Die Welt ist verrückt geworden – oder etwa doch nicht?

Erinnerung an die israelischen Geiseln Foto: Till Oliver Becker


Vier Beispiele dafür, dass alles seinen erklärbaren Gang geht. Von unserem Gastautor Till Oliver Becker.

Die Welt wirkt, als sei sie aus den Fugen geraten: Verbündete werden zu Risikofaktoren, Opfer zu Tätern, Demokratien zu Diktaturen, und gescheiterte Ideologien feiern fröhliche Comebacks. Wer Nachrichten verfolgt, könnte meinen, das alles sei überraschend, chaotisch, gar „verrückt“. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich: All das ist nicht nur erklärbar, sondern geradezu folgerichtig. Die Mechanismen hinter diesen Entwicklungen sind weder neu noch geheimnisvoll – wir wollten sie nur lange nicht sehen. Aus Bequemlichkeit, und weil wir nicht verstehen, dass die Welt sich verändert, sich immer verändert hat. Nichts ist für die Ewigkeit.

Vielleicht ist die größere Verrücktheit deshalb nicht die Welt, sondern unsere naive Erwartung, dass ein Status quo für immer halten könnte und unser eigenes Empfinden das richtige sein muss. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf lohnt es, auf einige der drängendsten Beispiele unserer Zeit zu blicken: die USA, Israel, Russland und den seltsamen Charme des Sozialismus.

  1. USA – Vom verlässlichen Alliierten zum unkalkulierbaren Risiko
    Früher nannte man die Vereinigten Staaten „die Führungsmacht der freien Welt“. Für Europa waren sie jahrzehntelang militärischer Schutzschild, wirtschaftlicher Motor und moralischer Kompass. Heute wirken sie eher wie eine launische Supermacht, deren innenpolitische Neurosen sich auf die ganze Welt auswirken. Der verlässliche Alliierte ist zu einem Risiko geworden – nicht, weil die USA schwach wären, sondern weil sie unberechenbar geworden sind. Aber: Sind sie das wirklich?

Die Amerikaner haben stets offen ausgesprochen, was Europa nicht hören wollte: dass es endlich „erwachsen werden“ müsse, auch selbst für seine Verteidigung zu sorgen habe. Jahrzehntelang haben die USA mit enormen Mitteln den Schutz Europas garantiert, während Europa gemütlich abrüstete und die Mahnungen aus Washington wegbelächelte. Es war zu erwarten, dass irgendwann eine Generation auftaucht, die das kritisch sieht.

Und wie recht die Amerikaner hatten, zeigt sich spätestens seit Putins unverhohlenem Überfall auf die Ukraine: Europa wurde verteidigungstechnisch mit heruntergelassenen Hosen erwischt – und auch politisch konzeptlos, weil man partout nicht glauben wollte, dass Putin, der „lupenreine Demokrat“, wirklich Krieg führen könnte. Dabei sprach alles dafür: Schon Jahre zuvor hatte er die Ukraine destabilisiert, mit der Annexion der Krim und dem Schattenkrieg im Osten des Nachbarn Fakten geschaffen. Der Westen hingegen ließ ihm alles durchgehen, ignorierte warnende Stimmen aus Osteuropa und besonders aus der Ukraine selbst – und schlief weiter. Selbst heute wollen viele noch nicht wahrhaben, was längst offensichtlich ist.

Dass die USA irgendwann zu einem „America first“ kommen würden, war absehbar. Ja, Donald Trump ist ein Idiot. Aber die Kräfte hinter ihm, die ihn tragen und lenken, sind es nicht. Sie wissen sehr genau, was sie tun und wo sie amerikanische Interessen vermuten. Ob das gut für „die Welt“ ist, steht auf einem anderen Blatt.

Fakt ist: Wir Europäer haben uns jahrzehntelang auf die USA verlassen, unsere eigenen Hausaufgaben vernachlässigt und uns in der Rolle des moralisch Überlegenen gefallen, während wir auf Kosten anderer lebten. Dass sich in den USA irgendwann der Ärger über diese europäischen „Parasiten“ entladen würde, war nicht nur vorhersehbar – es war unausweichlich.

  1. Israel – Vom Angegriffenen zum Angreifer?
    Israel wird gern als Aggressor dargestellt. Als Staat, der angeblich einen „Genozid“ in Gaza verübt, der skrupellos zuschlägt und keinen Frieden will. Doch das Bild hält einer ehrlichen Prüfung nicht stand. Es ist das Produkt von Propaganda, von jahrzehntelangen Lügen, auf die der Mensch immer wieder gern hereinfällt – so wie viele auch Putins Märchen glauben.

Tatsächlich hat Israel über Jahrzehnte hinweg vor allem eines getan: sich verteidigt. Immer wieder hat es Land abgegeben, Konzessionen gemacht, um des Friedens willen. Gaza ist das beste Beispiel: Israel hat sich vollständig zurückgezogen, die jüdischen Siedlungen geräumt, die Kontrolle übergeben. Doch statt etwas aus der überlassenen Infrastruktur zu machen, hat die Hamas das Gebiet in eine Abschussrampe für Terror verwandelt. Raketen statt Schulen, Tunnel statt Straßen. Israel hatte genau hiervor gewarnt, wurde aber besonders von den Europäern zur Gaza-Überlassung gedrängt. Es ist wie so oft das gleiche Schema: Wir Europäer wissen es besser als die tatsächlich Betroffenen und verschlimmern mit unserer Naivität nur die Situation. Und hinterher? Sind nicht wir schuld, weil wir Offensichtliches nicht sehen wollten. Schuld ist der Leidtragende – so wie hier Israel.

Der 7. Oktober 2023 markierte den Höhepunkt dieser Entwicklung des Ignorierens. Ein barbarisches Massaker an Zivilisten, wie es die Welt seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte – und das gezeigt hat, wie tief der Hass islamistischer Radikaler reicht. Israel hat darauf reagiert: hart, entschlossen, kompromisslos. Und das zu Recht. Nie wieder ist jetzt. Es reicht einfach.

Manche wundern sich, dass Israel „plötzlich“ hart zurückschlägt. Doch das ist kein Bruch, sondern die logische Konsequenz aus viel zu langem Stillhalten, aus Nachgiebigkeit, die nur als Schwäche interpretiert wurde. Auch das jüngste Eingreifen in Syrien ist vor diesem Hintergrund zu sehen: Israel schützt dort nicht zuletzt die Drusen vor der Vernichtung durch islamistische Milizen. Wegsehen, wie der Rest der Welt, war hier keine Option – und die Unterstützung durch die Kurden zeigt, dass Israels Rolle in der Region differenzierter ist, als es viele westliche Kommentatoren in ihren Wohlfühl-Habitaten wahrhaben wollen.

Auch die gern beschworene „Zwei-Staaten-Lösung“ ist längst Realität. Die beiden Staaten heißen Israel und Jordanien. Wie oft soll Israel sich noch teilen? Rundherum um Israel gibt es viel freies Land zum Besiedeln. Judenfrei, weil hier tatsächlich ethnische Säuberungen stattgefunden haben.

Besonders beschämend ist die Reaktion aus Deutschland. Statt die Realität anzuerkennen, belehrt man Israel, ruft zur „Mäßigung“ auf und liefert wohlfeile Phrasen. Der neue Außenminister Johann Wadephul gibt sich zwar christdemokratisch, doch unter dem Maßanzug steckt dieselbe moralische Selbstgefälligkeit, wie man sie von Annalena Baerbock kannte. Und auch die Richtung ist keine andere: gegen Israel. Nicht nur deshalb ist dieser Minister eine Fehlbesetzung.

Israel verteidigt nicht nur sich selbst – es verteidigt das Recht auf Existenz in einer Region, die ihm das immer wieder abspricht. Wer das nicht sehen will, fällt weniger auf Propaganda herein als auf den eigenen Hochmut. Dass bei vielen auch noch eine gehörige Portion irrationaler Hass auf Juden mit reinspielt, kommt noch dazu.

  1. Russland – Der Traum von Demokratie ist ausgeträumt, der böse Ivan ist wieder da
    Es fällt mir schwer, diese Zeilen zu schreiben. Ich bin eigentlich russophil. Ich spreche Russisch, war mehrfach in Russland, habe dort Freunde, deren Gastfreundschaft, Herzlichkeit und Kultur ich sehr schätze. Russland hat eine Tiefe, eine Seele, die mich immer fasziniert hat. Umso mehr schmerzt es zu sehen, was aus diesem Land geworden ist.

Der Traum von einem demokratischen Russland, der Anfang der 1990er wie eine zarte Knospe aufbrach, ist längst verwelkt. Was geblieben ist, ist ein autoritärer Staat, der seinen Bürgern die Freiheit raubt, die Opposition vernichtet und die Nachbarn mit Krieg überzieht.

Putin hat es verstanden, die Sehnsucht der Russen nach Stabilität, Größe und Stolz für seine Zwecke zu nutzen. Er gab dem Volk etwas zurück, was in den chaotischen 1990ern verloren gegangen war: Ordnung, Souveränität, das Gefühl von Bedeutung. Dafür waren viele bereit, ihre Freiheit zu opfern.

Doch dass Russland in diese Barbarei zurückfallen würde, ist bei genauerem Hinsehen alles andere als überraschend. Das Land hat keine stabile demokratische Tradition, die über mehr als ein kurzes Jahrzehnt gereicht hätte. Die autoritären Reflexe sind tief verankert: erst der Zar, dann Stalin, die KPdSU-Generalsekretäre, jetzt Putin. Auch in den 1990ern war die „Demokratie“ für viele Russen nicht mehr als ein Chaos aus Armut, Oligarchen und Demütigungen. In dieser Erinnerung wirkt die eiserne Faust für viele verlockender als die offene Hand.

Der Westen hat diesen Rückfall lange unterschätzt, ignoriert, schöngeredet. Und auch ich habe zu lange gehofft, dass Russland den Weg zurückfindet. Aber im Nachhinein muss man sagen: Es war nicht nur absehbar, es war wohl unvermeidlich.

  1. Sozialismus – Gleichheit in Armut
    Der Sozialismus und seine Untergattungen üben auf viele Menschen bis heute eine seltsame Faszination aus. Immer wieder taucht die Idee auf, immer wieder wird sie begeistert verteidigt, immer wieder scheitert sie – und trotzdem hört man: „Diesmal machen wir’s besser.“ Dabei steht das Ergebnis von Anfang an fest: Gleichheit in Armut, für fast alle.

Trotz seiner bitteren Bilanz feiert der Sozialismus immer wieder fröhliche Auferstehung, weil er tief menschliche Sehnsüchte anspricht. Er verspricht Gerechtigkeit, Solidarität und eine heile Welt ohne Armut und Ungleichheit – Werte, die auf den ersten Blick edel und richtig erscheinen. Viele sehen darin das Heilmittel gegen die realen Schattenseiten des Kapitalismus und übersehen dabei, dass der Preis dafür immer Freiheit, Wohlstand und Eigenverantwortung ist. Hinzu kommt der Glaube, es diesmal „richtig“ machen zu können: Die Schuld wird dem falschen Personal oder widrigen Umständen zugeschoben, nicht dem System selbst. Zudem verblassen die Erfahrungen vergangener sozialistischer Experimente mit jeder Generation; die Schrecken werden vergessen, die Utopie bleibt. So wirkt der Sozialismus weniger wie ein nüchternes Konzept, sondern wie ein romantischer Traum von einer besseren Welt – und genau dieser Traum macht ihn so verführerisch. Und, wer träumt nicht gern von einer besseren Welt? Weil es zutiefst menschlich ist, sich einfache, mühelose Lösungen und immerwährende Glückseligkeit zu wünschen, kommen der Sozialismus und seine Spielarten nach einigen Jahren auch immer wieder zurück. Egal, wie oft das Konzept sich als untauglich erweist.

Der Sozialismus verspricht viel: soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität, Planbarkeit. Doch was er in der Praxis liefert, ist immer dasselbe: Unterdrückung individueller Freiheit, Verarmung der Gesellschaft, Zementierung einer neuen, privilegierten Klasse – die Funktionäre.

Die DDR ist dafür ein Paradebeispiel: ein Land, das sich selbst für einen Arbeiter- und Bauernstaat hielt, in Wirklichkeit aber eine Diktatur war, in der Menschen an Stacheldraht und Minenfeldern starben, nur um dem Mangel und der Unterdrückung zu entkommen.

Venezuela zeigt, dass es auch heute nicht anders läuft. Einst eines der reichsten Länder Südamerikas, hat der sozialistische Umbau das Land in eine humanitäre Katastrophe gestürzt: Inflation, Hunger, Flucht. Und doch gibt es immer wieder Apologeten, die erklären, es sei ja nur „falsch umgesetzt“ worden.

Und die „Neue Linke“? Sie träumt von denselben Ideen unter neuen Etiketten: Enteignung, „gerechte Verteilung“, „solidarische Wirtschaft“. Es klingt modern und moralisch, aber es ist nur die alte Leier, diesmal jedoch mit Instagram-Filter.

Der Sozialismus ist wie eine schlechte Beziehung: Er enttäuscht immer wieder, und trotzdem glauben viele, dass er beim nächsten Mal der große Wurf wird. Dabei bleibt er, was er immer war: Gleichheit in Armut – für die einen. Und Privilegien für die anderen.

Nicht verrückt – nur folgerichtig
Auf den ersten Blick wirkt diese Welt verrückt. Die USA, einst Garant der Ordnung, wirken wie ein Risiko. Israel, lange Ziel des Hasses, schlägt hart zurück und wird dämonisiert. Russland, einst Hoffnungsträger der Demokratie und damit des Friedens, fällt zurück in alte Barbarei. Und der Sozialismus, vielfach gescheitert, steht wieder auf dem Wahlzettel.

Doch wer genau hinsieht, merkt: Das ist alles nicht überraschend. Es ist keine Kapriole des Schicksals, keine Laune der Geschichte – es ist die logische Folge dessen, was Menschen tun, was sie glauben, was sie verdrängen. Wer diese Welt verstehen will, muss die Menschen verstehen. Sie sehen, wie sie sind – nicht, wie sie sein sollten oder könnten.

Die Welt ist nicht verrückt geworden. Sie folgt ihren Mustern. Verrückt ist nur, dass wir das immer wieder vergessen.

 

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