Yascha Mounk glaubt nicht, dass der Peak-Woke bereits erreicht ist

Protest in den USA Foto: Ted Eytan Lizenz: CC BY-SA 2.0


Yascha Mounks Buch „Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee“ erklärt nicht nur die Grundlagen und die Geschichte der Identitätspolitik, sondern zeigt auch auf, was in den kommenden Jahren auf uns zukommen könnte.

Einen Blick über die eigenen Grenzen zu werfen, ist immer eine gute Idee. Das gilt auch bei Identitätspolitik oder Wokeness, deren Wurzeln in den in Frankreich erdachten postmodernen Ideen liegen, die in den USA an den Hochschulen weitergedacht wurden und dort die Politik noch deutlich mehr beeinflussen, als sie es in Deutschland tun. Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk wurde in München geboren, studierte in Harvard und lehrt heute an der Johns Hopkins University in Baltimore. In seinem Buch „Im Zeitalter der Identität: Der Aufstieg einer gefährlichen Idee“ beschreibt er wie die postmodernen Ideologien ihren Aufstieg im Frankreich der 60er Jahre begannen, in den USA erst an den Universitäten an Bedeutung gewannen, sich schließlich innerhalb des linken politischen Spektrums durchsetzten und längst bestimmend für die Politik der US-Demokraten sind. Dass in den USA im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern nicht nur zuerst Alte, Schwerkranke und die Beschäftigten der Gesundheitsdienste geimpft wurden, sondern auch junge, nichtweiße Patienten ohne Vorerkrankungen Priorität vor weißen Patienten erhielten, wurde seinerzeit damit begründet, dass ältere Amerikaner überproportional weiß seien. Ein weiteres Beispiel Mounks für diese Politik: „Als San Francisco ein bedingungsloses Grundeinkommensprogramm ankündigte, das armen Einwohnern 1200 Dollar pro Monat zur Verfügung stellen sollte, hatte die Sache leider einen Haken: Nur Mitglieder einer bestimmten Gruppe würden auf diese Leistungen einen Anspruch haben – diejenigen, die sich als trans identifizieren.“ In den USA gibt es auch längst wieder nach Hautfarben getrennte Schulklassen. Nur was einst zurecht als rassistisch gebrandmarkt wurde gilt nun als gerecht und modern.

Die Idee hinter diesem Ansatz, der sicher bald auch Deutschland erreichen wird und hinter dem in den USA die Biden-Regierung steht, ist Gruppengerechtigkeit: Menschen werden nicht mehr als Individuen gesehen, sondern nur noch als Teile von Gruppen. Es geht um Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder Religion. Nicht mehr der Einzelne soll gerecht behandelt werden, sondern die Gruppe. Die Menschen werden dazu aufgefordert, sich als Teil von Religionsgemeinschaften oder Ethnien zu sehen und nicht mehr als Individuen. Mounk beschreibt das zutreffend nicht nur als einen Angriff auf die Aufklärung und den Liberalismus, die Säulen der westlichen Gesellschaften, sondern auch als eine Abkehr dessen, wofür einmal die Linke stand: „Links zu sein hieß, an die Bedeutung des Menschen zu glauben, unabhängig von der Gruppe, in die er hineingeboren war; es hieß, nach einer politischen Solidarität zu streben, die über Identitätskategorien wie die »Rasse« oder die Religion hinausging; und es hieß, sich gemeinsam für universelle Ideale wie die Gerechtigkeit und die Gleichheit einzusetzen.“ Mounk ist in den USA ein einsamer Linker und wäre es auch in Deutschland von Tag zu Tag immer mehr, denn auch hier gewinnen Ideen, die mal als Identitätspolitik oder Wokeness beschrieben werden, das am Freitag vom Bundestag beschlossene Selbstbestimmungsgesetz ist dafür nur ein prominentes Beispiel, an Einfluss. Mounk schlägt vor, all diese Ideologien unter „Identitätssynthese“ zu fassen, um das Feld der Kampfbegriffe zu verlassen. Eine gute Idee, aber chancenlos: Damit das passiert, müssten die verschiedenen Seiten sich einigen, wogegen allein schon der Haupteffekt der Identitätspolitik steht: Die Spaltung der Gesellschaft.

Mounk ist kein verbissener Kulturkämpfer. Er sieht die Ungerechtigkeiten, die Benachteiligung von Schwarzen, die Diskriminierung von Frauen und die schlechten Lebenschancen, die Kinder haben, die in armen Stadtteilen mit schlechten Schulen aufwachsen. Und als Linker will er all das ändern, zum Beispiel durch mehr Geld für Bildung. Aber er sieht auch im Gegensatz zu den woken Ideologen, die jeden Fortschritt leugnen, dass sich vieles in den vergangenen Jahrzehnten verbessert hat: Vielen Schwarzen sei der Aufstieg in die Mittelschicht gelungen, Menschen mit asiatischer Herkunft seien an die Spitze von US-Unternehmen aufgestiegen und die bestehenden Probleme könnten nicht nur an der Hautfarbe festgemacht werden: Auch wenn die Chance von Schwarzen und in Deutschland von Zuwanderern aus der Türkei, in Armut zu leben, höher sei als bei Weißen, wären in den USA auch Millionen Weiße arm. Mounk will Armut bekämpfen und sich dabei nicht an der Hautfarbe orientieren. In weiten Teilen der US-Linken gilt das allerdings heute als rassistisch.

Mounk glaubt nicht, dass der Peak-Woke erreicht ist, sondern geht davon aus, dass die Debatten, die zurzeit im Westen geführt werden, noch Jahrzehnte andauern werden. Sein Buch endet mit der Aufforderung, sich Wokoharam, deren glühendste Anhänger in den USA in der Mehrzahl übrigens weiße Oberschichtskinder sind, nicht zu unterwerfen und zu den eigenen Überzeugungen zu stehen: „Wir sollten für eine Gesellschaft kämpfen, in der Ethnizität, Geschlecht und sexuelle Orientierung sehr viel weniger wichtig sein werden, als sie es heute sind – weil diese Kategorien dann nicht mehr bestimmen, wie wir miteinander umgehen und was jeder von uns erreichen kann. Vor allem aber dürfen wir uns von der Identitätsfalle nicht dazu verführen lassen, den Glauben an eine bessere Zukunft aufzugeben – an eine Zukunft, in der das, was wir gemeinsam haben, endlich wichtiger wird als das, was uns voneinander trennt.“

 

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