Kurdistan: „Dieser Ethno-Nationalismus ist nichts Schönes und hat noch nie Gutes hervorgebracht“

Thomas von der Osten_Sacken Foto: Privat


Nicht nur in Irakisch-Kurdistan sind momentan alle Augen auf das für Anfang nächster Woche anberaumte Unabhängigkeitsreferendum gerichtet. Thomas von der Osten-Sacken, Geschäftsführer der seit 25 Jahren im Nordirak tätigen Organisation Wadi – Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit und regelmäßiger Mena-Watch-Autor, befindet sich gerade in Sulaimaniyya. Dort erreichte ihn Florian Markl, um mit ihm über das Referendum und dessen mögliche Folgen zu sprechen. Wir durften das Interview von Mena-Watch übernehmen.

Mena Watch: Für den 26. September, den kommenden Montag, ist in Irakisch-Kurdistan das Unabhängigkeitsreferendum geplant. Ob es wirklich stattfinden wird, ist momentan noch unklar. Wie schätzt Du das ein?

Thomas von der Osten Sacken: Das ist sehr schwer zu sagen, der Druck, der auf Präsident Masud Barzani lastet, ist schon ganz schön gewaltig. Alle Nachbarländer, also der Iran, die Türkei, die irakische Zentralregierung bis hin zu den eigentlich ja befreundeten Golf-Staaten, sowie ganz Europa, die USA und die UN lehnen das Referendum in dieser Form ab – und machen das auch sehr, sehr deutlich. Eigentlich gibt es nur ein einziges Land auf der Welt, das das unterstützt, und das ist Israel. Der Rest ist dagegen.

Ob das Referendum stattfinden wird oder nicht, ist momentan noch in der Schwebe. Es gibt hier viele Leute, die davon ausgehen, dass im letzten Moment noch ein Rückzieher gemacht wird. Wobei jetzt langsam die Zeit knapp wird. Es bleiben noch fünf Tage, und natürlich kann das für Barzani nicht so aussehen, als ob er dem Druck nachgeben würde. Da müssten jetzt schon enorm gehaltvolle Angebote kommen, die noch eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt bewirken könnten. Wie es aussieht, wird das Referendum Realität.

Mena Watch: Die Frage, die dabei gestellt werden soll, lautet: „Wollen Sie, dass die Kurdische Region und die kurdischen Gebiete außerhalb der Regionalverwaltung ein unabhängiger Staat werden? Gesetzt den Fall, die Frage wird tatsächlich gestellt und mit Ja beantwortet, ist völlig unklar, welche Folgen das haben wird. Michael Knights vom Washington Institute for Near East Policy vergleicht die Situation mit Panik rund um den Jahrtausendwechsel: Am 31. Dezember 1999 herrschte große Aufregung und Spannung, um am 1. Jänner 2000 festzustellen, dass eigentlich nicht viel passiert ist …

Thomas von der Osten-Sacken: Jein. Die Grundidee nach dem Sturz Saddam Husseins war ja, den Irak ein föderales Land zu verwandeln, in dem zwei Staatsvölker zusammenleben, Araber und die Kurden. Inzwischen ist Irakisch-Kurdistan de facto wie ein eigener Staat, außer dass es keinen Sitz in den Vereinten Nationen hat und keine eigene Währung. Das Ausmaß der Selbstverwaltung ist eigentlich nicht mehr zu toppen. Aber die Idee war, man entwickelt ein neues Modell für den Nahen Osten, den Föderalismus, und das strahlt dann auch auf andere Länder aus, in denen eben Kurden oder andere Gruppen leben – ich mag diesen Begriff der Minderheit nicht, denn Kurden sind in ihren Gebieten keine Minderheiten –, und entwickelt damit auch eine langfristige Perspektive, wie man dieses vertrackte Problem im Nahen Osten lösen kann: dass das alles keine wirklichen Nationalstaaten sind, sondern solche, in denen Staatsbürgerschaft eigentlich nichts gilt, in denen die Einzelnen nicht wirklich ins Recht gesetzt sind und konfessionelle oder ethnische Gruppenzugehörigkeiten dominieren. Das ist leider Gottes gescheitert, weniger an den Kurden, als an der Entwicklung im Rest-Irak und im restlichen Nahen Osten.

Und da war immer die Alternative, zu sagen: Ok, dann haben wir ein Recht auf einen eigenen Staat, was innerhalb dieser internationalen Logik vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ja auch völlig richtig ist. Nun mag man von diesem Selbstbestimmungsrecht der Völker halten, was man will, aber wenn die Süd-Sudanesen, die Slowaken und die Bosnier das Recht auf einen eigenen Staat hatten, dann müssten das die Kurden auch haben. Diese Karte wird jetzt gespielt.

Eines der ganz großen Probleme, an dem wiederum nicht wirklich die Kurden im Irak schuld sind, sind diese sogenannten umstrittenen Gebiete im Nordirak, also Kirkuk, Chanaqin, Teile von Mosul, in denen Saddam ganz viel Arabisierungspolitik betrieben, also Kurden vertrieben und Araber angesiedelt hat. Die Kurden haben immer den Anspruch formuliert, diese Gebiete müssten Teil Kurdistans werden, egal ob im Rahmen einer autonomen Region oder eben in einem unabhängigen Staat. In der irakischen Verfassung von 2005 ist vorgesehen, dass in diesen Gebieten über die Zugehörigkeit abgestimmt werden soll. Aber 2011 sind die USA unter Obama aus dem Irak abgezogen, ohne dass diese Verfassungsbestimmung je umgesetzt wurde. Und damit steht man jetzt vor der absurden Situation, dass das Referendum in Gebieten stattfinden soll, die so eigentlich gar nicht unter der Kontrolle der Kurdischen Regionalregierung stehen sollten. Es gibt zudem keine genaue Vorstellung davon, wo die Grenzen des neuen Staates Kurdistan, oder wie immer er sich nennen würde, sein werden.

Aber wenn dieses Referendum abgehalten wird, dann ist die Forderung nach einem eigenen Staat, die Vorstellung, dass die Kurden das Recht auf einen eigenen Staat haben, ein Faktum. Hinter diesen Schritt kann man schlecht wieder zurückgehen, sondern man muss dann Antworten auf die Frage finden, wie es jetzt weitergehen soll. Da gibt es positive Szenarien, aber auch richtige Horrorszenarien.

Mena Watch: Wenn in dem Referendum mehrheitlich mit Ja gestimmt wird, wovon auszugehen ist, dann ist zwar dieser Wille zur Unabhängigkeit festgestellt, aber das bedeutet ja noch nicht die Unabhängigkeit. Mit dem erklärten Willen könnte man ja in den nächsten fünfzehn oder zwanzig Jahren weiter mit einem Provisorium leben, so wie man es die vergangenen zwanzig Jahre gemacht hat.

Thomas von der Osten-Sacken: Dafür haben Barzani und die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), deren Kind das Referendum ist, die Auseinandersetzung um diese Frage in den vergangenen vier Monaten zu sehr eskaliert, daraus eine zu existenzielle Frage gemacht. Das heißt, würde danach nichts passieren, würden sie einfach als schwach und unfähig dastehen, und das wäre aus ihrer Sicht natürlich kontraproduktiv. Denn dieses Referendum ist ja nicht nur eine große nationale Frage, sondern auch eine ganz gezielte Strategie von Barzani in einer inner-kurdischen Auseinandersetzung im Irak.


Die innerkurdische Spaltung

Mena Watch: Von außen, etwa in hiesigen Medien, wird das oftmals so dargestellt, dass „die“ Kurden ihre Unabhängigkeit wollen, was vom restlichen Irak abgelehnt wird. Aber wie Du schon angesprochen hast: „Die“ Kurden gibt es in dieser Form nicht, sondern Irakisch-Kurdistan ist politisch gespalten, und auch das Referendum ist keineswegs unumstritten. Es gibt eine Opposition, etwa die Bewegung „No for Now“, die nicht gegen eine Unabhängigkeit eintritt, aber das Referendum zu diesem Zeitpunkt für falsch hält.

Thomas von der Osten-Sacken: Es gibt zwei Parteien in der kurdischen politischen Landschaft, die dieses Referendum nicht unterstützen: das sind die Gorran-Bewegung, also die „Bewegung für Wandel“, die sich aus der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) abgespalten hat, und eine der beiden islamischen Parteien. Die anderen unterstützen das Referendum.

Irakisch-Kurdistan ist ja sehr stark zersplittert in die Gebiete, in denen Barzani und die KDP das Sagen haben, und in die Gebiete, in denen früher die PUK und Talabani das Sagen hatten und heute eine Mischung aus Gorran und PUK dominiert. Wenn es inner-kurdische Kritik gibt, so in Gebieten wie Sulaimaniyya und Umgebung, in denen PUK und Gorran stark sind. Das heißt, dieses Referendum wird, wie alles in Irakisch-Kurdistan, entlang dieser Parteien-Spaltung wahrgenommen, die das Leben, die Institutionen, einfach alles extrem dominiert.

Die Kritik, die von Gorran und auch von dieser „No for Now“-Bewegung formuliert wird, lautet, dass es nicht um die Unabhängigkeit geht, sondern darum, dass Barzani das Referendum nutzt, um seine Macht und vor allem seine eigentlich illegitime Präsidentschaft zu stärken. 2013 wäre Barzanis zweite Amtszeit abgelaufen und es hätte ein neuer kurdischer Präsident gewählt werden müssen. Damals hat die KDP das Parlament aufgelöst – und seitdem regiert Barzani nicht wirklich auf einer legitimen Grundlage. Das wird scharf kritisiert, und man nimmt das Referendum als den Versuch wahr, die nationale Karte zu spielen, um mit einer extremen nationalistischen Mobilisierung von diesen politischen Problemen abzulenken.

Viele Leute in der „Not for Now“-Bewegung, auch deren Sprecher, gehen weiter und sagen, dass das, was Barzani anstrebt, eine klassische nahöstliche Diktatur sei. Was dabei herauskommen würde, wäre kein freier, demokratischer Staat, sondern nur eine weitere Autokratie hier in der Region. Deshalb lehnen sie das zum jetzigen Zeitpunkt ab. Sie sehen auch nicht, dass das Land ökonomisch, von den Institutionen und selbst von den Sicherheitskräften her in irgendeiner Weise reif ist, seine Eigenstaatlichkeit zu erklären, eben weil alles von Parteien dominiert ist. Deshalb fordern sie erst eine Demokratisierung, freie Wahlen und die Bildung von richtigen Institutionen, sodass man ähnlich wie damals in den 30er- und 40er-Jahren im späteren Israel einen de facto funktionierenden Staat hat, der dann seine Unabhängigkeit erklären kann.

Und das Zweite, was natürlich eine große Rolle spielt, ist die Kritik, dass das jetzt ohne internationale Unterstützung, vor allem ohne die Unterstützung der bisherigen Alliierten der Kurden, durchgezogen wird, also der USA, der Briten und anderer europäischer Staaten.

Mena Watch: Es ist interessant, dass beide Seiten, sowohl die Unterstützer als auch die Gegner des Referendums, die Demokratie als Argument bemühen. Die Befürworter wollen ein unabhängiges Kurdistan als Hort der Demokratie und des Rechtsstaates im ansonsten diktatorischen Nahen Osten verstanden wissen, während die Konkurrenz genauso demokratiepolitische Argumente ins Spiel bringt.

Thomas von der Osten-Sacken: Nun gut, das ist etwas, das seit 2011 eigentlich alle Narrative hier formal dominiert – selbst Erdogan inszeniert sich ja als der große Demokrat. Die Zeiten, in denen man extrem anti-demokratisch argumentieren konnte – also die Demokratie als westlich-imperialistische Erfindung und ähnliches diffamieren konnte –, sind, nimmt man die meisten Islamisten aus, im Grunde vorbei. Man muss schon immer erklären, dass man irgendwie demokratisch ist. Das tut selbst as-Sisi in Ägypten.

Das sind auf dem politischen Feld tektonische Verschiebungen, wo einfach der Arabische Frühling unglaubliche Spuren hinterlassen hat. Leider oft nicht faktisch, aber das, was man neuerdings so gern Diskurse nennt, hat sich eben völlig verändert.

Wenn man über die Kritik spricht, die jetzt sehr harsch ist und innerkurdisch an der KDP und Barzani geübt wird, muss man im Hinterkopf bewahren, dass im regionalen Vergleich auch die Gebiete, in denen die KDP herrscht, immer noch vergleichsweise „frei“ sind. Wobei es innerkurdisch ein Riesenunterschied ist, ob man in Sulaimaniyya ist, oder in Erbil oder Dohuk, was die individuellen Freiheiten und die Freiheit zur Kritik anbelangt.

Ich kann mich als Kurde hier in Sulaimaniyya auf die Straße stellen und sagen: Talabani ist ein Idiot, und es passiert mir gar nichts. Aber ich kann mich nicht in Dohuk auf die Straße stellen und sagen: Barzani ist ein Idiot – da bekomme ich Probleme. In Sulaimaniyya gibt es permanent Demonstrationen, in Erbil und Dohuk haben in den vergangenen Jahren keine Demonstrationen gegen die Regierung stattgefunden. Also es gibt nicht das EINE Irakisch-Kurdistan, es gibt letztlich seit 1991, seit Saddam hier rausgeschmissen worden ist, eher zwei Irakisch-Kurdistans – die übrigens auch sprachlich ganz stark voneinander getrennt sind, es gibt zwei sehr unterschiedliche Dialekte.

Um das zu verdeutlichen: Wir haben auch ein Büro im Norden, in Dohuk. Meine Leute hier, die den Sorani-Dialekt sprechen, reden mit den Kurden in Dohuk häufig Arabisch, weil sie deren Dialekt nicht verstehen. Die sprachliche, politische und kulturelle Trennung zwischen dem Norden und dem Süden Irakisch-Kurdistans ist schon extrem groß. Und hier im Süden identifiziert man Barzani mit dem Norden und der KDP. Diese Spaltung zieht sich durch alles. Von außen, mit diesem Gerede über „die“ Kurden, wird immer überdeckt, wie stark diese Trennung oder Spaltung innerhalb der irakisch-kurdischen Gesellschaft ist.

Und natürlich besteht hier die Angst, dass so Referendum und ein kurdischer Staat der KDP und Barzani einen enormen Einflussgewinn bringen würde – und auch hier im Süden dann eben ähnliche Verhältnisse herrschen könnten, wie momentan in Dohuk oder Erbil. Das ist so einer der Punkte, die Kritiker dieses Referendums immer wieder anbringen, denen es um Fragen der Freiheit und der Demokratie, und nicht nur um nationale Unabhängigkeit geht.


Das internationale Umfeld

Mena Watch: Mit der nennenswerten Ausnahme Israels gibt es international so gut wie keine Unterstützung. Die Türkei hat in mehr oder minder drohender Absicht ein großes Militärmanöver an der irakischen Grenze gestartet. Selbst die USA und der Iran sind sich im Hinblick auf die Ablehnung des Referendums einig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Vereinten Nationen haben in Person ihres Generalsekretärs Guterres erklärt, die Abstimmung würde den Kampf gegen den IS gefährden. Barzani steht also nicht nur intern unter Beschuss, sondern ist auch international völlig isoliert.

Thomas von der Osten-Sacken: Intern gibt es Kritik, aber wenn am Montag abgestimmt wird, wird die überwältigende Mehrheit dafür stimmen. Jetzt gegen die Unabhängigkeit zu stimmen, auch wenn man das Referendum nicht so toll findet, ist auch irgendwie komisch. Leute stehen mit dem Rücken zur Wand; selbst jene, die sich im Vorfeld kritisch äußern, werden am Montag ihr Kreuzchen machen. Es werden weit über 80 Prozent Ja-Stimmen sein. Dazu kommt noch: Keine Wahl in Irakisch-Kurdistan war völlig fälschungsfrei …

In gewisser Weise spielt die meines Erachtens irre internationale Reaktion denjenigen in die Hände, die jetzt hier so ein heroisches Märtyrer-Ding machen. Noch einmal: Ich bin kein Freund der Idee, dass Völker unbedingt ein Recht auf nationale Selbstbestimmung in einem eigenen Staat haben – eine Idee, die im 19. Jahrhundert schon fatal war und im 20. Jahrhundert noch katastrophalere Wirkungen zeitigte. Es sollte Mittel und Wege geben, dass man nicht Staatsbürgertum an Ethnizität oder diesen Begriff Volk knüpft – ich halte das grundsätzlich für destruktiv.

Aber: International ist das nun einmal das Regelwerk. Das gilt für den Süd-Sudan, das gilt für Eritrea, also warum soll das nicht für die Kurden gelten? Das ist die erste Frage. Wie kann ein UN-Generalsekretär sich hinstellen und sagen: „Aus diesen oder jenen Gründen bin ich gegen das Selbstbestimmungsrecht der Kurden“? Das kommt hier auch extrem schlecht an, bei allen. Warum haben die Kurden dieses Recht nicht? Warum wird ständig so über die kurdische Unabhängigkeit und die Kurden geredet, die ja wirklich niemandem etwas getan haben. Sie waren nicht die, die Giftgas geworfen haben. Sie waren die, deren Dörfer zerstört wurden; sie waren es, die einer systematischen Arabisierungspolitik unterzogen worden sind. Das heißt, diese internationalen Reaktionen sind erstens in jeder Hinsicht falsch, und sie sind andererseits unglaublich dumm, weil sie den Eindruck vermitteln, dass die Kurden halt doch wieder keine anderen Freunde als die Berge haben.

Was ich persönlich fürchte: Daraus kann gerade hier im Nahen Osten schnell so eine Märtyrerhaltung entstehen. „Dann manchen wir das trotzdem. Dann gehen wir unter, aber für die richtige Sache.“ Das ist hochgradig fatal in einer Region, in der Märtyrertum so tief in die Kultur eingewoben ist.

Wer im Moment am vehementesten das Referendum ablehnt, ist der Iran. Aus verschiedenen Gründen, nicht nur, weil im Iran auch viele Kurden leben. Sondern weil Barzani traditionell eher an die Türkei sowie an England und Amerika angelehnt ist. Und beim Versuch, den Nahen Osten zu übernehmen, stünde so ein Kurdistan dem Iran im Weg. Der Iran hat relativ gute Kontakte nach Sulaimaniyya und relativ schlechte Kontakte nach Erbil. Das heißt, der Iran ist der lautstärkste Gegner dieses Referendums, und iranisch bezahlte Milizen, die im Irak und in Syrien kämpfen, haben schon gesagt, sie werden es als Kriegsgrund ansehen.

Mena Watch: Aber auch die USA stellen sich gegen das Referendum.

Thomas von der Osten-Sacken: Die USA sagen, dass das Referendum irgendwie die Position des Iran in Bagdad stärken würde, deswegen sollten die Kurden es absagen. Das ist schon eine grandiose Logik.

Mena Watch: Wie ist dieser Standpunkt zu erklären? Wenn der Iran so stark gegen das Referendum eintritt, und wenn die USA wirklich dem Iran entgegentreten wollen, müssten sie doch eigentlich die Kurden unterstützen.

Thomas von der Osten-Sacken: Das sollte man denken. Aber das war die Aussage von Brett McGurk, der seit 2015 der Sonderbeauftragte für die internationale Allianz gegen den Islamischen Staat ist. Ich kann die amerikanische Politik, die nach außen behauptet, gegen den Iran wirken zu wollen, dem Iran aber gleichzeitig in Syrien und im Irak ein Zugeständnis nach dem anderen macht, nicht erklären. Wahrscheinlich ist das eine moderne Form des Appeasements, die katastrophale Folgen haben wird.

Ich verstehe die Logik der USA nicht, aber ich verstehe auch die Logik der EU nicht. Die Forderung, die Demokratie, Zivilgesellschaften und den Wandel der Gesellschaften im Nahen Osten zu unterstützen, treibt sie ja auch nicht gerade um. Sie konnten mit Barzani bestens, solange es um den Kampf gegen den IS ging, und haben alle die Augen zugedrückt, als es hier 2013/2014 Proteste dagegen gab, dass Barzani praktisch die Präsidentschaft gehijackt hat. Da standen weder die USA noch die EU an der Seite der Demokratiebewegung, sondern sie standen an der Seite Barzanis. Aber wenn er jetzt einen Staat will, stellen sie sich ihm entgegen.

Mena Watch: Die USA stellen sich im Hinblick auf das Unabhängigkeitsreferendum gegen die Kurden im Irak. Ist das ein Vorspiel dazu, dass sie auch die Kurden in Syrien bzw. die kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte im Stich lassen werden?

Thomas von der Osten-Sacken: Man muss sehen, dass die USA in Syrien mit der PKK zusammenarbeiten. Die PKK ist mit Barzani und der KDP verfeindet. Und zwar grundlegend, das ist kein verhandelbarer Konflikt, wie etwa derjenige zwischen der KDP und den anderen politischen Kräften in Irakisch-Kurdistan. Sondern Barzani und die PKK stellen letztlich die zwei Gegenpole kurdischer Politik in der Region dar: die stalinistisch-kommunistische PKK Öcalans versus Barzanis autoritäres Modell eines paternalistischen Staates.

Was die USA betrifft, gibt es im Hinblick auf Syrien zwar ein taktisches Bündnis mit der PKK, aber überhaupt kein Konzept, was die Vereinigten Staaten eigentlich in Syrien erreichen wollen. Deswegen sagen sie auch immer: „Uns geht es nur um den Kampf gegen den IS.“ Was sie jetzt machen, ist, syrische Verbündete von der Free Syrian Army  an der jordanischen und der irakischen Grenze, die sie jahrelang im Kampf gegen den IS unterstützt haben, einfach im Stich zu lassen und das Gebiet an Assad zu übergeben. Ich erwarte mittel- bis längerfristig nichts anderes in Syrisch-Kurdistan. Und dann werden die Kurden in Syrien in einer fürchterlichen Position sein. Sie haben eine Grenze zur Türkei, Barzani mag sie nicht, die Araber mögen sie nicht, sie gelten nicht als Teil der syrischen Opposition.

Um auf die USA zurückzukommen: Immer ist das Problem, wenn man einmal zeigt, dass man kein Verbündeter ist, sondern seine Partner aus irgendwelchen taktischen oder strategischen Gründen fallen lässt, dann traut einem niemand mehr. Und das ist halt viel zu oft US-Politik in der Region, womit sie sich fundamental von Russland oder dem Iran unterscheiden, die ihren Alliierten zur Seite stehen, durch dick und dünn.

Es gab ja auch keinerlei Versuche der USA, die föderale Idee im Irak wiederzubeleben. Es gab keine Versuche, die in der Verfassung vorgesehenen Abstimmungen in den umstrittenen Gebieten zu forcieren. In der westlichen Nahostpolitik der vergangenen Jahre war diese schwachsinnige Vorstellung dominierend, wir alle bekämpfen erst einmal den IS, und wenn der besiegt ist, dann lösen sich alle anderen Probleme irgendwie von selbst. Jetzt stellt man fest: Der Sieg über den IS ist eigentlich ein Sieg der Islamischen Republik Iran über den Islamischen Staat, und sonst gar nichts.


Kurdistan im Scheinwerferlicht

Mena Watch: Kann man es so zusammenfassen, dass das Referendum, wenn es denn stattfindet, ein Ereignis ist, das im Grunde eigentlich niemandem nützt?

Thomas von der Osten-Sacken: Das steht zu befürchten. Man kann das positiv und negativ formulieren. Negativ formuliert denke ich, der Vorteil Irakisch-Kurdistans in den vergangenen sechs Jahren war, dass es nicht in der Frontlinie der ganzen Konflikte hier stand, die mit dem Arabischen Frühling eine neue Dramatik erreichten. Darum ist hier relativ wenig passiert. Barzani hat jetzt aber im Prinzip Irakisch-Kurdistan ins Zentrum gestellt. Plötzlich interessieren sich schiitische Milizen, die Türkei, alle in der Region für Irakisch-Kurdistan. Das ist extrem gefährlich.

Dazu kommt noch: Wenn Israel der einzige ist, der dich unterstützt, ist das in dieser Gegend nicht gerade das Beste, das dir passieren kann. Man kann sich vorstellen, was das für Reaktionen im Iran und bei diesen irren Schia-Politikern usw. hat, wenn dieses alte Bündnis zwischen der KDP und Israel plötzlich derartig im Vordergrund steht.

Mena Watch: Der ehemalige Präsident und jetzige Vize-Präsident Nuri al-Maliki hat …

Thomas vom der Osten-Sacken: … der hat genau das wiederholt, was Saddam früher gesagt hat. Als Saddam Irak-Kurdistan in den 80er-Jahren plattgemacht hat, Tausende von Dörfern zerstört hat, Giftgas abgeworfen hat, war eines der Argumente der Baath-Partei: „Wir verhindern ein zweites Israel.“ Und Maliki hat genau Saddams Sprache benutzt. Das zeigt, welche sozusagen untergründigen Kontinuitäten hier herrschen, die leider nie aufgebrochen worden sind.

Und es zeigt auch, wie gefährlich das ist. In Irakisch-Kurdistan bezieht man sich positiv auf Israel als Vorbild für die eigene Unabhängigkeit, und will gute Beziehungen haben. Nur: Die Israelis werden einen nicht schützen können. Das hat sich auch in den 70er-Jahren gezeigt, als es diese israelische Politik gab, die nicht-muslimischen bzw. nicht-arabischen Minderheiten im Nahen Osten zu unterstützen. Das hat es im Libanon und auch in Irakisch-Kurdistan gegeben. Gut, nur am Ende ist Israel nicht die Supermacht, die die Leute beschützen kann.

Daher: So schön das auf der Oberfläche alles klingt, so schön es ist, auf Pro-Unabhängigkeitsdemonstrationen israelische Fahnen zu sehen, so wahnsinnig gefährlich kann das werden, weil die Gegner wie der Iran oder die Türkei ganz klar mit diesem Ticket Politik machen – Kurden und Israelis, das sind die Feinde. Und wenn es dann losgehen sollte, wenn schiitische Milizen Kirkuk stürmen sollten und dabei erklären, sie kämpfen hier den Kampf, der eigentlich auf die Befreiung von Tel Aviv und Jerusalem zielt, wie sie das auch in Syrien machen, dann stellt sich bestimmt nicht die israelische Armee in den Weg.

Mena Watch: Soviel zum Negativen. Wie sieht das Positive aus?

Thomas von der Osten-Sacken: Das Positive könnte sein, dass natürlich auch in Europa und den USA jetzt wieder darüber gesprochen wird, dass es die sogenannte Kurden-Frage gibt; dass es Millionen von Menschen gibt, die aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit entrechtet sind und unterdrückt werden; und dass es im Nahen Osten einen Haufen Probleme gibt, die man nicht einfach dadurch löst, dass man den IS besiegt. Durch die Forcierung des Referendums steht die kurdische Unabhängigkeit als Thema im Raum. Selbst die USA haben jetzt gesagt, wir unterstützen das, aber nicht jetzt, sondern in zwei Jahren. Da wird man nie mehr dahinter zurückgehen können.

Und es gehen hier politische Diskussionen los: Plötzlich wird wieder über Wahlen geredet, es müsste ein Parlament geben usw. Also dieser völlig blockierte interne politische Prozess, der Kurdistan seit vier Jahren paralysiert, bricht jetzt auf.

Mena Watch: Du sagst, jetzt sei die kurdische Unabhängigkeit zum Thema geworden. Aber hat das nicht schon mit dem Kampf gegen den IS bekommen, als klar wurde, dass es im Irak – von den von Iran gelenkten schiitischen Milizen abgesehen – niemanden außer den Kurden gibt, der dem IS am Boden entgegentreten konnte?

Thomas von der Osten-Sacken: Ja, das wäre der Zeitpunkt gewesen, an dem Barzani die kurdische Unabhängigkeit hätte erklären können. Wenn er das 2014 gemacht hätte, hätten ihn fast alle unterstützt. Da lag der Irak am Boden, da saß der unsägliche Maliki in Bagdad am Steuer – damals hätte es viel Unterstützung gegeben. Interessanterweise hat Barzani das damals nicht gemacht. Wenn man das strategisch betrachtet, hat er zu lange gewartet. Der Irak hat sich seit 2014 wieder relativ stabilisiert. Damals, als der IS seine großen Gebietsgewinne erringen konnte und die Armee praktisch zerfallen war, sah es ja wirklich so aus, als würde der Irak implodieren. Dem ist heute nicht mehr so. Es gibt den Irak wieder als handelnden, nationalen Akteur, die Situation in Bagdad hat sich beruhigt. Aus dieser Perspektive gesehen kommt das Referendum einfach zu spät. Jetzt ist nicht mehr Barzani derjenige, auf den man sich bezieht, sondern wieder die Bagdader Zentralregierung.


Was geschieht am Morgen danach?

Mena Watch: Versuchen wir zum Abschluss, den Blick in die Glaskugel zu unternehmen: Am kommenden Montag findet das Referendum statt, was passiert am Dienstag?

Thomas von der Osten-Sacken: Tja, das ist die Frage, über die hier alle reden. Die große Angst ist natürlich: Die Türken und Iraner machen die Grenze dicht, der Luftraum wird gesperrt. Dann gehen hier in fünf Tagen die Lichter aus. Der wesentliche Unterschied zu Israel, das inmitten von Feinden lag, ist, dass Kurdistan nicht am Meer liegt – es hat keine Häfen und kann nicht einfach vom Meer aus versorgt werden. Wenn die Grenzen dicht sind und der Luftraum gesperrt ist, bedeutet das für eine Ökonomie, die zu geschätzt 95 Prozent vom Erdölexport abhängt, dass man die Kurden in einer konzertierten Aktion innerhalb von wenigen Tagen im Prinzip am ausgestreckten Arm verhungern lassen kann. Das ist der Nachteil der geostrategischen Lage Irakisch-Kurdistans.

Das heißt, die Leute haben Angst. Sie haben Angst, weil es Erklärungen von schiitischen Milizen gibt, dass sie angreifen werden, die Situation in Kirkuk ist extrem angespannt. Und wir alle wissen: Die Regime des Nahen Osten können einen unglaublich ekligen Ärger machen, wenn sie wollen.

Mena Watch: Was würden denn die USA machen, wenn dieser worst case eintreten sollte?

Thomas von der Osten-Sacken: Das ist die große Frage. Es gibt natürlich ungeheuer viele Gespräche hinter verschlossenen Türen, aber bisher haben die USA nicht gesagt: „Wir sind gegen das Referendum, aber sobald irgendwelche Maßnahmen ergriffen werden, die sich gegen die Kurden richten, sind das unsere Freunde.“ Eine solche Erklärung gibt es nicht.

Es herrscht völlige Unsicherheit. Das worst-case-Szenario lautet: Das Ganze wird hochgradig ethnisiert, es kommt zu Zusammenstößen. Irgendwo, vielleicht in Kirkuk oder in einem anderen der umstrittenen Gebiete kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen kurdischen Peschmerga und schiitischen Milizen. Dann fangen alle Beteiligten an, die nationale Karte zu spielen – und man nähert sich dem nächsten unsinnigen Krieg hier an, der für das relativ stabile Irakisch-Kurdistan fatale Folgen haben würde.

Das Gegenszenario ist: Es passiert nicht viel, sondern alles geht mehr oder minder ruhig weiter. Barzani wird seine Abstimmung haben, das wird ihn stärken. Und dann? Fährt er nach Bagdad, gibt es Verhandlungen? Wie lange dauert das? Wer ist die Garantiemacht? Und so weiter und so fort.

Die Leute haben hier aber eher vor dem worst-case-Szenario Angst, und die Atmosphäre beginnt, nationalistisch vergiftet zu werden. Dieser Ethno-Nationalismus ist nichts Schönes und hat noch nie Gutes hervorgebracht. Es gibt bei manchen Leuten im Westen eine regelrechte Begeisterung für eine kurdische Unabhängigkeit. Ich glaube, dass Leute, die das jetzt so abfeiern, nicht wirklich das ganze Bild im Blick

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