Das Verschwinden des Holocaust

Jan Gerber Foto: Edition Tiamat Lizenz: Copyright


Jan Gerber zeichnet in seinem Buch „Das Verschwinden des Holocaust“ die Erinnerungsgeschichte der Shoah nach.

Wir leben in einer Zeit, in der die Relativierung des Holocausts in immer größeren Teilen der Bevölkerung schon fast zum guten Ton gehört. Da sind natürlich die Rechten wie der AfD-Politiker Alexander Gauland, für die zwölf Jahre Naziherrschaft nicht mehr als ein Vogelschiss in der langen deutschen Geschichte sind. Doch auf den Straßen bestimmt ein antisemitischer Mob aus Muslimen und autoritären Linksradikalen das Bild, der „Free Palestine from German Guilt“ fordert, Gaza mit Auschwitz und die israelische Armee mit der SS vergleicht. Unterstützt wird dieses Milieu von postmodernen Geisteswissenschaftlern und irgendwelchen Künstlernden, für die Antisemitismus und Israelhass entweder die Mode der Saison sind oder die sich darüber freuen, ihren Judenhass endlich ausleben zu dürfen.

In seinem Buch „Das Verschwinden des Holocaust“ zeichnet Jan Gerber die Erinnerungsgeschichte der Shoah nach. Lange galt sie nicht als das Zentralereignis des Nationalsozialismus; selbst in Israel war der Holocaust unmittelbar nach seiner Gründung kaum ein Thema: „In den Fünfzigern, so schreibt der Historiker Tom Segev über den jüdischen Staat, »herrschte großes Schweigen über die Vernichtung der Juden«.“ Die Deutschen sahen sich als Opfer von Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg, der Ostblock hatte kein Interesse daran, eine Opfergruppe herauszuheben. Der Versuch, die Juden auszurotten, passte auch nicht in die Nachkriegszeit, die zugleich von der Angst vor der Atombombe und einem großen Fortschrittsoptimismus geprägt war. Auch viele Überlebende des Holocaust, zeigt Gerber, brauchten viele Jahre, um über ihre Erfahrungen zu schreiben: „Jean-François Steiner begann mit der Arbeit an Treblinka; der in Wien geborene Jean Améry berichtete im Januar 1964 einem Kollegen, dass er im Begriff stehe, ein »rekonstruiertes Auschwitz-Tagebuch zu schreiben«. Günther Anders fuhr im Juli 1966 in das ehemalige Vernichtungslager. Angesichts seines Aufenthalts an diesem Ort, an dem über eine Million Menschen ermordet worden waren, formulierte er Gedanken, die viele Überlebende des Holocaust teilten. Der Psychoanalytiker William G. Niederland bezeichnete sie etwa zur selben Zeit als »Überlebens-Schuld-Syndrom«. Auch das Nützlichste, das er im Exil getan hatte, so schrieb Anders, sei in Anbetracht dessen, was zur selben Zeit in Auschwitz geschah, unsinnig gewesen; auch das Schönste sei dadurch »ungültig und nicht dagewesen«.“

Die antikoloniale Linke hingegen brauchte nicht so lange, bis sie begann, den Holocaust zu instrumentalisieren: Folter in Algerien wurde NS-Verbrechen gleichgesetzt. Auch Anders folgte dem, wie Gerber schreibt: „Selbst im Bericht über seine Reise nach Auschwitz, der 1967 unter dem Namen Besuch im Hades erschien, bemühte er immer wieder Hiroshima, den Algerienkonflikt und den Vietnamkrieg als Vergleichsgrundlage: »Aber die entsetzlichste Reizüberflutung ist heute die moralische, dass wir gleichzeitig auf Hiroshima, auf Auschwitz, auf Algier, auf Vietnam reagieren müssen.« Alles wurde gemeinsam zum Ausdruck des Vernichtungspotenzials der arbeitsteiligen Moderne.“

In den 80er-Jahren nutzte Jacques Vergès, der Anwalt von Klaus Barbie, dem „Schlächter von Lyon“, den Prozess gegen den Naziverbrecher für eine Anklage des Westens und eine Relativierung des Holocausts: „Durch den Hinweis auf das Vorgehen in den ehemaligen Kolonien sollten nicht nur die Taten des »Schlächters von Lyon«, sondern die nationalsozialistischen Verbrechen insgesamt relativiert werden. So konterte Vergès die Aussage des Zeugen Elie Wiesel, der über die Deportation jüdischer Kinder berichtete, mit der Frage, wie es um die toten Kinder von Algier, My Lai, Sabra und Schatila bestellt sei. Auf die Ausführungen über das Tragen des Judensterns reagierte er mit den Worten, dass seine vietnamesische Mutter keinen Stern zur Markierung gebraucht habe: »Sie war von Kopf bis Fuß gelb.« Der Kolonialismus, so lautete dann auch Vergès’ Fazit, sei wesentlich schlimmer als der Nationalsozialismus gewesen.“

Das sehen auch viele Aktivisten und Unterstützer der antisemitischen BDS-Kampagne so, deren Ziel die Vernichtung Israels durch Wirtschaftsboykott und Isolierung ist. Sie wurde in den vergangenen Jahren auch in Deutschland wirkmächtiger, sorgte für Debatten im Umfeld der Ruhrtriennale und der Documenta 15. Die Auseinandersetzungen um die Präzedenzlosigkeit des Holocaust und das Verhältnis von Nationalsozialismus und Kolonialismus seien, schreibt Gerber, oft eng mit Diskussionen über die Politik Israels verbunden: „Hier findet spätestens seit dem Streit über die Einladung des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe, einen der Vordenker des Postkolonialismus, als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale 2020 eine Dauerdebatte statt. Mbembe, der wiederholt den Holocaust relativiert hat, steht der Israel-Boykottbewegung BDS nahe, die vom Bundestag als antisemitisch eingeschätzt wird. Durch die Documenta 15, wo judenfeindliche Propaganda zur Kunst aufgenordet werden sollte, und insbesondere durch den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 erhielt die Debatte eine neue Dynamik.“

Dem Postkolonialismus widmet Gerber ein ganzes Kapitel. Ausführlich geht er auf Edward Said und dessen Buch Orientalismus ein, das Gründungsmanifest der „Postcolonial Studies“, das 1978 erschien – im Jahr, in dem die Serie Holocaust dafür sorgte, die Massenvernichtung der Juden in einem bis dahin noch nie dagewesenen Maß wieder ins Bewusstsein zu rufen. „Sowohl die Obsessionen gegenüber Israel als auch die Abwehr der Erinnerung an den Holocaust wurden der postkolonialen Theorie schon in die Wiege gelegt.“ In Orientalismus versuche Said am Beispiel des Nahen Ostens zu zeigen, dass der westliche Blick auf diese Region stets von Dominanzbedürfnissen geprägt gewesen sei. Damit ihm das gelang, musste Said allerdings zahlreiche westliche Autoren ignorieren, deren Arbeit von echtem Interesse am Nahen Osten geprägt war – ein Vorgehen, an dem der Postkolonialismus bis heute festhält. Said ignorierte auch die Sympathien der Nazis für den Orient: „Mindestens einige der führenden Nazis, darunter der nicht ganz unbedeutende SS-Chef Heinrich Himmler, sahen im Orient jedoch weniger das »Andere«, wie es Said nahelegt, sondern glaubten, eine Geistesverwandtschaft zu erkennen. Auch darauf basierte das Bündnis zwischen dem »Dritten Reich«, arabischen Nationalisten und Präislamisten, das in den Dreißigern entstand.“

Die postkoloniale Theorie hat trotz oder vielleicht sogar wegen ihrer Schwächen an Bedeutung gewonnen. Die Hochschulen gehören zwar nicht zu den Hauptschauplätzen des postkolonialen Diskurses wie Kunst- und Kulturbetrieb, dennoch ist der Einfluss auch dort unübersehbar – bei Berufungen, in Forschungsprogrammen und in theoretischen Debatten. Spätestens seit dem 7. Oktober wurden sie, neben Plattformen wie TikTok, Instagram oder X, zu wichtigen Austragungsorten des Konflikts.

Dabei geht es nicht nur um die Forschung, sondern auch um die Lehre. Eine Untersuchung der Freien Universität Berlin stellte bereits 2018 fest, dass es an deutschen Hochschulen nur selten ein kontinuierliches und grundlegendes Lehrangebot zur Vernichtung der europäischen Juden gibt. Seitdem hat sich die Lage eher verschärft: Mehrere geschichtswissenschaftliche Institute boten in den vergangenen Jahren keine einzige Lehrveranstaltung zum Holocaust an – zumindest bis zum 7. Oktober. Ganze Jahrgänge angehender Geschichtslehrer konnten so ihre Ausbildung absolvieren, ohne je ein Seminar zu diesem zentralen Thema besucht zu haben.

Und so droht der Holocaust als Thema wieder aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt zu werden – und das von den Anhängern der Studies, die Israel, Juden, den Westen und die Demokratie hassen und verachten, aber selbstverständlich erwarten, mit Steuergeldern durchgefüttert zu werden.

Ein weiteres empfehlenswertes Buch aus der Edition Tiamat.

Jan Gerber: Das Verschwinden des Holocaust: Zum Wandel der Erinnerung
Edition Tiamat, 28 Euro

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mike_mh
mike_mh
2 Monate zuvor

In einer multikulturelle Gesellschaft, in dem sehr viele Menschen nix mit dem Holocaust entweder anfangen können oder ihn gar positiv Gegenüberstehen ist dann kein Platz für eine „deutsche“ Erinnerungskultur mehr. Ich finde das selbst sehr bedauerlich, aber man ist ja am Ende selbst daran Schuld. Zum einen werden durch das Umherwerfen von Begriffen wie Nazi und Fascho für jeden, der nicht seiner Meinung ist, diese Worte und die dahinterstehenden Ideologie verwässert und mit einem Schleier der Verdunkelung und des Vergessens überzogen. Und zum anderen hat man durch die ungeregelte Migration ausgerechnet die Menschen ins Land geholt, die bezüglich der Israel Thematik leider Israel und Juden generell Feindselig eingestellt sind. Nur weil die nun in Deutschland leben, wird man nicht automatisch Mitglied einer Erinnerungskultur. Und zum dritten ist die Erinnerungskultur des Holocaust auf dessen Singuläritat, der fabrikmäßigen Vernichtung des Lebens, eine Merkmal, welches nun verblasst, wenn es je in der breiten Erinnerungskultur angekommen ist.

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