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Wie Überregulierung und Bürokratie die Corona-Schutzimpfung verlangsamt

Impfstoff von AstraZeneca Foto: gencat cat Lizenz: CC0

Über eine Million Impfdosen liegen allein in NRW ungenutzt herum. Von unserem Gastautor Volker Eichener.

Die Regierung ist vom Krisenmodus in den Panikmodus gegangen. Anders kann man nicht deuten, was am 23. und 24. März passiert ist. Die dritte Infektionswelle rollt, und die Impfkampagne kommt – auch im internationalen Vergleich – nur schleppend voran, hat sogar gegenüber einem zwischenzeitlichen Höchststand am 12. März wieder an Tempo verloren. Die komplett missratene Idee eines Gründonnerstags-Total-Lockdowns war der Versuch eines Verzweiflungsschlags und, wie bei Verzweiflungsschlägen üblich, ohne Sinn und Verstand. Dass der Beschluss bereits nach 15 Stunden wieder zurückgezogen wurde, legt die Überforderung der Regierungen in Bund und Ländern schonungslos bloß.

Woher resultiert diese Überforderung? Der Mangel an Fachkompetenz kann es nicht sein. Wir haben ein Bundesgesundheitsministerium, 16 Landesgesundheitsministerien, ein Robert-Koch-Institut, ein Paul-Ehrlich-Institut, eine Ständige Impfkommission, einen Deutschen Ethikrat, Hunderte von Epidemiologen und Virologen an Universitäten, Kliniken und Instituten. Für Berthold Kohler, den Herausgeber der FAZ, ist es die „deutsche Neigung zu Bürokratisierung und Überregulierung“, die für das Regierungsversagen in der Pandemie verantwortlich ist.[1]

Vor ziemlich genau 100 Jahren hatte der große Politikwissenschaftler und Universalgelehrte Max Weber die Bürokratie noch als großen Fortschritt gegenüber der früheren Willkürherrschaft der Landesherren, Vögte, Schultheiße und Amtmänner gefeiert. Die Bindung an Regeln, Schriftlichkeit, Aktenmäßigkeit, eng umrissene Zuständigkeiten und Dienstwege sollte für Gerechtigkeit sorgen. Aber irgendwann hat sich die Bürokratie verselbständigt und vergessen, dass sie den Bürgern dienen soll und nicht umgekehrt. Es lässt sich leicht nachweisen, dass es überbordende Bürokratie ist, die zum Staatsversagen in der Pandemie geführt hat.

Fangen wir an mit der Impfstoffbeschaffung, die durch die Europäische Union erfolgte. Da wurde, anstatt wie es die Briten, die US-Amerikaner oder die Israelis eher hemdsärmelig taten, nicht schnell bestellt, sondern langwierig mit den Herstellern über Preise verhandelt, weil die europäische Bürokratie, wie jede Bürokratie, ja dem Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit verpflichtet ist – als ob die Kosten für die Impfdosen in irgendeinem Verhältnis zu den volkswirtschaftlichen Schäden ständen, die die Pandemie anrichtet. Dann mussten noch 27 nationale Ministerien mitreden. Am Ende war man zwei Monate zu spät dran und musste anderen Ländern den Vortritt bei den Lieferungen lassen.

Dann brauchte die Europäische Arzneimittelagentur vier Wochen länger als die entsprechende britische Behörde, den Impfstoff von BionTech/Pfizer zuzulassen, obgleich allen Behörden die gleichen Zulassungsunterlagen zur Verfügung standen. So ging ein weiterer Monat bis zum Start der Impfkampagne verloren.

Den Impfstoff von AstraZeneca ließ man erst nicht für über 65jährige zu, nicht weil er nicht wirksam gewesen wäre, sondern weil in der Testphase die Stichprobe der Älteren nicht groß genug war. Als wissenschaftlich geprüfte real-world-Daten aus dem Vereinigten Königreich vorlagen, zögerte der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission immer noch mit der Freigabe, bis der Fernsehmoderator Frank Plasberg dem gesunden Menschenverstand eine Stimme verlieh: „Kann denn jeder in diesem Land Sand ins Getriebe schütten, wenn er die Kompetenz dazu hat? …  Gibt es irgendjemand, der den Leuten mal Beine macht?“[2]

Die nächste Kurzschlussreaktion ließ nicht lange auf sich warten. Weil es bei der Verimpfung von 20 Millionen Dosen AstraZeneca-Impfstoff zu einer Handvoll Fälle von Thrombosen gekommen war, wurde die Impfung mit diesem Stoff gleich ausgesetzt, um, wie es Bürokraten gern tun, erst einmal zu prüfen – obgleich sich jeder, der die vier Grundrechenarten beherrschte, sofort ausrechnen konnte, dass der Nutzen der Impfung 100.000 Mal höher war als das Thromboserisiko. Immerhin konnte die EMA dieses Mal schnell sein.

Die Impfkampagne selber wurde ebenfalls nach allen Regeln der Kunst verbürokratisiert. Da hat sich der Deutsche Ethikrat monatelang mit der Frage der Impfpriorisierung beschäftigt, und herausgekommen ist eine Impfreihenfolge, die weder durchdacht, noch gerecht, noch praktikabel war. Aber das war erst der Auftakt für ein bürokratisches Megaversagen. Der Impfstart in NRW war an Inkompetenz nicht zu überbieten. Anstatt, wie Schleswig-Holstein es getan hat, einen mit Andrang auf Terminvergaben erfahrenen Konzertveranstalter mit der Vergabe der Impftermine zu beauftragen oder anstatt Termine einfach zuzuteilen, maximierte man Trauer, Tränen und Enttäuschungen bei Millionen über 80jähriger Menschen, weil man mit einer Software an den Start ging, die von Programmierfehlern wimmelte („syntax error“), und die Organisation einem Verband ohne Massenpublikumserfahrung und mit vollkommen unzureichenden Serverkapazitäten übertrug, aus bürokratischer Logik heraus, dass eine Ärztevereinigung ja zuverlässiger sei als ein privatwirtschaftliches Unternehmen.

Und damit nicht genug. Das größte deutsche Bundesland weigert sich, die Impfdosen, die es erhält, zu verimpfen. Am 24. März um 9:20 waren nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums[3] 3.367.875 Impfdosen nach NRW geliefert worden, aber nur 2.309.065 verabreicht worden, also nur 69 Prozent. 1.058.810 Impfdosen lagern ungenutzt in irgendwelchen Kühlhäusern. Es ist anzunehmen, dass wir bald darüber informiert werden, dass ein beträchtlicher Teil dieser Dosen unbrauchbar geworden ist, weil es zu irgendeinem Fehler in der Kühlkette gekommen ist, denn die Wahrscheinlichkeit für solche Fehler steigt mit jedem Tag, an dem der Impfstoff gelagert wird.

Warum wird so wenig Impfstoff verimpft? An den Kapazitäten der Impfzentren liegt es nicht. Die könnten viel mehr leisten, und die Arztpraxen erst recht. Alle sagen, sie erhalten einfach nicht genügend Impfstoff. Der Landesgesundheitsminister ist stolz darauf, dass er den Impfstoff „konsequent“ zurückhält, um ihn für die Zweitimpfungen zu reservieren.[4] Das ist allerdings komplett unlogisch. Denn seit Monaten ist bekannt, dass die Impfstofflieferungen ab April stark gesteigert werden, so dass aus den neuen Lieferungen mehr als genug Impfstoff für die Zweitimpfungen verfügbar wäre. Aber das ist nicht bürokratisches Denken.

Die Bürokratie handelt es, wenn etwas da ist. „Sie haben gestern Ihre Abschlussprüfung bestanden? Vor einem Prüfungsausschuss? Wir erkennen sie erst an, wenn uns das schriftliche Zeugnis vorliegt, selbstverständlich in beglaubigter Form. Nein, mailen können Sie uns das nicht, wir benötigen ein Schriftstück. Und eine vorläufige Bescheinigung können wir auch nicht anerkennen.“ So ähnlich denken die Bürokraten im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW. Auf Lieferzusagen verlässt man sich nicht. Man wartet, bis der LKW den Impfstoff auf den Hof gefahren hat. Im übrigen sind Zweitimpfungen wichtiger als Erstimpfungen, denn man hat ja einen Anspruch auf eine Zweitimpfung und auch schon einen Termin dafür. Auf eine Erstimpfung hat niemand Anspruch, dafür muss erst ein Termin zugeteilt werden.

Dass das Vereinigte Königreich und Israel die allerbesten Erfahrungen damit gemacht haben, erst einmal einen möglichst großen Bevölkerungsanteil mit einer Erstimpfung zu versehen, bevor man sich um die Zweitimpfungen kümmert, ist in der Bürokratie noch nicht angekommen und auch nicht beim zuständigen Minister und auch nicht beim Ministerpräsidenten. Anstatt die Impfkampagne zu beschleunigen, konzentriert man seine Energien lieber darauf, die Bevölkerung mit immer neuen Lockdown-Varianten zu traktieren. Das Resultat: Obwohl immer mehr Impfdosen geliefert werden, sinkt die Zahl der täglich verabreichten Impfdosen wieder. Am 12. März 2021 wurden bundesweit noch 303.993 Menschen geimpft, am 19. März, einem normalen Werktag, nur noch 228.125, am Wochenende noch weniger. Wir werden nicht besser, sondern schlechter.

Dabei wäre es so einfach. Die Impfzentren haben genügend Kapazitäten, die Arztpraxen auch. Eine Million Dosen müssen einfach nur aus den Kühlhäusern geholt werden, und mit den Dosen, die wöchentlich zusätzlich geliefert werden, könnte man ganz kurzfristig Riesenfortschritte bei der Immunisierung der Bevölkerung erreichen und sehen, wie 7-Tages-Inzidenzen und R-Werte auch ohne verschärfte Lockdowns zurückgehen.

Aber möglicherweise deutet sich ein echter Skandal an. Wir haben aus den Angaben des Bundesgesundheitsministeriums errechnet, dass NRW am 24.3. um 9:20 genau 1.058.810 Impfdosen herumliegen hatte. Das Gesundheitsministerium aus NRW sagte jedoch, dass es am 22.3. lediglich 661.450 Dosen gewesen seien. Das macht, unbeschadet geringfügiger Abweichungen der Zeitpunkte, einen Unterschied von fast 400.000 Impfdosen, deren Verbleib unklar ist. Bei den Impfzentren befinden sie sich jedenfalls nicht. Sind die 400.000 Dosen bereits verdorben? Oder sind sie abhandengekommen? In dieser Angelegenheit könnte die Bürokratie einmal nachforschen, anstatt den Schutz der Bevölkerung unnötig zu blockieren.

[1] Berthold Kohler: Unzufrieden mit den Krisenmanagern. FAZ Online vom 24.3.2021. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-krise-wird-zu-einem-stresstest-fuer-das-politische-system-17259687.html, zugegriffen am 23.3.2021.

[2] Frank Plasberg in: „Hart aber Fair“ vom 2.3.2021.

[3] https://impfdashboard.de, zugegriffen am 24.3.2021.

[4] Karl-Josef Laumann, zitiert nach Ärztezeitung Online vom 20.01.2021; https://www.aerztezeitung.de/Nachrichten/NRW-stoppt-COVID-19-Impfungen-in-Kliniken-wegen-Lieferengpaessen-416387.html, zugegriffen am 24.3.2021.

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ccarlton
ccarlton
3 Jahre zuvor

Bundesweit hat sich die Zahl der ungenutzten Dosen seit Anfang Februar auf über drei Millionen verdreifacht.

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/impftempo-datenanalyse-101.html

Aber versagt nicht, Abhilfe ist machbar. Es werden allerdings mehr als zwei 'Dosen' zur Immunisierung vom täglichen Irrsinn benötigt.

https://postimg.cc/k2wq62Tf

DAVBUB
DAVBUB
3 Jahre zuvor

Wären Bestellung und Verteilung des Impfstoffes zum marktwirtschaftlich realistischen Preis von € 40.- pro Impfung inklusive aller Nebenleistungen bei amazon bestellt worden, wären jetzt 50% der bevölkerung geimpft, und wir hätten weniger Schulden. Und die hättendie Impfung auch besser und schneller organisiert. Aber amazon ist böse und der Staat kann angeblich alles besser.

Jens
Jens
3 Jahre zuvor

Schuld ist nicht" die Bürokratie". Schuld ist der totale Absicherungsmodus.

Volker Eichener
Volker Eichener
3 Jahre zuvor

Gestern (24.3.2021) hat der NRW-Gesundheitsminister vor dem Landtag versucht, das Problem wegzudefinieren. Es seien nicht alle erfolgten Impfungen gemeldet worden. Das war angesichts der Größenordnungen, um die es geht, natürlich nicht glaubhaft. heute morgen (25.3.2021) hat er eingeräumt, dass in NRW 799.034 Impfdosen für Zweitimpfungen auf Halde liegen. Er hält also immer noch daran fest, Impfstoff zurückzuhalten und damit 800.000 Bürgerinnen und Bürger einem unnötigen Gesundheitsrisiko auszusetzen – nur weil der extrem unwahrscheinliche Fall eintreten könnte, dass plötzlich keiner der drei Hersteller mehr liefert.

Volker Eichener
Volker Eichener
3 Jahre zuvor

Eine Szene in einem Sitzungszimmer des MAGS: "Herr Minister, stellen Sie sich vor, ab nächster Woche würde kein Impfstoff mehr geliefert. Wie führen wir denn dann die Zweitimpfungen durch?"

Das ist die gleiche Logik wie beim Horten von Klopapier.

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