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Unstatistik des Monats: Corona-Pandemie – Die Reproduktionszahl und ihre Tücken

3D-Grafik des SARS-CoV-2-Virions Bild: CDC/ Alissa Eckert, MS; Dan Higgins, MAM – This media comes from the Centers for Disease Control and Prevention’s Public Health Image Library (PHIL), with identification number #23312 Lizenz: Gemeinfrei

Unsere vorangegangene Unstatistik hatte bereits die Möglichkeiten und Grenzen zentraler Kennzahlen der derzeitigen Covid-19-Pandemie aufgezeigt – insbesondere der Infektions- und Sterbequote. Inzwischen ist mit der Reproduktionszahl R eine weitere Kennzahl in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Sie gibt an, wie viele andere Personen eine infizierte Person ansteckt und ist keine Eigenschaft eines Virus, sondern ergibt sich aus dem Verhalten des Virus und unserer Reaktion auf den Virus. Ist beispielsweise R = 2, steckt jede infizierte Person im Durchschnitt zwei weitere Personen an. Aufgrund des exponentiellen Wachstums der Pandemie, die wir bereits in unserer vorangegangenen Unstatistik detailliert beschrieben haben, wird dieser Kennzahl nicht zuletzt von der Bundesregierung eine zentrale Rolle beigemessen.

Denn ist R=2, verdoppelt sich die Anzahl der Neuinfektionen innerhalb der sogenannten Generationszeit: Dies ist die durchschnittliche Zeitspanne zwischen der Infektion einer Person und der Infektion der von ihr angesteckten Personen. Es kommt zu einem exponentiellen Wachstum der Infektionen mit der Folge, dass das Gesundheitssystem innerhalb weniger Wochen an seine Grenzen stoßen wird. Ist R=1, kommt es zu einer gleichbleibenden Anzahl von Neuinfektionen und somit zu einem linearen Anstieg der Fallzahl. Ist R hingegen kleiner als 1, verringert sich die Anzahl der Neuinfektionen im Zeitverlauf. Dann wird das Gesundheitssystem funktionstüchtig bleiben. Bei einem R = 0,5 halbiert sich die Anzahl der Neuinfektionen innerhalb einer Generationszeit und bereits nach wenigen Generationszeiten erfolgen praktisch keine Ansteckungen mehr.

Wenngleich diese Kennzahl für den Umgang mit der Pandemie und für die Möglichkeiten der Lockerung der derzeitigen Politik der sozialen Distanz von hoher Bedeutung ist, sollte sie dennoch mit einer gewissen Vorsicht interpretiert werden, da die Berechnung der Reproduktionszahl keineswegs trivial ist, einige wichtige Annahmen erfordert und daher mit einer erheblichen statistischen Unsicherheit behaftet ist. Deren Größenordnung lässt sich zudem auf Basis der bisherigen Datengrundlage nur schwer abschätzen.

Die Reproduktionszahl hat einen nicht unerheblichen Schätzfehler

Wie wird nun diese zeitabhängige Reproduktionszahl geschätzt? Das Robert Koch-Institut (RKI) beschreibt das Verfahren zur Berechnung von R im Detail in diesem Artikel. Im Folgenden werden wir auf einige zentrale Annahmen dieser Schätzung kurz eingehen. Um R zu schätzen, muss in einem ersten Schritt eine Annahme über die oben beschriebene Generationszeit getroffen werden. Auf Basis der bisherigen Erfahrung mit der Pandemie geht das RKI von einer Generationszeit von vier Tagen aus. Unter dieser Annahme ergibt sich R zu einem bestimmten Zeitpunkt als Quotient der Neuinfektionen des aktuellen und der vorangegangenen drei Tage und der Summe der Neuinfektionen der vier Tage zuvor. Für den 9. April hat das RKI bspw. eine Reproduktionsrate von 0,9 angegeben. Das bedeutet, dass die aufsummierte Anzahl der Neuinfektionen zwischen dem 6. und 9. April leicht unter der Anzahl der Neuinfektionen zwischen dem 2. und 5. April lag.

Wichtig hierbei ist, dass das RKI für diese Berechnungen nicht lediglich die Anzahl der gemeldeten Neuinfektionen verwendet, sondern die aus den gemeldeten Neuinfektionen in einem vorgelagerten Schritt geschätzten Neuerkrankungen. Für diese Schätzung wird ein statistisches Verfahren eingesetzt (ein sogenanntes Nowcasting), um mögliche Verzögerungen bei der Diagnose, der Meldung und der Übermittlung der Anzahl der Neuerkrankungen zu berücksichtigen. Auf die genaue Methode wollen wir an dieser Stelle nicht näher eingehen, nur darauf hinweisen, dass der Nowcast für den 1. April zwischen rund 3.000 und fast 6.000 neuen Fällen schwankte – je nachdem, zu welchem Zeitpunkt er ermittelt wurde.

Deshalb handelt es sich bei der Reproduktionszahl um eine Schätzung mit einem nicht unerheblichen Schätzfehler, der bei der Bewertung der aktuellen Lage immer berücksichtigt werden muss. So blieb in der öffentlichen Diskussion weitgehend unberücksichtigt, dass das RKI am 9. April angegeben hat, dass die Reproduktionsrate mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent in einem Intervall zwischen 0,8 und 1,1 lag. Neuere Meldungen, die Reproduktionszahl sei wieder auf 1 gestiegen, wie beispielsweise „Zeit online“ am 28. April schrieb,  sind nicht unbedingt Grund zur Besorgnis.  Denn es kann sich bei diesem Anstieg durchaus um eine Schwankung innerhalb des Schätzfehlers handeln. Es ist sogar durchaus möglich, dass die wahre Reproduktionsrate konstant geblieben oder gar leicht gefallen ist.

Repräsentative Panelstichproben liefern verlässlichere Informationen

Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass viele der Probleme der Infektions- und Sterbequote, die wir bereits in unserer vorangegangenen Unstatistik angeführt haben, auch für die Reproduktionszahl gelten. So wird insbesondere angenommen, dass die Dunkelziffer der nicht erfassten Infektionen über die Zeit hinweg konstant bleibt. Wird nun die Anzahl der Tests erhöht, erhöht sich aber auch die Anzahl der gemeldeten Neuinfektionen; anders gesagt, die Dunkelziffer verringert sich. Damit wird jedoch wiederum das geschätzte R tendenziell ansteigen, ohne dass sich in der Realität der Infektionsverlauf geändert hat. Dies dürfte vor allem in der Anfangszeit der Pandemie die Schätzungen durchaus beeinflusst haben.  Somit ist der Anstieg der Fallzahlen nur begrenzt aussagekräftig in Bezug auf  die tatsächliche Ausbreitung der Infektion.

So bedeutsam die Reproduktionszahl für die Einschätzung des Verlaufs der derzeitigen Pandemie auch ist, so vorsichtig sollte sie daher interpretiert werden. Kleine Verringerungen oder Erhöhungen von R um Differenzwerte von 0,1 bis 0,2 liegen im Bereich des Schätzfehlers und sind eigentlich keine Schlagzeile wert. Vor allem eignet sich die Reproduktionszahl aufgrund der nach wie vor mangelhaften Datengrundlage nicht als zentrale oder gar einzige Entscheidungsgrundlage für die schwierige Frage, ob die derzeitigen Kontaktbeschränkungen gelockert werden können oder nicht. Nur eine hinreichend groß angelegte repräsentative Panelstichprobe von Personen, die sich regelmäßig in kurzer Frequenz einem Test unterziehen, kann das zentrale Problem der mangelnden Kenntnis der Dunkelziffer und damit der wahren Ansteckungsgefahr lösen.

Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. An dieser Unstatistik hatte zudem RWI-Präsident Christoph M. Schmidt erheblichen Anteil. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik.

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Harald
Harald
3 Jahre zuvor

Verstehe ich das also richtig:

Bei angenommenen 10 Erkrankten ergibt sich bei einem R-Wert von 2 eine Verdreifachung der Anzahl der Infizierten (10 Basispatienten + 20 Neuinfizierte=30), bei R=1 eine Verdoppelung (10+10=20) und bei R=0,5 ein Anstieg von 50% (10+5=15)?

Walter Stach
Walter Stach
3 Jahre zuvor

"Noch lange Zeit weitgehende Beschränkungen …"

Diese Notwendigkeit vertreten und begründen die 4 größten deutschen Forschungsinstitute -Frauenhofer, Helmholz, Leibnitz, Max-Blank – in einer heute veröffentlichten gemeinsamen Stellungnahme.

Ob Laschet und CO -sh.vorneweg BILD- dadurch zumindest nachdenklich werden könnten bezüglich ihrer Forderungen bzw. in ihrer Politik , unverdrossen die unverzügliche gänzliche oder teilweise Aufhebung bestehender Beschränkungen zu fordern?

Darüber hinaus "verdient" es diese Stellungnahme der 4 Institute deutschlandweit und für jedermann zugänglich verbreitet und in jede einschlägige Diskussion einbezogen zu werden, z.B. auch hier bei den Ruhrbaronen.
Allein die Einmaligkeit einer solchen gemeinsamen Stellungnahme der ansonsten miteinander konkurrierenden 4 Forschungsinstitute ist jedenfalls für mich ein gewichtiger Grund, ihrem Inhalt und ihrem Ziel ehe zu vertrauen und zuzustimmen als den Aussagen einzelner Wissenschaftler, die von Laschet, BILD und Co. stets "bemüht" werden, wenn es gilt, den "raschen" Abbau aller Beschränkungen zu fordern, zu propagieren und umzusetzen.

Thomas Strub
Thomas Strub
3 Jahre zuvor

Die hinreichend große Panelstichprobe wäre riesig.
Bei im Schnitt 1000 gemeldeten Neuerkrankungen pro Tag ist dieses Mittel nicht mehr so valide.

Dies unter der Voraussetzung, dass die Dunkelziffer von einem Faktor von 30-90 auf etwa 5 gesunken ist.

In KW 12 (16-22 März) wurden also etwa 20.000 Personen gemeldet, die aber für damals 600.000-1.800.000 infizierte Personen standen.
In KW 18 werden 7.000 Personen gemeldet, die für max 35.000 Personen stehen. (Thema sind große Cluster an infizierten Personen, die die 7.000 aber nicht die 35.000 erhöhen)

Um von den 600.000 10 zu finden braucht man eine Stichprobe von 1.400 Personen
Um von den 35.000 10 zu finden braucht man eine Stichprobe von 23.000 Personen

Besser wäre ein genaueres Monitoring der Symptome um die Anzahl an Personen mit einer gewissen Symptomatik als Schätzer zu nutzen.

Angelika
Angelika
3 Jahre zuvor

#2 Herr Stach, ich bin inhaltlich ganz Ihrer Meinung.

(aber Sie haben das gemacht, was ich auch dauernd tue – zu schnell getippt – und nun hat der Tippfehlerteufel ausgerechnet bei den Namen der Institute zugeschlagen und zwar bei allen, eine Berühmtheit möchte ein t quitt werden, eine andere braucht es, schauen Sie mal selbst, vielleicht kann Hr. Laurin ja mal korrigieren)

Walter Stach
Walter Stach
3 Jahre zuvor

Angelika,
freut mich, daß Sie meinen Hinweis auf….gelesen haben und zudem meine diesbezüglich geäußerte Meinung teilen.
Tipp-Fehler…….
Ja, darüber ärgere ich mich. Das sollte reichen. Also kein Korrekturwunsch meinerseits an Stefan Laurin.

Persönlich sei angemerkt, daß ich bei mir, wenn ich spontan und "auf die Schnelle" Texte verfasse – warum, wo und wie auch immer- , häufiger als je zuvor feststellen muß, daß ich mich angestrengter als je zuvor um Konzentration zu bemühen habe und zudem in jedem Fall den Text noch einmal (nach-) lesen muß, bevor ich ihn weitergebe, was mir stets schwergefallen ist – z.B. in jungen Jahren h bei sog. Prüfungsklausuren- und auch heute noch schwerfällt. "Den eigenen Mist" (nach-)lesen zu müssen, ist nie "mein Ding" gewesen.
Bin ich im 82.Lebensjahr dieserhalb noch lernfähig? Ich bemühe mich.
Ansonsten…..
Ihnen gute Tage in schwieriger Zeit!

Angelika
Angelika
3 Jahre zuvor

Herr Stach, ich wünsche Ihnen Glück und Gesundheit!!

Und allen die hier Artikel veröffentlichen und allen die hier kommentieren natürlich auch!!

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