Industriestandort NRW: Das Protokoll des Grauens

Chemiepark Marl  Foto: Nordenfan Lizenz: CC BY-SA 4.0

Am 2. Dezember tagte der „Ausschuss für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie“ des nordrhein-westfälischen Landtags. Auf Antrag der SPD fand eine Anhörung zum Thema „NRW muss funktionieren – die Chemieregion Europas stärken, Standortbedingungen verbessern, Wohlstand der Zukunft schaffen“ statt. Unternehmensvertreter, Wissenschaftler und Gewerkschafter stellten sich den Fragen der Landtagsabgeordneten. Wer wissen will, wie es um den Chemiestandort Nordrhein-Westfalen und damit um die Lage der Industrie bestellt ist, sollte das Protokoll der Anhörung lesen. Wir haben an dieser Stelle die wichtigsten und prägnantesten Aussagen zusammengefasst:

 

„In dieser Phase tritt besonders deutlich hervor, dass wir in Deutschland und in Europa erhebliche Wettbewerbsnachteile mit Blick auf Rohstoff- und Energiekosten haben. Aufgrund dieser Analyse bin ich der Meinung, dass die Ursache bzw. der Startpunkt dieser Krise eben nicht in den Klimakosten liegt. Die durch das EU-ETS hervorgerufenen Kosten sind trotzdem eine zusätzliche Belastung und werden aufgrund der Mechanik des Emissionshandelsgesetzes auch noch weiter steigen und dazu beitragen, dass die Wettbewerbsfähigkeit weiter abnimmt.“
Dr. Christoph Sievering (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie)

 

„In den 30 Jahren meiner Tätigkeit in der chemischen Industrie habe ich so etwas noch nicht erlebt. Es ist dramatisch: über drei Jahre der Stagnation. Seit dem Vorkrisenjahr 2018 haben wir 20 % der Produktionsmengen verloren. Die Anlagen sind im Durchschnitt nur noch zu 70 % ausgelastet. Das liegt weit unterhalb jeder Rentabilitätsschwelle. In vielen Teilen der chemischen Industrie in Deutschland und NRW haben wir die Wettbewerbsfähigkeit leider verloren. Woran liegt das? Die externen Faktoren sind teilweise schon angesprochen worden. Wir haben aber auch massive strukturelle Schwächen, und das ist – es klingt komisch – eine gute Botschaft, weil wir selbst versuchen können, diese in die Hand zu nehmen und zu verändern. Im Wesentlichen beklagen unsere Mitglieder die vielen bestehenden Regulierungen sowie diejenigen, die auf uns zuzukommen drohen und für uns zu massiven Kostennachteilen im Bereich ‚Energie‘ sowie bei den Arbeitssteuern und Abgaben führen.“
Prof. Dr. Winfried Golla (Verband der Chemischen Industrie, Landesverband Nordrhein-Westfalen)

 

„Wir haben hierzu eine Umfrage bei unseren Mitgliedern, insbesondere aus der chemischen Industrie, durchgeführt und festgestellt, dass etwa 50 % der Kolleginnen und Kollegen nicht mehr daran glauben, dass Deutschland in den nächsten zehn Jahren noch ein Industrieland sein wird. Das ist für Menschen, die selbst in der Industrie arbeiten, sehr, sehr erschreckend.“
Ömer Kirli (IGBCE)

 

„Wir reden zum Beispiel viel über Elektrifizierung. In Deutschland würden wir allein für die Elektrifizierung der Industrieprozesswärme insgesamt ungefähr 500 Terawattstunden Strom zusätzlich benötigen. Meiner Meinung nach wird sich der Strompreis aufgrund von Netzausbau und diversen anderen Dingen in den nächsten Jahren wesentlich erhöhen.“
Dr. Christoph Sievering (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie)

 

„Ich habe tolle Projekte in der Schublade. Für diese kämpfe ich, lasse mich vom Vorstand auch verhauen und will sie auch alle nach Deutschland kriegen. Ich habe lange für Darmstadt gekämpft, jetzt kämpfe ich für Marl. Diese Projekte stehen jedoch im internationalen Wettbewerb – wir haben Standorte in den USA, in Singapur, in China –, wir kriegen kein einziges davon nach Deutschland. Mit welchem Argument denn? Mit welchen Stromkosten soll ich planen? Ich weiß gar nicht, wo die in fünf Jahren liegen.“
Thomas Basten (Evonik Operations)

 

„Das große Problem ist die Wirtschaftlichkeit des Wasserstoffeinsatzes. Herr Basten hat vorhin angesprochen, dass Projekte in der Schublade liegen, angegangen bzw. zum großen Teil auch vorangetrieben werden, die Wirtschaftlichkeit allerdings fehlt. Das liegt am regulatorischen Kontext, der insbesondere mehr Pragmatismus mit Blick auf die vorhin schon angesprochene Farbenlehre braucht bzw. einen Fokus auf den CO₂-Fußabdruck der jeweiligen Herstellungsvariante und keine Festlegung auf einzelne Farben. Zweitens verweise ich auf die Grünstromkriterien, die über den entsprechenden Delegated Act auf der europäischen Ebene angelegt worden sind und definieren, mit welchem Strom grüner Wasserstoff hergestellt werden kann. An dieser Stelle brauchen wir deutlich mehr Pragmatismus, damit wir eher zu einer Wirtschaftlichkeit von entsprechenden Projekten kommen.“
Jan Peter Hinterlang (Verband der Chemischen Industrie, Landesverband Nordrhein-Westfalen)

 

„Jeder aus dem Verteidigungsbereich, mit dem wir sprechen – sei es jemand vom Verteidigungsministerium, von der Bundeswehr oder auch von der Rüstungsindustrie –, versichert uns, dass eine sichere Versorgung mit Kraft- und Treibstoffen die Grundvoraussetzung dafür ist, verteidigungsfähig zu sein. Kein Panzer oder Eurofighter kann ohne flüssige Energieträger betrieben werden.“
Simon Jastrzab (en2x – Wirtschaftsverband Fuels und Energie)

 

„In Europa – das zeigen unsere Analysen – haben wir etwa 20 % der Crackerkapazitäten verloren, auch Deutschland ist mit dabei. Wenn wir jetzt nicht die richtigen Schritte gehen und die von mir bereits angesprochene Strompreiskompensation nicht schnell derart anpassen, dass Cracker in den Bezieherkreis fallen, würden weitere Crackerkapazitäten wegfallen. Dann wäre es für NRW schwierig, die Chemieindustrie so wie bisher weiterzuführen, weil Cracker ein enorm wichtiges Bindeglied sind.“
Daniel Koch (Basell Polyolefine)

 

„Wir hatten recht stark darauf gesetzt, dass die Umstellung bei thyssenkrupp vorgenommen wird und die Direktreduktion mit Wasserstoff erfolgt. Wir hatten im Chemiepark mehrere Elektrolyseprojekte geplant, die jetzt alle auf Eis liegen, weil die Umstellung bei thyssenkrupp augenscheinlich nicht kommt. Die Infrastruktur ist größtenteils schon hergestellt worden, um thyssenkrupp vom Chemiepark aus schon vor der Entstehung des Kernnetzes mit Wasserstoff zu versorgen. Wir haben schon einen Anschluss gelegt und sind sowieso schon angebunden. Aber dadurch, dass das jetzt nicht kam, liegt das ein bisschen auf Eis.“
Thomas Basten (Evonik Operations)

 

„Die Entlastung beträgt, so wie es jetzt geplant ist, für die gesamte deutsche Industrie, für die gesamten energieintensiven Industrien, in Summe 3,1 Milliarden Euro. Angesichts der Höhe der Energiekosten für die energieintensiven Industrien im Vergleich mit wesentlichen Wettbewerbsländern und -regionen wird das nicht genügen. Mehr geht momentan beihilferechtlich nicht. An diesem Punkt könnte man gemeinsam losziehen, dafür werben und deutlich machen, was es braucht, damit die Energieintensiven – und damit auch die Wertschöpfung, die in den industriellen Wertschöpfungsketten daran hängt – am Standort Nordrhein-Westfalen erhalten werden können.“
Alexander Felsch (unternehmer nrw)

 

„Es geht nicht darum, ob wir Klimaschutz wollen oder nicht bzw. ob wir das EU-ETS verlängern wollen oder nicht. Diese Dinge spielen sicherlich mit hinein. Aber wenn wir einen Industriestrompreis für die energieintensive Industrie fordern, heißt das in meinen Augen – Sie hatten von drei Milliarden Euro gesprochen; das ist ein Witz und reicht nicht einmal, um irgendeinen Bäcker mit günstigem Strom zu versorgen –, dass wir uns fragen müssen, wie wir die Kosten für die Industrie umverteilen. Dann müssen andere Leute einfach mehr zahlen.“
Dr. Christoph Sievering (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie)

Ob Nordrhein-Westfalen Industrieland bleibt, entscheidet sich nicht an Zielen, sondern an den Bedingungen, die dieses Protokoll beschreibt.

Hier das gesamte Protokoll der Anhörung

 

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