Aus dem einstigen linken ist längst ein grünes Lager geworden

Annalena Baerbock Foto: Stephan Röhl/
Heinrich-Böll-Stiftung Foto: CC BY-SA 2.0

Die Chancen stehen gut, dass die Grünen nach 16 Jahren in der Opposition nach der Wahl im September wieder Teil einer Bundesregierung sein werden. Was kommt da auf das Land zu? Ein Buch wagt einen Ausblick. 

Keine Partei war in den vergangenen Jahren so erfolgreich wie die Grünen: Erhielten sie bei der Bundestagswahl 2017 gerade einmal 8,9 Prozent der Stimmen, wuchsen sie nach dem Hitzesommer 2018, der Wahl von Annalena Baerbock und Robert Habeck zu ihren Vorsitzenden und mit dem Aufkommen von Fridays of Future in den Umfragen auf längst stabile Werte um die 20 Prozent an. Die SPD haben die Grünen als zweitstärkste Partei abgelöst, ihr Denken bestimmt die Politik der anderen Parteien und aus dem einstigen linken ist längst ein grünes Lager geworden.

In ihrer über 40jährigen Geschichte hat sich die Partei oft gewandelt. Sie begannen als kruder Zusammenschluss von rechtskonservativen und zum Teil völkischen Kräften wie Baldur Springmann und Herbert Gruhl mit Esoterikern, ehemaligen Mitgliedern von K-Gruppen, Spontis wie Joschka Fischer und Aktivisten aus der Umwelt-, Frauen und Friedensbewegung. Heute sind sie eine bürgerliche Partei die vor allem dort gewählt wird, wo es den Menschen gut geht: In den schicken und teuren Altbauvierteln der Großstädte.

Für das von Michael Wedell und Georg Milde herausgegebenen Buch „Avantgarde oder angepasst? – Die Grünen – eine Bestandsaufnahme“ haben politische Gegner und Weggefährten die Grünen beschrieben. Von Boris Palmer und Renate Künast über Olaf Scholz, Wolfgang Schäuble und dem zur Industrie gewechselten einstigen grünen Nachwuchshoffnung Matthias Berninger reicht das Spektrum der Autoren. Ein Interview mit dem Granden Joschka Fischer rundet das Buch ab.

Die Kritik an den Grünen kommt vor allem von jenen, die sie verlassen haben und der FDP. Ob CDU oder SPD – beide wollen mit ihnen im Bund koalieren. Die Partei ist das beneidete Erfolgsmodell, gilt als modern und ihre Konzepte werden als zukunftstauglich angesehen. Grüne Forderungen wie der Ausstieg aus der Kernenergie sind umgesetzt, das Ende des CO2-Ausstosses ist Konsens bei allen Parteien und nach dem grünen Lifestyle richten sich immer größere Teile der Basis der Wettbewerber. Und so findet Wolfgang Schäuble: „Im Rückblick auf die letzten 40 Jahre fällt vor allem die Konsequenz und Kontinuität ins Auge, mit denen die Grünen ihre thematischen Kernfelder beackert haben.“ Keines davon habe über die Jahre an Aktualität verloren: die Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie, die Friedenspolitik angesichts globaler Konflikte und hybrider Kriege, der Umgang mit zunehmender gesellschaftlicher Vielfalt. „Vor allem der Beitrag der Grünen zum Bewusstseinswandel in Sachen Nachhaltigkeit lässt sich nicht bestreiten.“

Olaf Scholz, der gerne mit den Stimmen der Grünen zum Kanzler gewählt werden möchte, reklamiert bei allem Lob hingegen beim akademisch geprägten grünen Zeitgeist dafür, die Würde der SPD-Stammklientel zu bewahren: „Handwerkerinnen und Handwerker, Facharbeiterinnen und Facharbeiter sowie Dienstleistungsberufe sind zentral für Wohlstand und Lebensqualität von allen, das muss sich auch in Respekt und Anerkennung zeigen.“

Otto Fricke, Vertreter der FDP im Haushaltsausschuss des Bundestages beschreibt, wie er in seiner Jugend statt bei den Liberalen fast bei den Grünen gelandet wäre, aber dann doch davor zurückschreckte: „Es gibt in der Welt des Liberalen eben keine letzte, absolut richtige Position. Stattdessen gibt es für ihn lediglich immer neu zu diskutierendes Wissen über die Welt und die Kompromisse des konstruktiven Miteinanders. Das gilt besonders für die Politik, in der im Zweifel viele mögliche Wege ans Ziel führen.“ Bei den Grünen scheint diese liberale Grundhaltung für Fricke dem Glauben an eine größere Wahrheit untergeordnet zu sein. Der CSU-Abgeordnete Florian Hahn geht in seiner Kritik noch weiter. Für ihn sind die Grünen eine Verbotspartei: „Belege für die Affinität zu Verboten finden sich zur Genüge, beispielshalber seien nur das Verbot des Verbrennungsmotors und der Ölheizung, der Verzicht auf Fleisch durch eine Fleischsteuer oder die Begrenzung des Flugverkehrs genannt.

Boris Palmer, Vordenker und Enfant Terrible in einer Person, fordert von seiner Partei indes mehr Konsequenz in Fragen der Ökologie. Sie ist ihm im Laufe der Jahrzehnte zu mutlos und zu wenig radikal geworden: Seit Jürgen Trittins Rücknahmepflicht für Dosen ist auch hier nicht mehr viel passiert. Eine Verpackungssteuer für den grassierenden Wegwerfmüll hat der Tübinger Gemeinderat beschlossen, ohne dass es dazu eine Anregung aus einem grünen Programm auf Bundes oder Landesebene gegeben hätte. Ähnlich verhält es sich mit der Pflicht, Solaranlagen auf Gebäuden zu errichten. Auch die wurde in Tübingen schon beschlossen, bevor meine Partei darüber ernsthaft debattiert hatte.“

Altmeister  Joschka Fischer sieht große Chancen für seine Partei, im Herbst an einer Regierung beteiligt zu werden. Aber er warnt vor dem, was dann auf die Protagonisten zukommt: „Der Schock für eine Opposition, die an die Regierung kommt, ist die Konfrontation mit der Realität. Diese rollt über alles hinweg, und dem muss man sich stellen. Dieser Witterungsumschwung ist unglaublich.“ Er verstehe bis heute nicht die strahlenden Gesichter nach einem Wahlsieg. Auf die erste rot-grüne Koalition blickt er mit Stolz zurück: „Wir haben Deutschland verändert – zum Positiven! Darauf bin ich stolz. Und das waren vor allem die Grünen.“ Das Erneuerbare-Energien-Gesetz, später die gleichgeschlechtliche Ehe, der Atomausstieg, die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts – all das wäre Erfolge der Grünen gewesen.

Obwohl er immer ein Anhänger Rot-Grün gewesen sei, könne er mit einer schwarz-grünen Koalition gut leben, „Weil es offensichtlich die einzige Konstellation ist, die gegenwärtig realistisch ist.“

„Avantgarde oder angepasst? – Die Grünen – eine Bestandsaufnahme“ ist ein Debattenbuch, eine kritische Bestandsaufnahmen und zugleich ein Ausblick auf die Zukunft: Die Grünen werden, ob einem das nun gefällt oder nicht, das Land weiter prägen. Sie haben die kulturelle Hegemonie inne, das machen vor allem die Beiträge aus dem Kreis der politischen Wettbewerber deutlich. Sie haben noch lange nicht die intellektuellen Grundlagen, die nötig sind, den Grünen entgegenzutreten.

Michael Wedell, Georg Milde:
Avantgarde oder angepasst?
Die Grünen – eine Bestandsaufnahme
20 Euro, CH. Links Verlag

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