Wie die Türken mit einem diskriminierenden Wahlsystem ihrer Republik schadeten

Recep Tayyip Erdogan Foto: ArtemAugust Lizenz: CC BY-SA 4.0


Prozentuale Wahlhürden gibt es in vielen politischen Systemen. Oft liegt die Höhe dieser Hürde bei 5%, wie etwa in Deutschland. Das Motiv beim Setzen solcher Wahlhürden ist meistens der Wille, die politisch massgeblichen Kräfte im Land zu stärken und sehr kleinen Parteien, die praktisch ohne Relevanz sind, den Zugang ins Parlament ganz generell zu verweigern. Grundsätzlich ist gegen solche Wahlhürden von 5% nichts einzuwenden, weil damit auch eine gewisse politische Stabilität erreicht wird. Vor allem können politische Kleinstparteien mit geringer demokratischer Legitimation nicht „Zünglein an der Waage“ sein, wenn es um wichtige politische Entscheidungen geht. Von unserem Gastautor Emrah Erken.

Bei der türkischen Parlamentswahl im Jahr 2002, welche der AKP den Weg zur Macht ebnen sollte, kam eine ungewöhnlich hohe Wahlhürde von 10% zur Anwendung. Das primäre Motiv dahinter war die Erschwerung, wenn nicht gar Verunmöglichung eines Einzugs einer möglichen kurdischen Partei ins Parlament (TBMM). Politischen Parteien, die primär kurdische Interessen wahrnahmen, sollten also verhindert werden. Da bei einigen kurdischen Politikerinnen und Politikern Verbindungen zur PKK bestanden, die nicht nur von der Türkei als terroristisch eingestuft wird, kann diesem Motiv vielleicht ein gewisses Verständnis entgegenbringen, respektive man kann es vielleicht nachvollziehen. Dass diese gewollte Diskriminierung von kurdischen Parteien und deren Wähler keineswegs zur Problemlösung dieses schon seit Jahrzehnten andauernden Konflikts beitrug, versteht sich allerdings von selbst. Ausserdem treibt ein solches Wahlsystem Kurden erst recht in die Hände der PKK, wenn ihnen eine politische Teilnahme im Parlament auf dem demokratischen Weg verweigert wird.

Mit diesem diskriminierenden Wahlsystem mit der 10%-Hürde hatten sich die Türken allerdings selbst eine Falle gestellt, weil nur dadurch diese Machtfülle der AKP entstand, die nur 34,28% des türkischen Wahlvolkes hinter sich hatte, d.h. knapp über 1/3. Mit diesem Elektorat hatte die AKP 66% der Sitze im türkischen Parlament erobert, d.h. 2/3. Die CHP, damals mit einem Elektorat von 19,39%, damit knapp unter 1/5 des Wahlvolkes, bekam knapp unter 1/3 der Parlamentssitze. Ausserdem konnten Parteilose, die von der 10%-Hürde nicht tangiert waren und nur 1% des türkischen Wahlvolkes repräsentierten, 9 Sitze für sich beanspruchen. Sie waren ohne jede politische Bedeutung.
Bei dieser Sitzverteilung im Parlament war 45,33% des Wahlvolkes der Türkischen Republik im Parlament nicht vertreten und war von politischer Mitwirkung faktisch ausgeschlossen. Das ist fast die Hälfte! Eine echte demokratische Repräsentanz ist unter solchen Voraussetzungen anders als bei einer 5%-Hürde kaum gegeben.

Von besonderer Relevanz ist die Tatsache, dass diese hohe Wahlhürde einer islamistischen Partei, die in der laizistischen Türkischen Republik lediglich 1/3 des Wahlvolkes hinter sich hatte, eine mehr als nur stabile 2/3 Mehrheit im Parlament verschafft hatte. Eine solche Mehrheit ermöglicht es einer Partei durchzuregieren und einen System Change herbeizuführen. Das tat die AKP auch, zunächst eher unauffällig und zum Wohlwollen des Westens, die hier einen echten Reformwillen erkannten, der allerdings nie gegeben war. Das Ziel von Erdogan war schon immer das, was wir gegenwärtig vor den Augen haben. Bei dieser Wahl war er allerdings nur der Mann im Hintergrund, weil er zu diesem Zeitpunkt noch mit einem lebenslangen Politikverbot belegt worden war, nachdem er wegen des öffentlichen Rezitierens eines dschihadverherrlichenden und volksverhetzenden Gedichts gleichzeitig auch eine Haftstrafe verbüssen musste.

Die unten zu sehenden Zahlen zeigen auch, wie einst politisch massgebliche Akteure komplett untergegangen waren. Die beiden konservativen aber anders als die AKP keine islamistischen Parteien ANAP (Partei von Turgut Özal und Mesut Yılmaz) und die DYP von Tansu Çiller hatten es nicht ins Parlament geschafft. Diese nichtislamistischen konservativen Kräfte, deren politischen Positionen ähnlich waren, hätten zusammen immerhin knapp unter 15% des türkischen Wahlvolkes hinter sich gehabt. Wenn man diese Zahl den 34,28% der AKP gegenübersetzt, ist dies nicht gerade wenig. Die beiden konservativen Parteien hatten sich damit gegenseitig Stimmen abgegraben und sich gegenseitig praktisch vernichtet, wobei es für die DYP besonders ärgerlich war, weil sie mit 9,54% nur knapp unter der ungerechten 10%-Hürde blieb und dennoch zur kompletten politischen Bedeutungslosigkeit katapultiert wurde.
Dieser Untergang der beiden konservativen und dennoch nicht islamistischen Parteien hatte freilich eine weitere Stärkung der AKP zur Folge. Eine Partei, die nicht mehr im Parlament vertreten ist, hat es unter solchen Voraussetzungen sehr schwer, bei einer Folgewahl wieder ins Parlament zu kommen. Das war auch der Fall. Die konservativen und dennoch nicht islamistischen Kräfte spielten in diesem eher konservativ geprägten Land keine Rolle mehr. Islamisten hatten übernommen.

Wenn man an den Anfang dieser Ausführungen zurückgeht, muss festgehalten werden, dass eine gegen Kurden gerichtete, in jeder Hinsicht ungerechte, in demokratischer Hinsicht nicht zu rechtfertigende und bewusst diskriminierende Wahlhürde von 10% für die Türkische Republik zu einer Falle wurde und die Übergabe des Landes in die Hände eines Nationalislamisten möglich machte, der einen System Change anstrebte und mit einem Elektorat von rund 1/3 der Bevölkerung über sehr wenig demokratische Legitimation für ein derart einschneidendes Unterfangen verfügte. Die Türken, welche die Lösung des Kurdenproblems schon immer falsch angegangen waren, hatten sich selbst ein Bein gestellt und damit etwas möglich gemacht, was von 2/3 der Bevölkerung nicht erwünscht war, weil diese Menschen bestens wussten, welche überaus bedenkliche Vergangenheit Erdogan hatte, der hinter dieser Partei stand,und alles nur eine Fassade war, eine Fassade für ein Endziel.

Seit 2022 beträgt die Wahlhürde 7%. Auch diese Zahl ist bewusst gewählt. Es soll auch kleineren Parteien den Einzug ins Parlament ermöglichen, wobei hier natürlich die herrschenden Machtverhältnisse gefestigt werden sollen. Mit anderen Worten geht es Erdogan um Machterhalt, die mit dieser Zahl besonders begünstigt wird. Da der wichtigste kurdische Politiker des Landes trotz Entscheid des EGMR rechtswidrig im Gefängnis sitzt, spielen demokratische kurdische Kräfte ohnehin praktisch keine Rolle mehr.

Besonders bedauerlich ist, dass kaum jemand auf den Ausgangspunkt der gegenwärtigen Entwicklungen zurückblickt und sich die Frage stellt, was die Türken falsch gemacht haben. Da diese Hintergründe weder in den türkischen noch in westlichen Medien zum Ausdruck kommen und immer noch die Meinung vorherrscht, dass eine Mehrheit der türkischen Bevölkerung Erdogan ja wolle, wollte ich dies hier nachholen.

Quelle: Wikipedia

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