvilla in dem abgelegenen Industriegebiet betraten, irritierte sie das massive Schloss an der Eingangstür. Dann die Treppe hoch, auf der Zwischenetage zum Liebesinstitut ein großer Konvexspiegel. So aufgehängt, dass man von der Wohnungstür aus den gesamten Flur im Blick hat. An der Wohnungstür wiederum drei Sicherheitsschlösser. In der Liebe darf es keine Überraschungen geben. Man weiß nie, wer zu Besuch kommen kann. Schlange hatte bei vier Partneragenturen angerufen, die er im Branchenverzeichnis gefunden hatte. Keine der Nummern war noch vergeben. Das Geschäft mit der Liebe ist schnelllebig und hart. Darum auch Sicherheitsvorkehrungen, die jede Dealer-Bude im Amsterdamer Rotlichtviertel zum Kinderzimmer degradieren.

Die beiden Undercover-Journalisten atmen durch und gehen in sich. Ihr Liebesdealer lässt auf sich warten. Sie fühlen sich allein, betrachten dreizehn leere Stühle, die den Tisch säumen. Der Tisch füllt fast den gesamten Raum. Groß, leer und kalt – ein Konferenztisch für einsame Herzen.

Junkie of Love: Auch Du kennst einen Liebesjunkie, glaub es mir. Du kannst ihm überall begegnen. Im Freundeskreis, im Café, auf der Arbeit oder in der U-Bahn. Manchmal ist er berauscht und vom Glück beseelt, manchmal antriebslos und verzweifelt. Manchmal sieht er aus wie jeder andere und manchmal siehst Du ihn über den Bildschirm flimmern. Betrachte Dein Spiegelbild und Du wirst ihn auch dort erkennen. Jeder Mensch, den einmal Amors Pfeil gestreift hat, bleibt ein Junkie der Liebe. Was sonst soll Deinem Leben Sinn geben? Liebe ist stärker als reines LSD. Und Seelenpartner gibt es. Garantiert. Höre nie auf zu suchen. Wenn du ihn hast, halte ihn fest. Erst in der Einsamkeit entdeckst Du, wie süchtig Du wirklich bist. Ohne die Droge Liebe wirst Du gequält und getrieben wieder und wieder nach neuem Stoff suchen.

In der Mitte des Tisches liegt neben dem Ikea-Katalog und mehreren Magazinen über das moderne Eigenheim und den gepflegten Garten ein laminierter Zeitungsartikel über das Liebesinstitut – „70 Prozent unserer Kunden sind bereits nach drei Monaten glücklich. Bei uns liegen Sie goldrichtig“. Neben dem gläsernen Familien-Ascher stehen ein Blumenarrangement und eine Schale mit 123 Zucker- und Milch-Päckchen. Die Belegschaft einer Notaufnahme könnte hier locker drei Nächte durchmachen. Im Ascher fängt sich das Sonnenlicht, das durch die großen Fenster in Schlanges und Joswigs Rücken scheint, und fällt durch sein blaues Glas auf die Tülldecke, die über der Tischplatte ausgebreitet liegt. Der Schatten des Aschers gibt dem apricotfarbenen Stoff eine Note Ultramarin. Fast alles in dem Raum ist angenehm mediterran – abgesehen von der deprimierenden Leere.

„Schwammtechnik ist echt fürn Arsch“, mault Joswig und betrachtet kritisch die gegenüberliegende Wand. An der ockerfarbenen Tapete hängt ein Kunstdruck von Picassos „Cover for Verve“.

„Auf jeden.“ Schlange zeigt auf die große Regalwand zur Rechten. „Hast du schon ma herzchenförmige Kakteen gesehen?“ Joswigs Blick wandert zu den drei Pflanzen, die in süßen roten Töpfchen auf dem mittleren Brett stehen. „Geil, und sonst kein einziges Buch.“

„Das ist trist.“ Joswig nickt.

Die beiden fühlen sich verloren. Dreizehn leere Stühle, Magazine über Dinge, die nur zu zweit Spaß machen, Milch und Zucker für eine lustige Runde mit Freunden und ein Aschenbecher, den ein Mann allein niemals füllen könnte. Die Einsamkeit ist erdrückend. Die zwei sind endlich bereit die Liebe zu kaufen.

„All you need is love“: Zivilisationskrankheit Einsamkeit – Leiche nach Jahren in Wohnung entdeckt. Verendet, verrottet und vergessen. Quält Dich die Angst allein zu verrecken? Anonym unter Millionen? Liebe hat tausend Gesichter: Sie kann Dich mit den Augen Deiner Mutter anschauen, sie kann in der Umarmung eines Freundes liegen, sie klingt im Lachen Deiner Kinder, oder stinkt nach der triefenden Schnauze Deines Yorkshire Terriers. Nur die Liebe gibt Dir Sicherheit, Liebe schenkt Dir Wärme und lässt Dich all die Scheiße ertragen. Du brauchst sie, Du kannst nicht anders. Alles wirst Du versuchen. Und mit jeder Verletzung und Zurückweisung wirst Du weiter verzweifeln. Die Wege der Liebe sind unergründlich. Irgendwann wirst Du Dich vielleicht bei einer Partneragentur wiederfinden – in der Hoffnung einen Weg aus der Einsamkeit zu finden. Liebe ist schließlich alles was Du brauchst, hab nur Vertrauen.

Im Vorzimmer schlagen spitz ein paar Absätze auf steinerne Fliesen – edle Stöckelschuhe, die Tür öffnet sich, Frau L tritt ein. Eine Erika Berger mit schwarzer Gucci-Brille, die Liebesgöttin aus dem Schnäppchenmarkt.

„So, um wen von Ihnen geht es denn heute?“, fragt Frau L routiniert, reicht den Herren zwei Gläser Mineralwasser, legt eine Mappe vor sich auf den Tisch und setzt sich. Zwei leere Stühle trennen sie und Joswig. Der räuspert sich.

„Ich bin der hoffnungslose Fall“, seufzt er und lässt die Schultern sinken.

„Verstehe.“ Ihr Blick schwenkt irritiert zu Schlange. Er lächelt sie an und nickt. „Ja, ja, das ist unser Sorgenkind. Deswegen hatte ich auch angerufen und mit Frau O gesprochen. Wir sind eine Clique aus sieben Mann, kennen uns schon seit knapp zehn Jahren. Mittlerweile ist jeder von uns unter der Haube – bis auf Herrn Joswig.“ Er klopft ihm väterlich auf die hängende Schulter. Joswig atmet tief durch. Frau L schaut verständnisvoll. „Naja, können Sie sich ja vorstellen, dass n gemeinsamer Grillnachmittag nur halb so lustig ist, wenn jeder seine Frau im Arm hat, und einer bedröppelt in der Ecke hockt.“

„Selbstverständlich“, haucht L mitfühlend.

„Wir haben alles mit ihm versucht. Singleparties, Speeddating, Internet und Kuppeleien im Freundeskreis. Alles erfolglos. Deswegen haben wir jetzt zusammengeschmissen, damit wir den Mann endlich an die Frau bringen. Sie sind quasi unsere letzte Hoffnung.“ Joswig schaut sie betreten an.

„Ungewöhnliche Geschichte. Aber ich finde es schön, dass Sie sich so um Ihren Freund kümmern.“ Frau L schenkt ihren Kunden ein Lächeln. „Gut, dann erst einmal zu uns. Wir sind seit fast dreißig Jahren eines der renommiertesten Partnerunternehmen in Deutschland. Unsere Kunden kommen aus dem gesamten Bundesgebiet. Ich hatte letztens erst einen Herrn aus München hier…“ Frau L kann jeden bedienen. In ihrer Kartei finden sich Menschen zwischen 18 und 88 Jahren. Durchschnittsalter sei 24, meint sie. Hauptsächlich Diplomingenieure, Maschinenbauer, Ärzte und Theologen. L erzählt Joswig und Schlange von Glücks- und Erfolgsgeschichten, von der tollen Berichterstattung in der Presse, von angeblich 12.000 Singles in ihrer Datenbank und von der wahren Liebe, die jeder Mensch braucht. Ihr Institut vermittelt nur dauerhafte Beziehungen, für den schnellen Sex sei man bei ihr falsch.

Sex als Surrogat – der Analogkäse der Liebe: Ein echter Liebesjunkie zieht sich selbst das billigste Zeug durch die Nase – nur um ein einziges Körnchen reiner Liebe zu erwischen. Egal wie sehr das Pulver brennt und das Hirn zerfrisst. Die gestreckte Line muss nur auf dem Tisch liegen. Der One-Night-Stand ist fades Gefühleschnüffeln, flüchtige Selbstbestätigung, ätherische Nähe und Sex auf der untersten Stufe. Hast Du schon mal einen PEP-Kater gehabt? Der schale Geschmack, die zerhackten Erinnerungen, die Leere, die über Dich hereinbricht? In Deinem Bett liegt ein Mensch, den Du nicht kennst. Machen wir uns nichts vor: In der Einsamkeit frisst der Mensch jeden Scheiß. Er fickt aus Verzweiflung – in der Hoffnung, dass ihn ein Hauch Liebe berührt.

L sieht Joswig tief in die Augen. „Wollen Sie wirklich, dass Ihr Freund hier bleibt? Einige Fragen werden sehr persönlich.“

Joswig hat sich in seiner Rolle gefunden. Traurig und lethargisch hockt er auf seinem Stuhl und knibbelt verlegen an seinen Fingernägeln. „Das ist für mich kein Problem, denke ich. Wir haben keine Geheimnisse. Willst du denn bleiben?“

Schlange zu Joswig: „Klar.“ Dann zu L: „Schließlich bin ich ja auch derjenige, der zahlt.“ L nickt. Mit ernstem Gesicht schlägt sie ihre Mappe auf und nimmt ein Formular zur Hand. Sie wendet sich an Joswig. „So, seit wann sind Sie denn schon Single.“

„Seit fünf Jahren.“

„Ooh, das ist aber extrem lang.“ Sie wirft ihre Stirn in Falten und rückt ihre Brille zurecht. „Wie alt sind Sie denn jetzt?“

„33.“

„Hmm.“ Sie hält kurz inne. „Aber Sie hatten schon mal eine Beziehung.“

„Ja, ja, langjährige Beziehungen.“

L lächelt erleichtert. „Das ist gut. Andernfalls stellen die Frauen Fragen, was mit dem Mann nicht stimmt.“

Liebe 2.0: Noch nie konnte der Mensch gleichzeitg an so vielen Orten, in so vielen Welten mit so vielen Namen, Gesichtern und Geschlechtern sein wie jetzt. Die Zerstreuung ist allgegenwärtig. Fernsehen, Handy, Internet – wir sind immer und überall. Myspace, Facebook, W-Lan und Iphone. Der Mensch präsentiert, er inszeniert, er prostituiert – sich und seine verdammte Seele. Wir tragen uns nach Außen. Twitter mir den Seelenstrip, Baby. Deine Freundesliste fasst tausend friends. Du bist einsam, aber nicht allein. Sag mir, weißt Du noch, wie ein Kuss schmeckt? Liebe geht nach Innen. Das ist ihr Wesen. Aus tausend virtuellen Berührungen wird keine Zärtlichkeit.

Joswig wird katalogisiert. Hobbies, Haustiere, eigene Wohnung, Kinder. Dann die Frage zum Beruf. Joswig lässt sich treiben, improvisiert: „Joah, ich bin Schauspieler …“ Schlange hustet. Joswig macht eine Pause und schwenkt um. „ … ab und zu … und äh Dekorateur…“ Pause. Joswig kratzt sich demonstrativ am Kinn. Frau L macht still Notizen. „… und Bildhauer.“

Schlange zuckt zusammen. Frau L schaut auf und sieht zufällig, wie ihm ein gequältes Lächeln über das Gesicht huscht. Ein Ausdruck, den Ehemänner aufsetzen, wenn sich ihre Grazien der katholischen Landfrauenbewegung anschließen und anfangen, ihre Holzskulpturen mit Blattgold zu überziehen. Ein wohlwollendes Lächeln für den Versuch seinem Leben mit lächerlichem Kunsthandwerk einen höheren Sinn zu geben. Schmuckdesign, Seidenmalerei und Serviettentechnik. Im Falle von Joswig ist es lediglich die Begabung, sich um Kopf und Kragen zu reden.

Frau L versteht Schlanges Mundwinkel falsch und hakt mit gespielter Neugierde nach. „Ach, was machen Sie denn für Skulpturen?“ Was für ein teuflisches Weib.

Joswig schubbert seinen Adamsapfel. „Joah, aus Ton…“ Pause. „… und aus Beton. Ich mach auch viele Skulpturen aus Beton.“ Schlange beobachtet amüsiert Joswigs Windungen und spielt mit seiner Zigarettenschachtel. Der Mann kann mit Beton soviel anfangen wie ein Straightedger mit einem Kasten Bier. Bildhauen mit Beton – was für ein Schwachsinn. 

L tut fasziniert. „Oh“, sagt sie. „Was kostet denn so eine Skulptur. Kann man die auch irgendwo sehen?“

„Selbstverständlich. Im Internet kann man die sehen und im Unperfekthaus in Essen werden die gerade ausgestellt. Kennen Sie das?“

L schüttelt den Kopf. Joswig weiter: „Zwischen ganz klein fürn Tisch und bis zu zwei Metern fürn Garten können die groß sein. Manchmal mehrere tausend Euro kosten die bei mir.“

Als sich Ls und Schlanges Blicke kurz treffen, nickt er ihr lächelnd zu. Sie hält Joswig für einen Idioten, das spürt er. Kein Wunder bei Joswigs Verkleidung, den ausgelatschten Lederstiefeln und dem verzogenem Vespa-Hemd. Frau L fragt den Hungerkünstler nach seinem Einkommen.

„…Puhhh, so tausend…“ Pause. Der joswigsche Kinnkratzer. Luft holen. „…zweihundert?“

L: „Aber netto?“

„Ja, ja, natürlich.“

„Das heißt, Sie sind Dekorateur und der Rest ist Hobby für Sie.“

Schlange hat das Gefühl eingreifen zu müssen: „Ja, der Mann ist unser Lebenskünstler, dekoriert Schaufenster, macht da seine Skulpturen, dort ma ein Theaterstück. Ist faszinierend. Aber auf sein Geld kommt er immer, ne?“

Joswig nickt brav.

Fragebogen zwei. Jetzt legt L Joswigs Such-Kriterien für die perfekte Frau fest. Ls Institut arbeitet nach dem Prinzip der Rasterfahndung: Verschiedene Kriterien werden in die Datenbank eingespeist. Mittels der Übereinstimmungsrate und der Wohnortnähe erstellt der Computer dann ein Ranking der Liebeskandidaten. Alter, Größe, Haarfarbe, Kinder, Kinderwunsch, besondere Ansprüche.

Joswig: „Besondere Ansprüche? Naja, ein Mindestmaß an Intelligenz sollte sie schon mitbringen.“ L entrüstet: „Selbstverständlich. Wir haben ausschließlich deutsche, intelligente Frauen. Keine – das soll jetzt nicht überheblich klingen – die nur „Ey, weißte“ sagen können.“

Schlange hakt sofort nach. „Nur deutsche Frauen?“

„Ja.“

Schweigen. Ein Auto verlässt den Hof der benachbarten Lagerhalle. Ein Vogel zwitschert. Frau L raschelt in ihren Unterlagen.

Einen Augenblick später wendet sie sich an Joswig. „Sie sind katholisch?“

Er nickt.

„Gut, dann wird es gar kein Problem sein, eine Frau für Sie zu finden. Wenn religiös, dann haben wir nur Katholiken und Evangelen bei uns in der Kartei. Keine Zeugen Jehovas und keine Muslime.“

Schlange zieht die Brauen zusammen. „Warum?“

„Ach, die Zeugen heiraten sowieso nur unter sich, und mit den Muslimen haben wir es am Anfang versucht, aber das hat nicht funktioniert.“

„Kulturelle Unterschiede?“

L nickt. „Kulturelle Unterschiede.“

Verständlich. Eheschließungen nach dem deutschen Reinheitsgebot.

Der Mensch braucht die Liebe, um Mensch sein zu können, meint L. Sie hat mal innerhalb eines Monats für eine 50-Jährige den Lebenspartner gefunden. Die Frau schickte daraufhin ihre beste Freundin ins Institut. Die Vermittlung erfolgte in vergleichbarer Rekordzeit. Frau für Frau tröpfelte nach und im Handumdrehen hatte L ein ganzes Kaffeekränzchen alter, verschrumpelter Herzen zu neuem Glück verholfen. Als Krönung des Ganzen kam sogar die Küsterin des Dorfes, die L verzweifelt um Hilfe ersuchte. Küster sind in bestimmten Gesellschaftskreisen angesehene Menschen. Wenn Joswig nun eine treue Kirchgängerin wäre, hätte L ihn mit dieser Geschichte an den Eiern gehabt. Wie könnte man besser die älteren Generationen betören als in einem Netz aus Gläubigkeit und verstaubten Wertvorstellungen, aus Hörigkeit und verzweifelter Romantik. L fand schließlich für jede Mutti das Richtige. „Die ganze Runde saß dann hier bei mir. Alle waren wie ausgewechselt, strahlten und hatten einen wundervollen Glanz in den Augen. Es ist unfassbar, was die Liebe aus den Mensch machen kann.“

Eine Droge namens Liebe: Sie raubt Deinen Verstand. Break on through to the other side. Kafka, Coitus, Crack-Wahn. Synapsen platzen, Dein Hirn wird geflutet. Hormone, Neurotransmitter, Electro-Party ohne Leinenzwang. Dein Dopamin verteilt die Glücks-Pillen, Adrenalin setzt die Teile-Fresser unter Strom – feuchte Hände, Herzrasen. Eskalation! Realität auf XTC! Kontrollverlust und Rauschgelage. Wahnsinn betritt den Dancefloor – eingeschleust von Endorphin und Cortisol. Dämme brechen, und Du ertrinkst in purem Glück. Das Opfer ist Dein Verstand. Dein Serotoninspiegel qualifiziert Dich für die Zwangsjacke. Manche Psychologen setzen den Zustand im Liebesrausch mit geistiger Unzurechnungsfähigkeit gleich. Dein Gehirn ist verliebt und feiert Party. Du bist bereit, eine lebenslange, monogame Sexualbeziehung einzugehen.

L kann nur Menschen helfen, die bereit sind, von ihren Vorstellungen los zu lassen. Starre Ideale würden den Weg zur Liebe verbauen. Die Frau ist seit Anfang der Achtziger im Geschäft, sie muss es wissen. Täglich betreut sie fünf bis sechs Kunden. „Ich hatte mal einen Mann hier, der partout keine Rothaarige wollte. Ich habe ihm eine vermittelt.“ Laut L verliebten sich die zwei noch bei ihrem ersten Date. „Und als sie sechs Wochen später bei mir saßen, schauten sie sich noch immer so zärtlich an wie am ersten Tag.“

Das Wesen der Romantik: Welche Sphären soll Deine Liebe betreten? Nicht jeder Stoff ist rein. Brauchst Du den Kick für eine Nacht? Suchst Du immer wieder neue Schmetterlinge in Deinem Bauch? Oder willst Du die Liebe, die Dich unzertrennlich bis in den Tod begleitet? Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält der hormonelle Extremzustand im Hirn 24 bis 36 Monate an – höchstens. Es kommt der Punkt, an dem musst Du entscheiden! Kannst Du entscheiden? Kurzer Kick für eine Nacht, frischer Rausch mit rosa Brille, oder der magische Trip Deines Lebens. Lässt Du Dir einen Zaubertrick erklären, ist die Magie zerstört. Wen hältst Du im Arm, wenn Du morgens aufwachst? Hast Du wirklich Deine wahre Liebe gefunden? Sid Vicious gab sich den goldenen Schuss im selben Zimmer des Chelsea Hotels, in dem Nancy starb. Cash verließ uns vier Monate nach dem Tod seiner June. Walk the line – die schönste aller Liebesgeschichten. Den ultimativen Trip gibt es. Sag mir, an was willst Du glauben? Romantik ist Utopie, der Glaube an die absolute Unwahrscheinlichkeit, unter 6,8 Milliarden Menschen die einzig wahre Liebe gefunden zu haben.

Für L ist Liebe zeitlos. Sie kann überall erblühen, wo sie etwas Licht und Zuwendung bekommt. Nur sollte Sie nicht zu lange vergessen werden. Sonst verdorrt die Saat und wird nie wieder aufkeimen, meint Frau L. Eine 58-Jährige wandte sich einmal an Ls Institut. Sorge verzerrte ihr Gesicht, als sie die Geschichte einer Bekannten erzählte. Seit zehn Jahren habe die Freundin um ihren verstorbenen Ehemann getrauert, ihm einen Altar errichtet und sei in der Liebe zu dem Toten immer mehr vereinsamt und verbittert. So wolle die 58-Jährige niemals enden, das habe sie sich geschworen. Das Leben müsse weitergehen. Also suchte sie Hilfe und fand mit L zur Liebe zurück. Lückenfüllen statt Trauerbewältigung. Für L ist es mit der innigen Liebe wie mit Haustieren: Stirbt das Schoßhündchen, sollte man sich schleunigst ein neues kaufen. Zu viel Trauer macht einsam. Zeit ist für L sowieso ein entscheidender Faktor. Sie nimmt ihre Gucci-Brille ab und schaut Joswig tief in die Augen.

„Es ist gut, dass Sie jetzt gekommen sind. Je älter die Menschen werden, desto schwieriger ist es, einen Partner zu finden. Wären Sie erst in zehn Jahren zu uns gekommen, hätten Sie noch mehr Mukken und Macken gehabt.“

Joswig schürzt beipflichtend die Lippen und nickt. „Das wird wahrscheinlich so sein.“

„Ja.“ L scheint bestärkt. „Ich will ja nicht überheblich klingen, aber ich habe hier zum Teil Kunden, die nicht einmal wissen, dass Mann und Frau unterschiedliche Geschlechtsteile haben.“

Schlange und Joswig ziehen ungläubig die Brauen hoch. L ist zufrieden.

„Ja, ja, Anfang des Jahres saß hier ein 40-Jähriger mit seiner Mutter, mit dem mussten wir erst einmal vier Wochen lang telefonieren üben.“ Sie zu Joswig gewandt: „Können Sie denn telefonieren?“

Er: „Joah.“

„Sehen Sie.“ L triumphiert.

Die erste Propagandaregel lautet: Abwertung der einen Gruppe führt zur Aufwertung der anderen und hat ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl sowie Verbrüderungseffekte innerhalb der sozialen Gefüge zur Folge.

L lehnt sich zurück und zieht weiter an ihren Fäden, als wären Schlange und Joswig ihre liebessüchtigen Marionetten, abhängig, von ihr den Schlüssel zum Paradies zu bekommen. „Der Mann war wirklich ein schwieriger Fall. Ich finde es toll, wenn Männer mit vierzig, die noch nie eine Frau hatten, endlich eine wollen. Mit der Zeit verschließen sich die Menschen einfach und kommen nicht mehr aus sich heraus.“

Der Narbenmensch: Jede Enttäuschung und Zurückweisung reißt Dir eine Wunde ins Herz. Körbe, Betrug, Streit und Kompromisse. Je älter Du wirst, desto mehr Verletzungen wirst Du erleben. Jede Wunde, die heilt, hinterlässt eine Narbe, sie verhärtet und wird starr. Als Kind unschuldig, als Jugendlicher unbedarft, als Erwachsener unbeweglich – das ist die Evolution des Herzens. Streiche mit Deinem Finger über eine Narbe, und Du wirst ihre Geschichte sehen. Diese Erinnerungen werden zur Angst vor jeder neuen Beziehung. Keine Kompromisse, engstirnige Ansprüche, tiefes Misstrauen. Wir sind Narbenmenschen! Kannst Du Dich allen Narben zum Trotz jemals wieder fallen lassen, oder verschließt Du Dein Herz für immer?

L zieht aus ihrer Mappe einen zusammengehefteten Katalog mit Fotos hervor und schiebt ihn Joswig rüber. Knapp fünfzehn Bögen, vier Bilder pro Seite: alt, jung, blond, brünett, fett, adrett, Frettchenfresse, Knollennase, dicke Titten, androgyn. Bis auf schön ist alles dabei. Und jede der Grazien scheint aus einer Folge Denver Clan entstiegen zu sein. Dauerwelle, Spießertolle, lila Lidschatten und pinker Lippenstift.

„Welche der Frauen würde Ihnen denn zusagen, Herr Joswig?“

Joswig zögert, betrachtet das erste Frauen-Quartett und entscheidet sich schließlich für eine Perle Typ Eighties-Snow White. Vielleicht hat ja die Maus die vergangenen 20 Jahre im Glassarg verpennt, hofft er.

„Das wusste ich“, sagt L direkt. „Das hatte ich sofort im Gefühl.“ Sie blättert weiter. „Dann ist diese Frau auch etwas für Sie, nicht wahr?“ Sie zeigt auf eine weitere Brünette in jungen Jahren. Joswig nickt. Dass er von den ersten vier vorgestellten Frauen das kleinste Übel gewählt hat, ist verständlich. Dass L auf den folgenden Seiten mit dem kleinsten Übel immer richtig liegt, ist logisch.

L nach der sechsten Seite triumphierend. „Sehen Sie, ich hab ein Gespür für meine Kunden.“

Frau L ist Profi – in jeder Hinsicht: kompetent, erfahren und gewieft. Sie weiß, wie man ein Verkaufsgespräch führt. Etwas zum Anfixen hier, eine kleine Liebesgeschichte da, Erfolgsstories, etwas Romantik, Herzschmerz und Zucker für den Gaul. Der Kunde – egal was für ein Freak ihr gegenüber sitzt – ist König und auf dem besten Wege zum Glück. Er ist keiner dieser Sozial-Autisten, die nicht mal wissen, dass Mumu und Penis ineinandergesteckt werden müssen, damit Strom fließt. L gibt jedem das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Und sie gibt jedem das Gefühl, mit dem Gang zur Liebesagentur das einzig Richtige getan zu haben.

„Die Frau fürs Leben finden Sie nicht an der Wursttheke, sie schellt nicht bei Ihnen an, auch das Internet können Sie vergessen.“ L reißt beschwörend die Augen auf. „ Im Netz weiß man nie, was kommt. Da wird gelogen und betrogen. Das habe ich vergangene Woche noch in dieser Verbrauchersendung „Markt“ gesehen. Neu.de oder elitepartner – das können Sie alles vergessen. Und als Frau würde ich das sowieso nicht machen. Wie oft hört man denn von vergewaltigten und abgestochenen Mädchen, die dann im Wald verscharrt werden?“ Knallharte Fakten, die L präsentiert: Das Fernsehen hat immer Recht, das Internet ist Scheißdreck und hinter jeder Ecke lauern mordlustige Vergewaltiger. Eine Alternative bietet nur ihr Institut. Bei L gibt es keine Fake-Profile: Nur deutsche Christen auf der Suche nach ernsthaften Beziehungen, so schön, als hätten sie seit Mauerfall die Wunder der Kryogenik genutzt.

„So, Sie haben gesehen, was ich Ihnen bieten kann, kommen wir nun zum Vertrag.“ L setzt ihre Brille auf und beugt sich nach vorn. „Ich kann Ihnen nicht die Garantie geben, dass Sie die große Liebe beim ersten Mal finden werden. Aber ich kann Ihnen die Garantie geben, dass Sie sie bei uns finden.“

Sie zieht die Vertragsunterlagen aus ihrer Mappe. „Ihr Profil kommt in unsere Kartei. Sie können so oft und so schnell Frauen treffen, wie Sie wollen. Sagt Ihnen eine Dame zu, setze ich Ihre Akte sozusagen auf Stand-by Modus. Normalerweise ist unser Vertrag auf ein Jahr begrenzt. Ich schreibe aber immer den Zusatz drüber „auf unbestimmte Zeit“, das heißt, sollte es dann mit der Frau nach einem Jahr oder so nicht funktionieren, rufen Sie einfach bei mir an. Ich aktiviere Ihre Akte, und die Suche geht weiter. Ein Vertrag auf Lebenszeit also.“ L setzt ein verführerisches Lächeln auf.

Schlange und Joswig schrecken zurück. Der Bund fürs Leben? Bis dass der Tod uns scheidet? Für viele die Erfüllung – doch im Angesicht des diabolischen Lächelns fühlen Schlange und Joswig kalten Schweiß auf der Stirn. Wie kann man sich hemmungslos in der Liebe verlieren, wenn man am Sicherheitsseil hängt? Wie kann man an die große Liebe glauben, wenn ständig die Option besteht, über L eine neue Frau bestellen zu können? Der Pakt mit dem Teufel hat immer einen Haken.

L schlägt den Vertrag auf. „Die Höchstsumme für die Dienste unserer Agentur liegt bei 6600 Euro.“

Holy shit! Ls Umworbene werden kreidebleich. Knapp sieben Mille für die Liebe? Wenn 6600 Euro ein Indikator für den Grad der Verzweiflung ist, kann L natürlich eine Garantie auf Vermittlung geben. Schlange versucht zu scherzen, doch seine Mundwinkel bleiben starr. „Da müssen wir mal schauen, ob er uns so viel wert ist.“

L macht eine beschwichtigende Handbewegung. „Es gibt hier noch eine weitere Agentur. Da bekommen Sie die Frau für vier acht. Allerdings gibt’s da nur Polinnen und Russinnen – natürlich alle aus dem Rotlichtmilieu. Verstehen Sie? Wir müssen so teuer sein, sonst kommen die Luden und kaufen uns die Frauen weg.“

So viel Menschenverachtung lässt die beiden Liebesjunkies still werden. Frauen sind etwas Wundervolles. Liebe wird hier verscherbelt, wie eine Tüte H-Milch an der ALDI-Theke. Romantik und Menschenhandel, Glück in kleinen Dosen, ein Vertrag auf Lebenszeit, gestrecktes Koks im Plastiktütchen und die immer währende Liebe. Wie können Luden die Frauen wegkaufen, wenn alles so verdammt seriös ist? Das schwere Schloss, der Sicherheitsspiegel im Hausflur, das lange Warten einsam im Beratungszimmer – langsam macht alles Sinn. Psychospiele, um verzweifelte Herzen mürbe zu machen. Eine Festung gegen die Vermittlungsmafia. Ls Jargon passt besser an die usbekische Grenze, ihre Miene wirkt hart, Schlange und Joswig fühlen sich unwohl.

„Sie können ruhig rauchen. Ich hab damit kein Problem.“ L zeigt auf den großen Aschenbecher in der Mitte des Tisches und lächelt kühl. Schlange und Joswig greifen hastig nach ihren Schachteln und stecken sich eine an.

„Über das Geld brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Über die Zahlungsmodalitäten können Sie sich mit unserem Buchhalter verständigen. Herr K ist sehr locker, Anfang fünfzig, fährt Motorrad, hat immer einen flotten Spruch parat.“ Sie macht eine bedeutungsvolle Pause. Joswig schnauft. Als ob ihm irgendein Buchhalter in der Midlife-Crisis, der seinen fetten Arsch auf eine Goldwing pflanzt und unentwegt dumm schwätzt, als hätte er das komplette Mario Barth-Programm gefressen, 6600 Euro aus den Rippen leiern könnte. Arschlecken. L fährt fort. „Normalerweise veranschlagen wir immer eine Ratenzahlung von 100 Euro pro Monat. So viel geben manche Frauen schon allein für Schnittblumen aus, sag ich da immer.“ Sie lacht blechern. „Mach ich ja selber.“

Kurz überschlagen: Rund 12.000 Personen haben bei Ls Institut einen Liebes-Leasingvertrag laufen. Zwar sagt sie, das sechs sechs nur die Höchstsumme sei, doch wird ein Vertrag auf Lebenszeit immer auf den kompletten Preis kommen. Sechs sechs Sex – die Zahl des Teufels. Würden alle Kartei-Karten ihre Liebesgebühr zahlen, käme das Institut auf 79,2 Millionen Euro Umsatz. Liebeskartei – Karteiliebe – Karteileiche.

L redet weiter: „Wir bräuchten dann noch eine Selbstauskunft und Ihre Schufa-Daten. Das verstehen Sie ja sicherlich. Wir müssen ja auch nach den Vorstrafen schauen. Nicht dass „Er“ ein Zuhälter ist, oder „Sie“ eine Heiratsschwindlerin.“ L lacht.

Schlange und Joswig stecken sich neue Kippen an. Ls Witz ist aussagekräftig: Wenn sie befürchtet, dass sich Heiratsschwindlerinnen in ihre Kartei mogeln könnten, führt sie in erster Linie reiche naive Geldsäcke. Sorgt sie sich um Zuhälter, die ihr die Frauen abwerben könnten, sind die weiblichen Kunden in ihren Augen potenzielle Nutten.

Als sie Joswig den Vertrag zur Unterzeichnung rüberschiebt, greift Schlange ein. „Ähm, ich denke, ich muss da erstmal mit unseren Jungs drüber reden. Mit sechs sechs hatten wir nicht gerechnet. Vielleicht machen wir fifty-fifty, müssen wir nochma durchrechnen.“

Joswig pflichtet bei. „Ich würd da auch gern eine Nacht drüber schlafen. Ist ja doch ne Stange Geld.“

Ls Stimme wird schnippisch: „Normalerweise haben sich das unsere Kunden sehr genau überlegt, bevor sie zu uns kommen.“

Schlange: „Das konnten wir ja nicht wissen. Am Telefon haben Sie ja keinen Preis genannt.“ L klappt den Vertrag zu. „Damit ist dann unser Gespräch beendet. Aus datenschutzrechtlichen Gründen muss ich jetzt hier Schluss machen.“ Sie zieht eine Visitenkarte aus ihrer Mappe. Elfenbeinfarben mit verschlungener, grüner Schrift. „Sie können mir Bescheid geben, wenn Sie endlich wissen, was Sie wollen.“

 

Das wissen wir. Die Liebe ist da draußen. Wir suchen weiter.

Ihre Wattenscheider Schule.

 

 

 

 

 

Very special thanx to:

Christian Turk (illustration)

Matt Dolibog (fotos)

ARD – vom Elend der öffentlich-rechtlichen Programmierung

Ehrlich vorausgeschickt: ich bin Fußballfan, seit 1964, da war ich 7. Mit 8 entschied ich mich für den VfL 1900 Borussia Mönchengladbach. Heute um 19 Uhr spielt "mein Verein" ein total bedeutendes Sechzehntelfinalspiel im DFB-Pokal gegen den MSV Duisburg. Und die ARD sendet, zwischen 22.15 h und 23.30. Ist das nicht toll? Nein, ist es nicht. Normalerweise ist 22.15 Uhr Tagesthemen-Zeit. Grundversorgung für die Millionen GebührenzahlerInnen. Heute nicht. Das ist eine Sauerei, eine ganz spezielle Sauerei von einem teuer von uns bezahlten öffentlich-rechtlichen Sender. Offentlich-rechtlich heisst: der Sender gehört uns, uns allen. Warum verarscht er uns fortwährend?

 Seit Jahren wird in der ARD diskutiert, wie man die Tagesthemen aufwerten kann, schliesslich sind sie ein Juwel ihres Programms. Für Tagesschau und Tagesthemen arbeitet in Hamburg eine große teure Redaktion unter der Bezeichnung "ARD-aktuell". Und im internationalen Vergleich von TV-Programmen macht sie eine ziemlich gute Arbeit für das viele Geld. Wobei das Bessere natürlich immer ein Feind des Guten ist ….

Folgerichtig wird seit Jahren in der ARD der Programmplatz der Tagesthemen diskutiert. Es bestand – theoretisch – Einigkeit, dass es für die Publikumsakzeptanz der Sendung sehr wichtig sei, dass sie täglich am gleichen Sendeplatz wiederzufinden ist. Sicher, das gilt weniger für ruhrbarone-NutzerInnen, die wissen Bescheid, wie man sich zeitsouverän sein Informationsbouquet selbst zusammenstellt. Wer weiss, wie es geht, ist heute sein eigener Programmdirektor. Aber die ARD-ZuschauerInnen sind im Durchschnitt 60, die wollen das nicht mehr lernen.

Bei den Tagesthemen ist es nun so: montags und dienstags sind sie um 22.15, mittwochs um 23 h, donnerstags wieder um 22.15, freitags um 23.15, samstags sehr verschieden, sonntags um 22.45 h. Ausser es ist Fußball, und sei es ein Sechzehntelfinale. Das ist doch einfach zu merken, oder?

Die ARD scheisst heute mal wieder auf ihren öffentlich-rechtlichen Auftrag und sendet Fußball, weil dann die Quote höher ist, und das die privaten Fußballsponsoren, der DFB und die Vereine so wollen. Sie soll nur bloss nicht wieder damit kommen, dass es wegen der armen Kinder sei, die ins Bett müssen. Denn dann könnte sie meine Gladbacher ja auch schon um 21 Uhr zeigen und ein Elfmeterschiessen zur Not live übertragen. Da bliebe ich gerne Kind.