Offener Brief an Kultusministerkonferenz: „Verlassen Sie Ihre wohltemperierten, klimatisierten Schreibtische oder Konferenzräume“

Klassenzimmer einer Grundschule Foto: DALIBRI Lizenz: CC BY-SA 3.0

Verschiedene Eltern-Organisationen  haben sich mit einem offenen Brief an die Mitglieder der Kultusministerkonferenz gewandt. Voller Sarkasmus zeichnen sie ein Bild der Lage in den Schulen zu Beginn eines langen Corona-Winters:

Sehr geehrte Mitglieder der Kultusministerkonferenz,

mit Erstaunen konnten wir Eltern kürzlich lesen, dass Sie sich zuletzt mit der bundesweiten Vereinheitlichung der Schulabschlüsse bis zum Jahre 2025 befassten.

Eigentlich ja eine gute Sache – und bitte vergessen Sie dabei nicht, dass eine einheitliche Gymnasialzeit von 9 Jahren die unabdingbare Voraussetzung für eine gerechte und vergleichbare Umsetzung dieser prinzipiell begrüßenswerten Maßnahme ist! Allerdings werden Schüler, Eltern und Lehrer derzeit täglich mit ganz anderen schulischen, sogar gesellschaftlichen Problemen konfrontiert, die einer zeitnahen Lösung bedürften – darunter beispielsweise die massiven Unterrichtsdefizite unserer SchülerInnen und das absolut besorgniserregende Absinken der Bildungsqualität, aber auch ganz alltagspraktische Schwierigkeiten und Belastungen.

Es ist natürlich verständlich, dass sich diese Probleme aus der Ferne nicht immer gut nachvollziehen lassen und so empfehlen wir Ihnen das folgende, sicher lehrreiche Experiment:

Verlassen Sie Ihre wohltemperierten, klimatisierten Schreibtische oder Konferenzräume und planen Sie Ihre nächste Sitzung einfach einmal in einem durchschnittlich großen Klassenzimmer einer durchschnittlich ausgestatteten deutschen Schule – davon stehen jetzt in den Herbstferien ja viele leer. Die Anreise sollte unbedingt mit öffentlichen Verkehrsmitteln erfolgen.

Machen Sie sich keine Sorgen, ein regelmäßiges Lüftungskonzept wird Ihre Sicherheit im Klassenzimmer gewährleisten, am besten lassen Sie das oder die Fenster die ganze Zeit geöffnet.

Den Ängstlichen unter Ihnen sei hier ausdrücklich versichert: In keiner Studie haben sich Kultus- und Bildungsminister als Treiber der Infektion herausgestellt.

Bei den momentanen Temperaturen wird es im Raum natürlich schon etwas kühl, allerdings kann Ihr Kollege Herr Tonne Ihnen – wie bereits den Schülern seines Bundeslandes – gute Tipps geben und eine „Packliste“ schicken. Fellstiefel, Schal und Mütze, Wolldecken sowie Heißgetränke aus der Thermoskanne schaffen hier sehr einfach Abhilfe.

Und das Schöne ist, nach dieser Erfahrung werden Sie im kommenden Jahr den Herbstanfang mit seinen absinkenden Temperaturen sicher nicht mehr vergessen.

Bitte denken Sie bei den Pausen auf dem Schulhof unbedingt daran, auch hier die Maske anzuziehen, es sei denn, Sie knabbern an den mitgebrachten Apfelschnitzen, da „Ihre“ Schule möglicherweise kein warmes Mittagessen bietet.

Es wäre sicher sinnvoll und auch eine nette Geste, die Erfahrungen mit allen Sinnen bei dieser Konferenz auf 5 Tage auszudehnen, denn erst nach einer Woche mit 36 Schulstunden – dank G8 – können Sie wirklich ermessen, was Schüler und Lehrer momentan aushalten müssen. Für all jene, die den entsprechenden Mathe-Test eingangs nicht erfolgreich absolvieren konnten, findet an zwei Abenden zusätzlich ein Förderkurs mit dem thematischen Schwerpunkt „e-Funktionen“ statt.

Hausaufgaben zu erledigen und gute Leistungen zu zeigen, gehört ja sowieso zu Ihrer Aufgabe. Vielleicht wäre es aber sinnvoll und würde der ganzen Nation helfen, wenn Sie alle eine GFS (schriftliche Hausarbeit) über den aktuellen Stand der Coronaforschung – besonders bezüglich Infektiosität und der Rolle von Kindern und Jugendlichen in der Coronapandemie – ausarbeiten würden.

Alternativ hierzu käme als Thema  noch in Betracht eine Auflistung 1.) der bisher bereits versäumten schulischen Lerninhalte und 2.) der daraus für den einzelnen jungen Menschen resultierenden lebenslangen (auch wirtschaftlichen) Auswirkungen sowie 3.) ein realistisches Konzept, diese Lücken und alle wegen der zukünftigen coronabedingten Klassenschließungen noch hinzukommenden Stoffversäumnisse aufzuarbeiten.

Das Los wird dann entscheiden, wer mit digitalen Endgeräten arbeiten darf und wer mit Stift, Papier und der örtlichen Bibliothek zu einem guten Ergebnis kommen sollte.

Denn nicht nur fehlende Geräte, sondern auch ein ständig überfordertes Netz sind die alltäglichen Probleme unserer SchülerInnen und Lehrkräfte.

Ebenfalls nach dem Zufallsprinzip erhalten manche Teilnehmer Unterstützung von Experten, schließlich stehen auch SchülerInnen nicht immer helfende Eltern zur Seite.

Wir sind überzeugt, dass Ihnen diese Woche in mancherlei Hinsicht die Augen öffnen wird und Ihre Agenda anschließend etwas anders aussieht. Auch Ihre Einstellung zu Luftfiltern in den Klassenräumen könnte sich möglicherweise geändert haben.

Sollten Sie sich nun tatsächlich 14 Tage in häusliche Quarantäne begeben müssen oder fesselt Sie eine Erkältung oder ein Harnwegsinfekt ans Haus – begünstigt durch die ungewohnten Arbeitsbedingungen, würde es Ihnen bestimmt nicht langweilig werden. Denn dank coronabedingtem G7 1/2 gibt es ja immer etwas zu tun. Aber hoffentlich bleiben Sie trotz der bis dahin eventuell nötigen Schulschließungen mit verbreitetem Fernunterricht Sieger im Kampf um die mobilen Daten vor Ort.

Mit vielen Grüßen von den besorgten Eltern des Landes

Corinna Fellner und Anja Plesch-Krubner
G9 jetzt! BW

Katja Oltmanns
Sprecherin Elterninitiative
G9-jetzt! Saarland

Marcus Hohenstein
Ivonne Kunze
Dr. A.-B. Woelke-Westhoff
Ruth Zumbroich
Christiane Pohl
Sabine Wiederhöft
Christina Först
Prof. Peter Bender
G9-jetzt! NRW

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Monika Rüde
Monika Rüde
3 Jahre zuvor

Dieser Beitrag bringt es auf den Punkt. Es ist ein Trauerspiel, dass die verantwortlichen, gewählten Häupter sich keine Gedanken über Verbesserungen in der vergangenen, oder soll ich sagen verplemperten Zeit von März bis heute gemacht haben. Jedenfalls jeder Ansatz für Verschlimmbesserungen ist gemacht, (Fenster öffnen, warme Kleidung etc.), anstatt Luftfilter für jedes Klassenzimmer anzuschaffen, wäre auch eine Investition für die Zukunft. Vielleicht gibt es doch so etwas wie realistisches Denken.

Tracums
Tracums
3 Jahre zuvor

Hervorragend geschrieben. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste Mann oder Frau laut beim Lesen laut lachen. Leider fällt in Niedersachsen der obersten Bildungsbehörde jede Woche neuer regelungsbedüfrtiger Blödsinn ein, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Am Grossartigsten finde ich, dass Erstklässler kontaktlos spielen sollen! Gehts noch? Oder nach dem Schuljahresbeginn sollten Evaluierungssgespräche mit sechsjährigen Kindern durchgeführt werden, wie sie denn die Coronakrise bisher erlebt haben. Wohlgemerkt in Einzelgesprächen!! Dabei gehen natürlich alle anderen zu "Beschulenden" über Tisch und Bänke. Schwer zu ertragen. By the way: Über das gescheiterte Thema Inclusion kann man mittlerweile dicke Bücher verfassen.

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