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Reiner Priggen gibt seinen Fraktionsvorsitz ab: Rückblick mit Aussicht

Reiner Priggen, Foto: Bündnis 90/ Die Grünen NRW
Reiner Priggen, Foto: Bündnis 90/ Die Grünen NRW

Reiner Priggen, Fraktionschef der Grünen im NRW-Landtag kandidiert 2017 nicht wieder für den Landtag. Das Ruder übergab er letzte Woche an seinen Nachfolger, Mehrdad Mostofizadeh. Dass ihm die ehemalige Landesvorsitzende Monika Düker als neue Chefin im Ring näher stand, ist kein Geheimnis. Beide verbindet seit vielen Jahren der realpolitische Blick auf NRW. Doch so richtig wichtig sind die alten Kämpfe zwischen Linken und Realos ohnehin nicht mehr, stellt Priggen fest. Dem 62 -jährigen Ingenieur wird nachsagt, dass er dafür gesorgt hat, die Fäden in der Fraktion zusammen zu halten. Wenn nötig, auch mit straffer Hand. In zwei Jahren ist dann endgültig Schluss. Priggen freut sich auf sein neues Leben, in dem mehr Zeit für die Familie bleibt. Politik wird zwar weiterhin eine Rolle in seinem Leben spielen, wird aber nicht mehr in der gleichen Intensität täglich, und auch am Küchentisch, die Hauptrolle spielen. Reiner Priggen wirkt entspannt. Wie es aussieht, geht der Kapitän ohne Reue von Bord.

Ruhrbarone: Sie kommen gerade von einem Treffen bei der IGBCE. Gestern noch waren Sie auf der Fraktionsklausurtagung. Amtsmüde wirken sie nicht gerade. Warum hören Sie auf?

Reiner Priggen: Ich wollte eine geordnete Übergabe der Amtsgeschäfte, denn der neue Fraktionsvorstand muss zusammenwachsen und auch dem neuen Fraktionsvorsitzenden hilft eine Einarbeitungszeit als Vorsitzender. Da wäre es falsch, den Wechsel zu spät zu machen.

Sie müssten doch im Moment viel Freude am Umbau der Atomlandes BRD haben. Für einige Menschen bedeutet aber der Ausbau der Stromtrassen, das Hochspannungs-Stromleitungen die Landschaft verschandeln. Andere haben aufgrund der Emissionen Angst um ihre Gesundheit. Kann man da überhaupt einen Interessenausgleich finden?

Wir brauchen den Netzausbau und die Gleichstrom-Hochspannungsleitungen (HGÜ, um den Windstrom – auch im europäischen Austausch – zum Ausgleich bei Überkapazitäten nutzen zu können. Aber es gibt ja längst gute Modelle, um die Probleme zu lösen. Zum Beispiel wird die Leitung von Düren-Niederzier in Nordrein-Westfalen nach Belgien entlang der Autobahnen und als Erdkabel verlegt werden. Zu diesem Thema war man sich bei den deutsch-belgischen Planungen völlig einig. Den wichtigen grenzüberschreitenden Stromaustausch sichert eine vernünftige Planung.

Aber das kostet Geld …

Ja, etwas mehr Kosten entstehen durch die Erdverkabelung. Man kann aber nicht einfach über die Interessen der Bürger und Bürgerinnen hinwegwalzen. Bevor ich überhaupt nicht mehr weiterkomme mit dem Leitungsbau – wie in Bayern mit einem chaotisierenden CSU-Ministerpräsidenten an der Spitze der Unvernunft – suche ich doch lieber nach vernünftigen Lösungen, mit denen die Bürger gut leben können. Stromleitungen entlang von Bahntrassen, Kanälen und Autobahnen und als Erdkabel – daran stört sich kein Mensch.

Die Stromtrassen sind Teil des Konzeptes der Erneuerbaren Energien. Wurde die Energiewende den Grünen nicht von Merkel „weggenommen“? Kann grüne Politik immer noch eigene Akzente setzen?

Als Ingenieur, der seit 30 Jahren den Kohle- und Atomkraft-Kampf miterlebt, sage ich: Bei vielen Menschen, und auch in der CDU, ist noch längst nicht angekommen, dass die Energiewende ein ganz entscheidender Teil des Fortschrittes durch die Digitalisierung unserer Lebenswelt und der digitalen Umstellung der gesamten industriellen Fertigung ist. Blickt man auf unsere heutigen Kommunikationstechniken und vergleicht das mit der Art und Weise, wie RWE Energie erzeugt, nämlich ‚klatschnasse Kohle rein in den Braunkohlekessel‘ und dann die ganze Abwärme in die Umgebung verschwenden, das ist doch steinzeitlich! Moderne Energie ist dezentral, steuerbar und effektiv. RWE und moderne Energiekonzepte – das sind zwei verschiedene Welten, wie zwischen einem Telefon mit Wählscheibe und einem Smartphone.

RWE hat die digitale Entwicklung verschlafen. Obwohl die Chancen in NRW in den modernen Techniken liegen. Und der Wissenschafts-Standort NRW ist auch für die Wirtschaft hoch attraktiv. Wir haben ein riesiges Potential an innovativen Kräften. Die TU Dortmund, die Universität in Bochum und die RWTH Aachen sind hervorragend aufgestellt. Allein 800 Arbeitsplätze werden in Aachen jährlich aus der Universität heraus gegründet.

Aber die großen Konzerne sind immer noch relativ unflexibel und schwer bewegliche Tanker …

Teilweise ja. RWE hat sich zum Beispiel konsequent gegen die neue Entwicklung gewehrt und stur auf Atomkraft gesetzt. Doch wer zehn Jahre lang glaubt, innovative Veränderungen ignorieren zu können, der ist eben irgendwann weg vom Fenster! Der Energieriese hat auf die althergebrachten Methoden der Atom-Lobbyarbeit vertraut. Die verfehlte RWE-Industriestrategie geht leider zu Lasten vieler tausend Arbeitsplätze. Um diese Beschäftigten muss man sich kümmern, aber die Konzernspitze kümmert sich ja eher um langfristige Vertragsverlängerungen für Vorstände.

Das wird aber Ihrem Koalitionspartner SPD nicht gefallen, was sie da sagen …

Das glaube ich nicht. Die SPD weiß auch, dass die Situation so ist. Die Zeiten des alten Modells der politischen Landschaftspflege sind vorbei. Heute kann man sich nicht mehr durch die Besetzung der Aufsichtsräte seine politischen Mehrheiten und Entscheidungen zusammenkaufen. Heute muss man als Unternehmen permanent innovativ sein, um zu überleben.

In Städten wie Dortmund gab es eine starke Diskussion zum Thema Rekommunalisierung, die an der CDU und der SPD gescheitert ist.

Das war unklug. Eine intelligente Kommune kann das alles selber machen. Bestes Beispiel ist die Stadt Lemgo, die ganz hervorragend allein zurechtkommt und heute bereits mit 80 Prozent Energie aus Kraft-Wärme-Kopplung ihre 45.000 Einwohner preiswert versorgt. Dieses Selbstbewusstsein sollten die Stadtwerke im Ruhrgebiet auch haben. Ein Unternehmen wie das kommunale Stromunternehmen DEW21 in Dortmund, braucht keine RWE. Da müssen wir doch nur auf die große Shoppingtour der RWE bei den Entsorgungsunternehmen gucken: Gescheitert! Oder das Geschäft mit der Wasserversorgung: Geplatzt! Nein, nein, das können die Kommunen besser. Warum sollte man also der RWE 20 bis 30 Prozent des Gewinnes überlassen, statt dass das Geld den Bürgern zugutekommt? Der einzige Grund, der offen auf der Hand liegt, ist der Wunsch der politischen Einflussnahme über die Aufsichtsräte. Also weg mit dem politischen Einfluss, weg mit diesen Zückerchen!

Einige sprechen von Abkassierern bei den Aufsichtsräten …

Wenn ein Oberbürgermeister, wie Ullrich Sierau, neben zwölf anderen Beirats- und Aufsichtsratsposten auch als Aufsichtsrat der RWE Geld bekommt, und die RWE wiederum an der städtischen DEW21 beteiligt ist, kann man nicht ernsthaft behaupten, dass er dort primär wegen seiner Qualifikation sitzt. Er sitzt im Aufsichtsrat, weil er Oberbürgermeister ist und politisch erheblichen Einfluss hat. Korrekt ist, dass er aus dieser Tätigkeit von den insgesamt über 126.000 Euro Einkünften im Jahr, nur rund 6.000 Euro behalten darf. Der Rest wird an die Kommune zurückgeführt.

Nach 5 Jahren rot-grüner Koalition von 2010 bis 2015 blickt man ja mal zurück. Was haben die Grünen erreicht? Gingen grüne Themen in der Vernunftehe mit der SPD unter?

Nein, wir haben zusammen vieles erreicht, das kann man gar nicht alles auf wenigen Zeilen aufzählen. Das Wichtigste ist ein vernünftiger, an der Sache orientierter Umgang der Koalitionspartner miteinander. Wir sind gewählt um Probleme zu lösen und nicht, um uns permanent zu streiten wie das Seehofer mit der Bundesregierung macht. Das ist doch eine Koalition des Grauens in Berlin. Um nur ein Beispiel unserer Arbeit zu nennen: Unser Umweltminister Johannes Remmel kämpft konsequent gegen Tierquälerei in der Landwirtschaft und bei den Jägern. Er sorgt dafür, dass Hühner ohne Federn mit abgefeilten Schnäbeln, das Abkneifen der Schwänze bei Schweinen, das Schreddern von Küken nicht mehr zur landwirtschaftlichen Normalität gehören.

Und der Veggietag – ist das grün-intern ein Reizthema?

Ach, die dusselige Debatte um den Veggietag. Diese Diskussion war absurd. Es soll doch jeder essen, was er möchte. Das ist Teil der persönlichen Freiheit. Wir sind ja nicht die katholische Kirche in einer politischen Verkleidung, die den Leuten sagt, was sie nicht dürfen. Wenn jemand unbedingt morgens, mittags, abends Currywurst essen will, dann soll er das tun.

Mit diesem Motto, könnten die Grünen im Ruhrgebiet Wählerstimmen gewinnen. Aber noch mal zum Thema grüne Perspektiven in NRW nach 2017?

Wir regieren nun in acht und vielleicht in Kürze in neun Bundesländern mit. Wir sind das erfolgreichste politische Modell der Nachkriegszeit. Opposition ist auch in Ordnung und muss gründlich gemacht werden, aber das Ziel von Politik muss immer sein, gestalten zu können.

Auch wenn man harte Kompromisse eingehen muss? 

Man kann nicht mit einem 15 Prozent Wahlergebnis nicht 100 Prozent grüne Politik machen. Das wäre naiv.

Ist für Sie die Möglichkeit mitzuregieren so wichtig, dass schwarz-grün, wie in Hessen eine denkbare Option wäre? Sie haben in NRW vier rot-grüne Regierungen mit aus der Taufe gehoben.

Die SPD hat eine ganze Reihe von Koalitionen mit der CDU. Warum also sollten wird das nicht auch dürfen? Wenn wir sagen würden, es gibt in der Politik immer nur eine Konstellation und zwar die mit der SPD für uns, wäre das falsch. Die SPD hat Koalitionen mit der CDU, mit den Linken, früher auch mit der FDP und die meisten mit uns. Und das ist gut so. Es kommt eben darauf an, mit wem man eine Mehrheit bilden kann. Im Moment ist die Zusammenarbeit mit Hannelore Kraft und der NRW-SPD deutlich besser als zuvor mit Wolfgang Clement und Peer Steinbrück. Und boshafte Demütigungen wie in der ersten Koalition 1995 sind heute natürlich undenkbar. Friedhelm Farthmann wollte sich nur gemütlich angucken, wie schon die erste Koalition mit Johannes Rau scheitert. Er hat nicht Recht bekommen.

Gibt es nicht in NRW ein rot-grünes Dauerabo?

Es gibt jetzt die vierte Koalition von SPD und Grünen. Und wenn die Zusammenarbeit gut ist, ist es auch richtig das fortzuführen. Das ist aber kein Gesetz. Ich erinnere mich gut an die Grünen in Gladbeck, die mich damals als Parteivorsitzenden der Grünen in NRW anriefen und sagten: „Lasst uns bloß Schwarz-Grün machen, hier regiert die SPD seit die amerikanischen Panzer Gladbeck befreit haben. Und wir können mit der CDU eine humanere Flüchtlingspolitik machen als mit den Sozialdemokraten.“ Das hat sich mir im Gedächtnis eingebrannt. Grundsätzlich ist jede demokratische Partei eine Option. Es wäre falsch das auszuschließen.

Gibt es also auch in NRW andere Optionen als Rot-Grün?

Das entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Wenn Sie mir heute das Wahlergebnis 2017 sagen, kann ich Ihnen die ernsthaften Koalitionsoptionen sagen. Für SPD und Grüne gilt aus meiner Sicht, dass 2017 nach sieben Jahre guter Zusammenarbeit die Fortführung der Koalition die erste Option ist. Aber wir beide kennen das Wahlergebnis nicht. Setzt die FDP auch in NRW auf eine Sexappeal-Wahlkampfstrategie? Die politischen Inhalte jedenfalls waren in Hamburg wie in NRW bisher nur die der abgewrackten Brüderle-Liberalen. Auch der Aufschwung der Linken in Hamburg, die wie die NRW-Linken nicht gerade als Hort der Vernunft gelten, hat niemand vorhergesehen. Und wir wissen nicht, was 2017 mit der AfD ist. Vielleicht sitzen dann bis zu sechs Fraktionen im Landtag. Für das Land wäre aus meiner Sicht eine Fortführung der derzeitigen Koalition mit stärkerem Grünen Einfluss die beste Lösung.

Wenn Sie auf Ihre grüne Arbeit zurückblicken? Was war die größte politische Niederlage, was der größte Erfolg?

Die größte Niederlage war, dass wir bei den ersten Verhandlungen 1995 mit der SPD von Johannes Rau nicht den Braunkohle-Tagebau in Garzweiler II verhindern konnten. Das lag auch daran, dass Klaus Matthiesen Politik auf der Straße gemacht hat, indem er Tausende von Bergleuten während unserer Koalitionsverhandlungen in Bonn zu Protesten auf die Straße getrieben hat.  Aber nun gut, das gehört zur politischen Auseinandersetzung dazu. Dennoch: In der Folge dieses vermeintlichen SPD-Erfolges haben Tausende Menschen ihre Heimat verloren.

Der größte persönliche Erfolg war wieder die Braunkohle. In dieser Legislaturperiode konnte wir den Tagebau in Garzweiler endlich verkleinern und so über 1500 Menschen den Verlust der Heimat ersparen und ihnen wieder eine Perspektive verschaffen. Während die Linke in Brandenburg den Wirtschaftsminister stellt und neue Tagebaue einrichtet, haben wir hier einen Tagebau verkleinert.

Was wäre Ihr Thema 2016?

Die Entwicklung der Elektro-Mobilität, die muss man jetzt anpacken. Wenn Mercedes, BMW und VW diese Entwicklung verschlafen, wird man hier in Deutschland irgendwann vom Googlemobil fast wörtlich überfahren werden. Dieser Global Player kauft gerade weltweit die besten Autoingenieure zusammen. Die realistische Perspektive ist, dass wir beide hier sitzen würden und ich in mein Handy tippe „von hier zum Hauptbahnhof“ und dann ein Elektro-Auto mit erneuerbarem Strom betankt ohne Fahrer vorfährt, um mich abzuholen. Das ist die Zukunftsmusik – und nicht Uralttechnologien wie große Braunkohle-Kraftwerke.

Ist technologische Entwicklung auch eine Perspektive für den Pott?

Natürlich. Das Ruhrgebiet ist ein hervorragender Technikstandort. Diese faszinierende Region Ruhrgebiet hat als industriell geprägter Standort jetzt die große Chance, den Sprung in die moderne, digitalisierte Welt zu schaffen. Wer bei den neuen Technologien mit dabei sein will, muss raus aus dem alten politischen Filz. Diese Entwicklung sollte man nicht den Jammerpredigern wie dem Gelsenkirchener Oberbürgermeister Baranowski überlassen, der am liebsten gleich mit zwei Klingelbeuteln unterwegs ist – und gleichzeitig von seinem Kirchturm aus Politik betreibt. Da kann man dann nicht einfach nur die Hand aufhalten … das zieht nicht mehr.

Das gilt aber auch für die anderen Revierbürgermeister. Die sind doch gerade gemeinsam nach Berlin gereist …

Die Intervention in Berlin war vernünftig, weil der Bund die Kommunen hängen lässt. Aber man kann nicht nur ständig dasselbe Klagelied anstimmen. Man muss sich auch auf seine Stärken konzentrieren und seine Hausaufgaben machen, statt wie eine vierarmige Gottheit mit vier offenen Händen nach mehr finanzieller Unterstützung zu rufen. Besser sich nach vorne bewegen – das Ruhrgebiet hat ja alle Potentiale! Wer sie nutzt hat dann auch das gute Recht, Unterstützung einzufordern.

Auch vom Land?

Ja, selbstverständlich auch vom Land.

Herr Priggen, ich danke Ihnen für das Gespräch.

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