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Corona und Katastrophenschutz: Impfen – aber wann?

Corona in einer Bearbeitung von K. Gercek

Seit dem 15. März 2020 unterhalten sich die Ruhrbarone mit Magnus Memmeler.  Bis heute sind 42 Interviews entstanden, die auf den Katastrophenschutz blicken und auch die Corona-Krise nachzeichnen. Im 43. Interview geht es um das Impfen, die Impfstoffknappheit, die Wirksamkeit des Impfgipfels, die Impfehrlichkeit, den Impffahrplan, die Frage, warum Bevölkerungsschutz weiterhin das Stiefkind der Politik ist, und vieles mehr.   

Ruhrbarone: Hallo, Herr Memmeler! Die Infektionszahlen sinken und sinken, dennoch wirken aktuell alle an den Lockdown-Entscheidungen Beteiligten extrem angespannt. Liegt das ausschließlich an der Impfstoffknappheit? Was macht die aktuelle Situation so brisant?

Memmeler: Richtig, die Inzidenz innerhalb der BRD ist auf unter 100 gesunken. Das Problem ist, dass die Infektionszahlen zwar sinken, wir aber nicht von einer stabilen Bewegung in der Fläche sprechen können. Während Münster eine Inzidenz von 35 meldet, muss Hagen eine Inzidenz von über 200 vermelden. Grund für diese uneinheitliche Lage sind immer wieder größere lokale Infektionsgeschehen und zunehmend auch Infektionsgeschehen bei denen die Mutationen B 1351 aus Südafrika und B 1.1.7 aus England entdeckt werden. Beide Virusmutationen sind wesentlich infektiöser, als der Wildstamm.

Laut der London School of Hygiene and Tropical Medicine verstärken beide Mutationen wahrscheinlich die Bindung des Virus an menschliche Zellen und verbreiten sich so auch unter Kindern leichter. Eine, wie von vielen geforderte, unbedingte Schulöffnung könnte unter diesen Vorzeichen fatal sein. Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg haben deshalb die geplanten Schul- und Kitaöffnungen abgesagt, nachdem Infektionen mit der britischen Variante in Kitas nachgewiesen wurden. Dieses ungeduldige Vorgehen in den beiden Bundesländern hätte beinahe zum GAU führen können, weil Kultusministerien erneut wissenschaftliche Expertise ignoriert haben.

Solange Meldungen wie die Quarantäne von 3.000 Menschen in einer Klinik in Bayreuth oder die Infektion von 81 Menschen in den Lübecker Sana-Kliniken nahezu täglich aufploppen, müssen wir von einer fragilen Lage ausgehen, da dies nur zwei von unzähligen Beispielen sind. Im Kreis Herzogtum Lauenburg wurden 44 von 49 Bewohnern eines Seniorenheims positiv auf Corona getestet und in Dortmund sind aktuell in einem Seniorenheim 14 Menschen an einer Infektion verstorben. Trotz der begonnenen Impfung in Senioreneinrichtungen kann also auch dort nicht von einer stabilen Lage gesprochen werden, da der Impfschutz erst 28 Tage nach der zweiten Impfung seine volle Wirkung entfaltet und wir noch immer nicht alle Bewohner in Senioreneinrichtungen geimpft haben.


Magnus Memmeler mit Maske Foto: Privat

Magnus Memmeler (53 Jahre) lebt in Kamen. Seit über 31 Jahren arbeitet er im Rettungsdienst und Katastrophenschutz. 25 Jahre davon hat er diverse Leitungsfunktionen eingenommen. Er war beauftragt zur Organisation des Sanitätsdienstes beim DEKT in Dortmund und Verantwortlicher einer großen Hilfsorganisation bei der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten in den Jahren 2013 – 2018. Er war zudem Mitglied bei der Stabsarbeit von Bezirksregierungen und in Arbeitskreisen des Innenministeriums bei der Konzeption von Katastrophenschutz-konzepten.

 

 


Es ist nunmehr ein Jahr her, dass sich der erste Mensch in Deutschland nachweislich mit dem Erreger Sars-CoV-2 angesteckt hat. Die Pandemie stellt seitdem das Leben in der Bundesrepublik auf den Kopf. Jetzt, im Januar 2021, haben die meisten Menschen gelernt, mit der bestehenden Bedrohung irgendwie umzugehen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es noch immer regelmäßig neue Erkenntnisse über den Erreger, neue Varianten, die auftreten, und Fallzahlen, die lokal steigen gibt. Noch immer gibt es keine richtige Handhabe, wie diese Pandemie nachhaltig in den Griff zu bekommen ist. Zumindest macht sich dieser Eindruck, dank der Uneinigkeit von Politik und Wissenschaft, immer wieder breit.

Im August 2020 meldete Reuters: Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach rechnet erst 2022 mit ausreichend Impfstoffdosen für die gesamte Bevölkerung in Deutschland. Zwar dürfte ein sicherer, gut getesteter Impfstoff bereits Anfang 2021 zur Verfügung stehen, “aber die wichtige Frage für die Bevölkerung ist, wann tatsächlich auch geimpft werden kann”, betonte Lauterbach gegenüber dem “Redaktionsnetzwerk Deutschland” damals.

Und genau diese Prophezeiung erleben wir momentan hautnah und in der ganzen ungeschminkten Wahrheit. Wir alle erinnern uns noch sehr gut daran, dass Herr Spahn im Dezember vollmundig den Start der größten Impfkampagne ankündigt, weshalb bundesweit Impfzentren aus dem Boden gestampft wurden.

Diese Impfzentren verharren nun aber seit geraumer Zeit in nahezu vollständiger Untätigkeit, weil der Impfstoff fehlt. Die Reden von Spahn und diversen Ministerpräsidenten und Landespolitikern bei den Begehungen von noch jungfräulichen Impfzentren klangen im Dezember beinahe wie der Vorspann von Startreck. Berichte über die gleichen Impfzentren aus den letzten Wochen erinnern jedoch eher an Reportagen über Lost Places.

Die momentane Situation könnte, trotz der Impfstoffverknappung, einige dazu führen, dass Lockerungen bald möglich sein könnten. Daten von Professor Thorsten Lehr von der Universität des Saarlandes wurden kürzlich herangezogen, um eine Prognose vornehmen zu können. Demnach hätte NRW im Juni keine nennenswerten Neuinfektionen mehr, wenn die Reproduktionszahl dauerhaft bei 0,7 läge. Das Problem ist, dass diese Modellrechnung die Entwicklung ohne die ansteckenderen Virusmutationen zeigt, die ja bereits in Deutschland angekommen sind.

Zusätzlich hat Professor Lehr die Ausbreitung der Mutante „B.1.1.7“ aus Großbritannien zugrunde gelegt. Dabei hat er unter anderem die Annahmen getroffen, dass „B.1.1.7“ 1,5-fach stärker übertragbar sei als die bisherige Virus-Variante. Mit der Virusmutation lässt sich leider kein so positiver Verlauf berechnen. Bleibt die Reproduktionszahl etwa auf dem jetzigen Niveau von 0,9, ergibt die Modellrechnung der Saarbrücker Forscher ab Ostern rasant steigende Zahlen. Die 7-Tage-Inzidenz würde bis Anfang Juni auf knapp 300 steigen. Nur bei einem dauerhaft niedrigen Wert von 0,7 könnte auch mit der mutierten Virusvariante ein erneuter Anstieg der Inzidenz abgebremst werden.

Der Lockdown sorgt derzeit für eine niedrigere Reproduktionszahl. Daher sinkt auch die 7-Tage-Inzidenz. Wird der Lockdown aufgehoben, könnte die Inzidenz rasch wieder steigen. Zudem bergen die Corona-Virusmutationen das Risiko, dass die Zahlen in wenigen Wochen erneut rasant steigen könnten. All dies muss bedacht werden, wenn hoffentlich bald ein fundierte „Fahrplan“ entwickelt wird.

Das Fazit lautet deshalb, dass wir vom morgigen Impfgipfel nicht mehr erwarten dürfen, als neue Erklärungen zum Impfstoffmangel und der Bevölkerungsschutz innerhalb der Bundesrepublik leider immer wieder abhängig von spontanen Einzelfallentscheidungen sein wird. Diese Pandemie hinterlässt den Eindruck, dass wir uns im Bereich der nachhaltigen Daseinsvorsorge leider auf einem extrem niedrigen Niveau bewegen.

Ruhrbarone: Warum bemängeln Sie immer wieder den Bevölkerungsschutz innerhalb der Bundesrepublik? Und welche Chancen bieten der neu zugelassene Impfstoff von AstraZenecka und die Ankündigungen weiterer Impfstoffe, die bald zur Verfügung stehen sollen?

Memmeler: Lassen Sie mich mit dem Thema Impfstoff beginnen. Der von der EU inzwischen zugelassene Impfstoff von AstraZenecka soll laut Paul Ehrlich Institut nur bei der Gruppe der 18 bis 65 Jährigen zum Einsatz kommen, weil die Wirksamkeit bei Älteren auf einer zu kleinen Datenbasis ermittelt wurde. Bereits in einem unserer letzten Gespräche habe ich gesagt, dass dieser Impfstoff, wegen seiner besseren Lagerfähigkeit, idealerweise direkt in Arztpraxen eingesetzt wird, um eine möglichst schnelle Durchimpfung des mobilen Teils unserer Gesellschaft zu erreichen.

Sollte dieser Impfstoff zukünftig in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen, böte dies die Möglichkeit, die in der letzten Woche vorgestellte Impfstrategie der Barmer umzusetzen, bei der gezielt Daten der GKV genutzt werden, um jüngere Risikopatienten gezielt zur Impfung einzuladen. Wegen der zu vermutenden Vorlaufzeit wäre jetzt hierzu die Chance vorhanden, wenn erstmalig in dieser Pandemie eine mögliche Umsetzung planvoll vorbereitet würde.

Die Erfahrungen aus den letzten 12 Monaten lassen aber nicht wenige auf den morgigen Impfgipfel schauen, wie auf das Hornberger Schießen. Diese Redewendung wird gebraucht, wenn eine Angelegenheit mit großem Getöse angekündigt wird, aber dann nichts dabei herauskommt und sie ohne Ergebnis endet. Hoffentlich werden wir Lügen gestraft und die Experten- und Politikerrunde überrascht uns mit ehrlichen Aussagen und einem Konzept, welches seinen Namen verdient.

Ein Satiremagazin titelte angesichts des Impfstarts

„Zustimmung für Regierung unter Impfgegnern so hoch wie nie“

Richtig ist, dass unter anderem der Impfstoff von Johnson und Johnson kurz vor der Zulassung steht. Dieser bietet aber angeblich nur einen recht geringen Schutz bei der bereits nachgewiesenen Virusmutationen B1351 aus Südafrika. Der Schutz durch Impfung soll hier nur bei 50% liegen. Eine positive Entwicklung bei der Impfstoffproduktion ist die Nachricht, dass der Pharmakonzern Sanofi, der in der Vergangenheit eher dafür bekannt war, EU-Gelder zu verbrennen, nun die Produktion des Impfstoffes von Biontech unterstützen will.

Nun zu Ihrer Frage, warum ich die Performance im Kontext des Bevölkerungsschutzes innerhalb dieser Pandemie eher als unterdurchschnittlich betrachte.

Ende vergangenen Jahres hat der Berliner Thinktank „Zukunftsforum öffentliche Sicherheit“ sein „Grünbuch zur öffentlichen Sicherheit“ vorgestellt. Diese Gruppe ist ein Verbund von Fachleuten aus Katastrophenschutz, Sicherheitsbehörden, Politik, Verwaltung und Forschung. Albrecht Broemme, als prominentes Mitglied dieses Kreises beantwortete unlängst die Frage, ob die Bundesregierung und die Länder die richtigen Schlussfolgen aus einer Expertenanhörung zur Pandemiebewältigung gezogen hätten mit „nein, eher nicht.“ Diese Anhörung fand, wie wir alle wissen, bereits 2012 statt und die gleichen Experten haben ihre Empfehlungen zum Jahreswechsel 2019 / 2020 wiederholt.

Das Krisenmanagement von Politik und Behörden bewertet Broemme vor einiger Zeit wie folgt:

„Bei der Bekämpfung großer Schadenslagen geht es darum, schnell vom Getriebenen zum Handelnden zu werden. Bei Corona ist die Politik aber auch ein Dreivierteljahr nach den ersten Infektionsfällen in Deutschland noch immer zu sehr getrieben und agiert zu wenig strategisch. Natürlich entwickelt sich die Lage dynamisch. Aber es hätte viele Möglichkeiten gegeben, in den vergangenen Monaten strategische Optionen zu entwickeln und vorzubereiten.“

Zu den Impfvorbereitungen sagt Broemme:

„Die Impfungen sind ein riesiger Fortschritt für die Medizin und die Menschen. Aber es kann doch nicht sein, dass wir seit Monaten der Verfügbarkeit von Impfstoffen entgegenfiebern und dann muss ein Bundesland bei einem externen Dienstleister Adressen von Senioren kaufen, um die anzuschreiben. Die Daten liegen doch alle in den Meldeämtern. Und wenn sich da Probleme abzeichnen, dann kann man das bei vernünftiger Vorplanung früh genug technisch oder rechtlich regeln. Oder besser, man hätte es regeln können, wenn man strategisch vorgegangen wäre. Wir können von Glück reden, dass Covid-19 so ein vergleichsweise ungefährliches Virus ist.“

Laut Albrecht Broemme und vielen anderen Bevölkerungsschutzexperten, müssen die Spezialisten des Katastrophenschutzes sich noch deutlicher positionieren, um endlich Gehör zu finden. Ein Beispiel sind laut Broemme die bis zuletzt diskutierten Pläne, die Krankenhausdichte zu reduzieren, um Kosten zu optimieren. Der gesundheitliche Bevölkerungsschutz wurde dabei nicht mehr ausreichend berücksichtigt. Wie die Bevölkerung im Fall einer Pandemie versorgt werden könnte, hatte keine Relevanz, da wir bislang zu häufig Glück hatten und bei vorangegangenen Infektionsgeschehen immer mit einem blauen Auge davon gekommen sind.

Der Einsatz des Ruheständlers Broemme macht sehr deutlich, wie es um den Stellenwert des Katastrophenschutzes in Deutschland steht. In Ermangelung an Experten musste Herr Broemme seinen Ruhestand unterbrechen, damit in Berlin Notfallkrankenhäuser und Impfzentren planvoll errichtet werden können.

Sachsen plant ein Gesundheits-Notstandsgesetz.

Die SPD-Fraktion des Sächsischen Landtags stoppt das geplante Gesundheits-Notstandsgesetz, weil der Entwurf weder für das Kabinett noch für den Landtag beratungsreif erscheint. Davon abgesehen ist noch gar nicht klar, ob ein solches Gesetz angesichts ausreichender Regelungen des Gesetzes über den Brandschutz, Rettungsdienst und Katastrophenschutz (SächsBRKG) überhaupt notwendig ist.

Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, was derzeit vielerorts falsch läuft. Der zweite Schritt findet oft spontan und unter dem Druck der öffentlichen Stimmung statt, ohne zuvor die Basis für planvolles Handeln geschaffen zu haben.

Das Gesundheits-Notstandsgesetz (SächsGNG) soll den öffentlichen Einrichtungen wie beispielsweise den Landesdirektionen mehr Vollmachten zur Krisenbewältigung verschaffen. Es geht um besondere Befugnisse bei der Materialbeschaffung und Personalversorgung im Fall eines Gesundheitsnotstandes. Dieser Notstand selbst soll explizit durch die Landesregierung festgestellt werden können.

Was soll dieser Kappes? Bereits heute könnte der Katastrophenfall festgestellt werden und man hätte die gleiche Handlungsfähigkeit erreicht. In Sachsen und andernorts werden stetig neue Baustellen und Bypässe eröffnet, statt endlich die Hausaufgaben zu erledigen, die zur Versetzung in die nächst Klasse erforderlich sind.

Ohnehin scheint Sachsen aktuell ein hervorragendes Beispiel für das zu sein, was schief gehen kann, wenn man den Bevölkerungsschutz als notwendiges Übel behandelt, welches nebenbei halt in irgendeinem Ministerium mitverwaltet werden muss. Laut Medienberichten, denen in Sachsen bislang niemand widersprochen hat, sind vier in der Stabsarbeit erfahrene Kräfte in den Stäben des Freistaates eingesetzt, um die Folgen der Pandemie zu beherrschen.

Deren Einsatz reduziert sich aber wohl ausschließlich auf die Protokollführung dieser Stäbe. Ähnlich soll die personelle Ausstattung im zuständigen Fachressort des sächsischen IM sein, in dem fachfremde Mitarbeitende einen regelhaften Katastrophenschutz in Sachsen garantieren sollen. Ich gestehe, mich verwirrt das.

Der Behördenspiegel titelte in dieser Woche „Reformen im Bevölkerungsschutz gefordert“
Grund für den Beitrag waren Forderungen von Hilfsorganisationen aus Baden-Württemberg, die auch dort zu Recht eine verbesserte strategische Ausrichtung des Bevölkerungsschutzes fordern.

Ein gutes Beispiel dafür, wie schwer sich die Politik damit tut grundlegende Anforderungen an die Daseinsvorsorge regelhaft zu ordnen ist die frohe Nachricht, die in dieser Woche alle Notfallsanitäter aus dem Bundestag erreichte. Nach „nur“ sieben Jahren ist es gelungen, den Rettungsdienstmitarbeitenden Handlungs- und Rechtssicherheit bei der Ausübung ihres Berufes zu ermöglichen.

Bislang galt, dass Notfallsanitäter gegen den Heilkundevorbehalt verstoßen, wenn sie ohne ärztliche Anweisung heilkundliche Maßnahmen invasiver Art vornehmen. Im schlimmsten Fall können sie dafür strafrechtlich wegen Körperverletzung belangt werden. Umgekehrt können sie aber zugleich wegen unterlassener Hilfeleistung in Haftung genommen werden, wenn sie nichts unternehmen. Die Reform des Gesetzes der technischen Assistenzberufe, wird hier nun bald endlich für Abhilfe sorgen.

Diese wenigen Beispiele zeigen, wieso die bisherige Pandemiebewältigung eher holprig verlief und warum es bis heute dauerte, bis mit Schleswig-Holstein das erste Bundesland konkrete Vorschläge für einen zukünftigen Stufenplan unterbreitet, der sich an klar messbaren Zielen orientiert. Der Bevölkerungsschutz spielt bislang eine viel zu untergeordnete Rolle in der Bundesrepublik. Dies führt leider auch immer wieder zu einer nicht zielführenden Kommunikation und zunehmenden Unmut, der sich inzwischen auch in konkreter Übergriffigkeit äußert.

Ruhrbarone: Vielen Dank für diesen kurzen Überblick über offensichtlich erforderliche ToDo`s im Bevölkerungsschutz. Sie erwähnen den zunehmenden Unmut in der Bevölkerung. Welche Risiken sehen Experten hier?

Memmeler: In den vergangenen 42 Interviews haben wir hier auf die erforderliche klare Ansprache hingewiesen, um die Notwendigkeit von erforderlichen Schutzmaßnahmen zu vermitteln. Gleiches gilt, wie ebenfalls oft genug erwähnt, für die Ehrlichkeit bei der Darstellung einer Lage.

Die Berichte, die uns in den vergangen Tagen aus den Niederlanden erreicht haben, zeigen, was passieren kann, wenn die Akzeptanz schwindet und sich Minderheiten radikalisieren, die wir hier häufig als Querdenker abtun.

In der Bundesrepublik ist es noch nicht zu Zwischenfällen wie in England gekommen, wo Coronaleugner einen an Corona erkrankten Glaubensgenossen von der Intensivstation „befreien“ wollten. Sehr wohl wurden in Deutschland aber auch schon rechte Parolen an Impfzentren geschmiert und Hinweisschilder gestohlen, die auf Impfzentren hinweisen sollten.

Der Soziologe Oliver Nachtwey hat für eine Studie zur „Politischen Soziologie der Corona-Proteste“ Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Corona-Demonstrationen in Deutschland und der Schweiz befragt. Aus der Befragung ergab sich ein überraschendes und erschreckendes Ergebnis.

In der Studie konnte man erkennen, dass man zumindest in Deutschland sagen kann, dass es eine Bewegung ist, die zum Teil von links kommt, aber eher nach rechts geht. Was man zum Beispiel daran sehen kann, dass etwa 25 Prozent der Studienteilnehmer in Deutschland bei der nächsten Wahl die AfD wählen möchten. Charakteristisch für diese Bewegung ist ihre große Entfremdung vom traditionellen politischen System und der Wissenschaft. Diesen Schwenk macht sich die AFD aktuell zu Nutze und versucht die Querdenkerbewegung zu einem politischen Arm der eigenen Weltanschauung zu machen.

Besonders deutlich wurde dies in dieser Woche in Stuttgart, wo Michael Ballweg, Mitbegründer der Querdenkerszene, zur ersten größeren Protestveranstaltung in diesem Jahr aufrief. Die Veranstaltung wurde bewusst auf den 27. Januar terminiert. Damit beendete die „Querdenken“-Bewegung ihre Pause ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag. In einer Videobotschaft auf der Seite der Gruppe „Querdenken 711“ aus Stuttgart hatte er argumentiert, er wolle den Winter nutzen, um Kräfte zu sammeln. Welcher kranken Weltanschauung dieses Kräftesammeln dienen ´sollte, wissen wir nun.

Wenn wir diese kranken und sich immer weiter radikalisierenden Gruppen nicht weiter stärken und den Rest der Bevölkerung vom Erfolg notwendiger Maßnahmen überzeugen wollen, müssen Perspektiven geschaffen werden, die sich an klar messbaren Zielen orientieren. Zusätzlich müssen EU, Bundesregierung und Landespolitik damit aufhören, das eigene Versagen hinter einer breitgewalzten Diskussion über die Ursachen des Impfstoffmangels verstecken zu wollen, bei denen es immer wieder nur peinlichen Schuldzuweisungen kommt, die Vertrauen verbrauchen.

Nachdem es gelungen ist, eine relativ hohe Impfbereitschaft in der Gesellschaft zu erzeugen, dürfen wir nicht zulassen, dass die aktuelle Diskussion das Vertrauen in Politik und Impfstoffe gerade zu Grunde richtet. Ja, auch auf mich wirkt der #NRWkanndas auf dem Banner hinter Herrn Laumann eher komisch, wenn dieser erneut einen Impfstopp verkünden muss, weil geplante Lieferungen unterblieben sind. Würde man jetzt offen und ehrlich benennen, zu was wir in der Lage sind, statt schwammige Ankündigungen zu machen, wüsste die Bevölkerung, auf was wir uns in den kommenden Wochen und Monaten einstellen müssen.

Ehrlich sein und Expertenrat umsetzen

Was geht unserem Bundesgesundheitsminister durch die Birne, wenn er von zehn harten Wochen spricht, die nun vor uns liegen, um am nächsten Tag direkt zu verkünden, dass man sicher sei, bis zum Sommer jedem Bürger ein Impfangebot machen zu können? Auch Herr Spahn muss wissen, dass inzwischen jedem Bürger Tools im Internet zur Verfügung stehen, um den eigenen Impftermin berechnen zu können. Wenn wir eine zunehmende Radikalisierung vermeiden und Vertrauen erzeugen wollen, müssen wir, wie im vergangenen Interview sehr deutlich gefordert, schlicht ehrlich sein und Expertenrat umsetzen.

Ruhrbarone: Vielen Dank und bleiben Sie gesund.

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Robert Müser
Robert Müser
3 Jahre zuvor

Wieder vielen Dank von mir für diesen klaren Worte, die eine realistische Orientierung in schwierigen Zeiten liefern.

Memmeler
Memmeler
3 Jahre zuvor

Sehr gerne Herr Müser.

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