Die wahre Dimension des russischen Angriffskrieges

Cherson im Mai 2023 Foto: National Police of Ukraine Lizenz: CC BY 4.0


Der bekannte ukrainische Philosoph, Essayist und Journalist Wolodymyr Jermolenko gab vor kurzem dem tschechischen Medienunternehmen Seznam Zpravy ein Interview. W. Jermolenko wurde 1980 in Kiew geboren, studierte in Kiew und Paris. Er ist Chefredakteur des Projektes ukraineworld.org, Verfasser mehrerer Bücher über Politik, Kultur und Geschichte und seit 2022 Präsident des Ukrainischen PEN – Clubs. 

W. Jermolenko befürchtet und warnt, dass Europa immer noch nicht die wahre Dimension des Krieges für die Zukunft der Welt begriffen hat. „Es geht nicht um ein Territorium, sondern um die Zukunft der Welt. Und wenn Europa nicht aufwacht, könnte es zu spät sein.“ Zu bedauern sei, dass Europa immer noch nicht konsequent mit einer Stimme spricht. „Ich habe den Eindruck“, sagt W. Jermolenko im Interview, „dass ein Teil der europäischen Öffentlichkeit immer noch denkt, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist, weil es ein bestimmtes Territorium beansprucht oder die russischsprachige Bevölkerung schützen will. Aber das ist nur Propaganda.“  Inzwischen scheint aber ein Erweckungsprozess im Gange zu sein.

Die meisten politischen und militärischen Eliten im Westen haben endlich verstanden, dass es bei diesem russischen Angriffskrieg nicht nur um einen Krieg gegen die Ukraine geht. Es ist ein Krieg um die Gestaltung der Welt im 21. Jahrhundert. Russland strebt nicht nur nach neuen Territorien, die es sich einverleiben könnte. Erklärtes Ziel der putinschen Politik ist die Reimperialisierung der Welt, die Rückkehr der alten Imperien. Russland betrachtet die Welt als einen Raum der zwischen drei Mächten aufzuteilen ist: USA, Russland und China. Im Rahmen dieses Konzeptes wird Europa wieder geteilt werden. Der östliche Teil wird von Russland dominiert, der westliche von Amerika. Für die Europäische Union ist in diesem Szenario kein Platz mehr übrig.
Im heutigen Europa wird schon der Begriff „Macht“ oft mit Gewalt gleichgesetzt, als ob „Macht“ zwangsläufig Brutalität bedeutet. Aber das stimmt so nicht. „Macht“ kann Autorität und Verantwortung sein. Und das ist diese Kraft, nicht die Gewalt, die Europa wieder entdecken muss.“ Deshalb sage ich, die Ohnmacht der Mächtigen muss beendet werden.“
Wolodymyr Jermalenko ist äußerst skeptisch, dass die laufenden Verhandlungen mit Putin zu einem greifbaren Erfolg führen könnten. Putin ist an keinem Kompromiss interessiert. Sein System funktioniert nur bei der Fortführung des Krieges und der Expansion. Jeder Frieden, der seine Ziele in der Ukraine nicht erreicht, das heißt Regimewechsel in Kiew, Entwaffnung und Neutralisierung der Ukraine, würde für Putin eine Niederlage bedeuten. Der Krieg wird also weitergehen.
Und irgendwann wird auch D. Trump feststellen, dass ein Deal mit Putin unmöglich ist. Erst dann könnte es eine Wende geben.  Trump müsste die Ukraine militärisch stärker und energischer unterstützen als sein Vorgänger J. Biden. Nur eine klare Position der  Stärke kann Putin zu Verhandlungen und greifbaren Kompromissen zwingen.
Europa muss, so schnell wie möglich, die Lehre aus der Entwicklung der letzten Monate ziehen. „Amerika verliert das Interesse an Europa, egal ob Trump oder jemand anderer an der Macht ist. Europa ist, geopolitisch betrachtet, einsam.“
Nach Putins Tod wird es wahrscheinlich in Russland eine Periode der Instabilität und des Kampfes um die Macht geben. Solche geschichtlichen Umbrüche hat Russland in der Vergangenheit öfter erlebt. Im 17. Jahrhundert, 1917 oder in den 1990er Jahren. Ob sich nach einer Stabilisierung der Machtverhältnisse  dann eine neue Chance für die Ukraine  eröffnen würde, bleibt aus heutiger Sicht völlig offen.
Eine Demokratisierung Russlands scheint im Moment in weiter Ferne zu liegen. Es bietet sich keine alternative Vision zu Putins Politik an, es existiert keine starke Strömung im Land, die sich klar gegen die imperialistische Denkweise positioniert. Selbst unter den vielen Regimegegnern beobachten wir keine laute Ablehnung des imperialen Erbes. Eine starke Stimme der Entimperialisierung geht seit Jahren von dem ehemaligen Schachweltmeister Garry Kasparov aus, der in der Emigration lebt.
Die Lage an der Front in der Ukraine verschlechtert sich. Russland intensiviert die nächtlichen Terrorangriffe mit Drohnen und Raketen gegen die Zivilbevölkerung. „Was wir jetzt brauchen, ist eine schnelle und effektive Rüstungsproduktion, zum Beispiel in Polen, Tschechien, Litauen oder auch in der Westukraine. Und zwar unter europäischem Schutz, mit einem klaren Bezug zur ukrainischen Armee. Die Zeit wird knapp.“

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