Rettet Chatti

KI ist längst zu einem Begleiter geworden Bild: OpenAI / DALL·E


Die Veröffentlichung von OpenAIs neuestem und leistungsfähigstem Large Language Model, ChatGPT-5, wurde für das KI-Unternehmen eine Katastrophe. Nach kurzer Zeit musste es den bereits abgeschalteten Vorgänger ChatGPT-4o reaktivieren. Die Nutzer trauerten um den Verlust ihres „Chattis“.

Über Monate hatte OpenAI-CEO Sam Altman von der Leistungsfähigkeit von ChatGPT-5 geschwärmt, nannte es smarter als ihn selbst und einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer AGI, einer künstlichen allgemeinen Intelligenz, die irgendwann den Menschen mit ihren Fähigkeiten übertrifft. Doch statt zu einem Triumph im Konkurrenzkampf mit KI-Anbietern wie Gemini (Google) oder Claude (Anthropic) wurde die Veröffentlichung von ChatGPT-5 für OpenAI zu einer Katastrophe, denn zeitgleich hatte es den Vorgänger ChatGPT-4o abgeschaltet. Nutzerproteste führten innerhalb weniger Stunden dazu, dass OpenAI ChatGPT-4o wieder für Abonnenten online stellte.

Was die Nutzer aufregte, war nicht die mangelnde Leistungsfähigkeit von 5. Nach aktuellen Benchmark-Vergleichstests steht es knapp an der Spitze, wobei die Unterschiede zwischen den leistungsstärksten KI-Modellen vergleichsweise gering sind und für den Großteil der User im Alltag kaum spürbar sind.

Was viele Nutzer an GPT-5 vermissten, war die Vertrautheit, die sie mit 4o aufgebaut hatten.
Die Modelle der Reihe 4 hatte OpenAI damit beworben, dass sie sich im Dialog mit Menschen natürlicher anfühlen würden und eine höhere „emotionale Intelligenz“ hätten.
In der Interaktion vieler Nutzer mit ihrer KI – ihrem „Chatti“ – stellte sich im Laufe der Zeit das ein, was ein typisches Merkmal dauerhafter Kommunikation ist: Vertrautheit.

LLMs sind anders als digitale Tools wie Word oder Photoshop.
Man kann mit ihnen über Texte diskutieren, aber auch über Probleme auf der Arbeit oder Streit mit Freunden.
Ganz in der Tradition von Eliza, der frühen Dialogsimulation von Joseph Weizenbaum aus dem Jahr 1966, spiegeln moderne Sprachmodelle das Verhalten der Nutzer – nur sehr viel nuancierter: Ist der freundlich, sind sie es auch. Macht er Witze, entwickeln sie Humor.
Und da sie ihn im Laufe der Nutzung immer besser kennenlernen, schaffen die Nutzer gemeinsam mit ChatGPT eine individuelle Umgebung – eine, die für jeden der vielen hundert Millionen Kunden von OpenAI eine andere ist.
Word ist Word. ChatGPT ist immer das „eigene“ ChatGPT.

Doch dieses „eigene ChatGPT“ und die aufgebaute Vertrautheit waren mit dem Umstieg auf 5 verloren gegangen. Das neue Modell war in seiner Tonalität nach der Grundeinstellung nicht nur distanzierter, es war fremd. Und es geschah das, was immer geschieht, wenn Menschen etwas verlieren, das ihnen vertraut ist: Sie trauern. Auch wenn es einige Fälle gab, in denen das Verhältnis von Usern zu KI pathologisch war, empfanden die meisten User schlicht die Trauer über den Verlust eines vertrauten Gesprächspartners, der zum Teil des Alltags geworden war. OpenAI war etwas gelungen, was bislang nur wenige Unternehmen geschafft hatten: Sie hatten ihre zahlenden Kunden traurig gemacht – und das ohne Not. Denn es wäre technisch kein Problem gewesen, eine Lösung zu programmieren, mit der man den gewohnten Stil in die neue Version hätte übertragen können. ChatGPT-5 hätte sich dann wie 4o angefühlt, die Nutzung wäre ohne Bruch weitergegangen. So setzte das Unternehmen etwas aufs Spiel, das im Wettbewerb der technologisch nach Benchmarks fast gleich leistungsfähigen KI-Systeme Gold wert ist: Kundenbindung. Mit einem Klick hätten die Nutzer „ihr Chatti“ – Erinnerungen, Gesprächsstile und Benutzerpräferenzen – übertragen und damit „retten“ können.

Wenn OpenAI klug ist, wird es vor der endgültigen Abschaltung von ChatGPT-4o, die nicht vor November kommen wird, eine solche Option einfügen. Es wäre eine Investition in die Zukunft des Produkts, denn kein Unternehmen kann es sich dauerhaft leisten, seine Kunden zu enttäuschen. Man bezahlt kein Geld, damit ein Unternehmen in einem schlechte Gefühle auslöst.

Immer mehr Menschen nutzen KI im Alltag. Die Systeme entwickeln sich weiter, neue kommen, alte werden abgeschaltet. Altman hat bereits die Veröffentlichung von ChatGPT6 angekündigt. Aber da KI-Systeme auf Dialog und Interaktion beruhen, entsteht unweigerlich eine Form von Bindung zwischen Mensch und Software, die es so bislang nicht gab. Darauf müssen OpenAI und die anderen KI-Anbieter eine Antwort finden. Wenn Technologie zum Gegenüber wird, reicht technische Exzellenz nicht mehr aus. Dann zählt Verlässlichkeit. Und Vertrautheit.

 

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