„Heutige Standards“ und der Karneval von Aalst

Judensau an der Stadtkirche Wittenberg Foto:Posi66 Lizenz: CC BY-SA 4.0

 Von unserer Gastautorin Anastasia Iosseliani

Geehrte LeserInnen!
Dieser Tage las ich ein Interview auf der Website des «Deutschlandfunk» mit dem
Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann, der der Meinung ist, dass man die «Judensau» zu
Wittenberg weiterhin im Kirchenrelief lassen soll, als Denkmal, dass der «heutige Standard»
keine Selbstverständlichkeit ist und weil man als Jude mit den «Spannungen leben» lernen
muss. Herr Kaufmann meint wohl, dass es uns Juden im Vergleich zu damals gut geht. Nun
ja, dazu muss ich sagen, dass es uns Juden im Vergleich zu damals besser geht, allerdings ist
der Vergleich etwas schief, wenn man das 21. Jahrhundert mit dem 15/16 Jahrhundert
vergleichen will, einer Zeit, in der Menschen wegen Ketzerei und Häresie umgebracht wurden
und Pogrome Alltag waren, denn selbst heute noch wächst und gedeiht der Antisemitismus
und der «heutige Standard» ist alles andere als berauschend, wenn man jüdisch ist. Wie zum
Beispiel Attentate wie die Halle und Toulouse bewiesen haben, als ein rechtsextremer
beziehungsweise islamistischer Attentäter unsere Kinder in einer jüdischen Schule respektive
uns Juden beim Gebet am heiligsten Tag im jüdischen Kalender ermorden wollte. Noch
immer müssen Synagogen und andere jüdische Einrichtungen wie Schulen, mitten in Europa
rund um die Uhr bewacht werden wegen Antisemiten, die uns Juden, aus ihrem ureigenen
Wahn heraus, meucheln wollen.

Aber der Antisemitismus dieser Tage beschränkt sich nicht nur aufs Judenmeucheln. Nein,
manche Antisemiten wollen Juden primär demütigen, wie die Karnevalisten in der belgischen
Stadt Aalst, die deshalb berühmt-berüchtigt wurde, weil schon letztes Jahr zum Karneval ein
Karnevalswagen mit antisemitischen Stereotypen, sprich Juden mit Hakennasen, die auf
Geldsäcken sitzen, gestaltet wurde. Diese Karnevalisten wollen dies wieder machen und
bekommen dafür moralische Unterstützung vom Bürgermeister von Aalst, der von
«künstlerischer Freiheit» fabuliert und uns Juden auffordert, wie viele andere Nicht-Juden, es
mit Humor zu nehmen. Schliesslich sei halt Karneval/Fastnacht/Fasching und das gehöre zu
den europäischen Traditionen. Wissen Sie, was auch europäische Traditionen gewesen sind?
Das Verbrennen von vermeintlichen Ketzern und Hexen auf dem Scheiterhaufen und
Osterpogrome, d.h. Pogrome zu Osterzeit, weil die lieben christlichen Mitbürger von den
Kirchen aufgehetzt ihr Mütchen an uns Juden kühlen wollten, wegen dem vermeintlichen
Deizid von Jesus durch uns Juden. Ich hoffe doch sehr, dass kein vernunftbegabter Mensch
diese Traditionen vermisst oder insgeheim hofft, diese Traditionen wiederbeleben zu können.
Was das antisemitische Relief der Kirche in Wittenberg angeht, so bleibe ich bei meiner
Meinung: Das Ding gehört in ein Museum, denn in einer Welt in der Antisemitismus wächst
und gedeiht wie Unkraut, braucht es weniger öffentlich zur Schau gestellte antisemitische
Propaganda. Weil antisemitische Propaganda gefährlich ist und weil die Verbreitung von
rassistischen und antisemitischen Stereotypen ihre Wirkung zeigen.
Mir wurde zum Beispiel oft von Nicht-Juden attestiert, eine "jüdische Nase" zu haben.

Weil der heutige Standard, der Status quo, aus jüdischer Sicht ungenügend ist und weiterhin eine Vogel-Strauss-Politik in Bezug auf Antisemitismus nicht zielführend ist. Denn wenn man
weiterhin Antisemitismus ignoriert, wird es für uns Juden irgendwann zu gefährlich, hier zu
leben. Des Weiteren sagt eine Zurschaustellung von antisemitischer Propaganda wie in Wittenberg und Aalst uns Juden auch das Folgende: «Wir haben euch Juden schon mal
gedemütigt und ermordet, wir können das wieder tun.» Darum ist es wichtig, dass man
Antisemitismus effektiv bekämpft und sowohl von Symbolpolitik ablässt, als auch keine
Relativierung antisemitischer Propaganda und antisemitischer Taten betreibt. Das sage ich
nicht aus Panikmache, sondern weil es mich die Geschichte gelehrt hat.

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
7 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Werntreu Golmeran
Werntreu Golmeran
4 Jahre zuvor

Es ist verständlich, daß man sich durch solch eine Darstellung verletzt fühlt.

Ich habe auch Verständnis für unsere muslimischen Mitbürger, die es befremdlich finden, dass in Deutschland einige Krankenwagen von Kreuzritterorden wie den Maltesern oder den Johannitern betrieben werden.

Sicherlich gibt es auch noch etliche Darstellungen in und an Kirchen, in denen die Kreuzzüge verherrlicht werden. Sollen die auch alle geschliffen werden?

Nina
Nina
4 Jahre zuvor

Ich weiss gar nicht, was ich von der Entscheidung in Wittenberg halten soll. Wer der Logik des Richters folgt, kann zurecht fragen, warum es nicht hier und da ein paar Hakenkreuze mehr gibt. Warum man verfassungsfeindliche Symbole nicht an den Stellen in der Öffentlichkeit zeigen darf, wo sie in einem Kontext eingebettet sind der sich klar distanziert, sei es eine Gedenktafel, ein Hinweis etc.

discipulussenecae
discipulussenecae
4 Jahre zuvor

Aalst liegt bekanntlich in Belgien, und Deutschland sollte sich nicht anmaßen, den Belgiern ihre Karnevalswagen vorzuschreiben. Ebensowenig kritisiert Deutschland den offenen Antisemitismus etwa in der Türkei oder den "Palästinenser"-Gebieten.

Zudem gibt es ähnliche Darstellungen einer "Judensau" nicht nur in Deutschland:
https://de.wikipedia.org/wiki/Judensau
Unterhalb des umstrittenen Reliefs in Wittenberg wurde an der Stadtkirche eine Gedenkplatte angebracht, die dieses in seinen historischen Zusammenhang einordnet und an die fürchterlichen Folgen des Judenhasses bis hin zur Shoah erinnert:
https://de.wikipedia.org/wiki/Stadtkirche_Lutherstadt_Wittenberg

Es bleibt aber grundsätzlich zu fragen, ob historische Orte, Gebäude, Denkmäler etc. dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend vernichtet oder erhalten werden sollen. Die Nazis und die DDR haben nämlich genau das gemacht und dabei wertvolle Kulturgüter unwiderbringlich zerstört. Deutschland hat eine zerrissene und zu oft nicht besonders glorreiche Geschichte. Aber alle Erinnerungen an diese Zeiten auszumerzen hieße auch, diese Geschichte gegen ihre Abgründe glattzubügeln. Von daher halte ich auch den Erhalt des Reliefs einer "Judensau" an seinem historischen Ort mit einer einordnenden Erläuterung für völlig richtig, um die deutsche Geschichte eben nicht ins Museum zu verlagern und damit einzuschläfern.

Aber ich frage mich, wie ein Text, der so extrem schlecht geschrieben ist, bei dem die persönliche Betroffenheit mehr zählt als das Argument, und der graphisch katastrophal umgesetzt wurde, seinen Weg in die RUHRBARONE finden konnte.

Thomas
Thomas
4 Jahre zuvor

Das Relief müsste meiner Meinung nach deutlich sichtbarer sein. Die Leute müssen wissen was Luther war, ein erbärmlicher Antisemit!

Jupp Schmitz
Jupp Schmitz
4 Jahre zuvor

Ich denke, ein deutscher Theologe kann am besten entscheiden, was einen Juden stört.
Vielleicht sollte man die Hakenkreuze auch wieder aufhängen, dann wissen Juden noch besser, wie gut es ihnen – abgesehen von Halle, Neukölln, Antiimps, Heiko Maas, Björn Höcke – in Deutschland heute geht.

nussknacker56
nussknacker56
4 Jahre zuvor

#1

Werntreu Golmeran,
immer wenn es in irgendeiner Form gegen Juden/Israel geht, findet man Sie ganz vorne. So auch hier. Sie benutzen dabei eine Taktik, wie ich sie von rechts außen kenne. Zuerst vordergründig zu einem Detail Zustimmung heucheln (Es ist verständlich …), um dann umso heftiger das eigene Weltbild zum Besten zu geben.

Die Autorin hat auch auf das Beispiel Aalst verwiesen. Hier werden seit Jahren vulgärste Karnevalswagen geduldet, Hakennasen-Karikaturen, ein „Eisenbahnwaggon“ mit SS-Runen, begleitet von „SS-Offizieren“ in schwarzen Mänteln, „Zyklon-B-Dosen“ und dergleichen. Nie gehört und nie gesehen? Glaube ich Ihnen sofort.

https://www.youtube.com/watch?time_continue=177&v=c1S-1For0ww&feature=emb_logo

Nur noch interessehalber, Sie sind doch Sozialdemokrat?

David
David
4 Jahre zuvor

@ nussknacker56

es wäre ein Geschenk, wenn Sie aufhörten, bei den Ruhrbaronen zu kommentieren.

Werbung