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Bürgerlich, bürgerlicher, am bürgerlichsten – über das Volk und seine nach ihm benannten Parteien

DER SPIEGEL, Heft 46 / 2010

Nicht die CDU und nicht einmal ihre Vorsitzende, Frau Merkel, wollen erkennen, meint Heribert Prantl, dass „die eigentliche, die bürgerlichste aller bürgerlichen Parteien inzwischen die Grünen sind.“ Das könnte daran liegen, meine ich, dass sie – also die CDU und ihre Vorsitzende – am liebsten selbst „die eigentliche, die bürgerlichste aller bürgerlichen Parteien“ wären. Dass die FDP eine bürgerliche Partei ist und im Rahmen einer bürgerlichen Koalition ein Garant für das Bürgerliche in der bürgerlichen Regierung ist, wer wollte das bezweifeln? 

Nur: in der heutigen Zeit reicht das nicht mehr. Bürgerlich – das ist ja irgendwie Jede und Jeder. Spieglein, Spieglein an der Wand – wer ist der, die oder das Bürgerlichste im ganzen Land? Doch diese Frage ist längst beantwortet. Prantl weiß es, und wenn der Ressortleiter Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung etwas weiß, dann hat das schon etwas zu bedeuten – z.B. für all die Anderen, die noch mehr zu wissen haben als ihre Leser, die qua Werbeslogan ohnehin schon mehr wissen. Richtig: die Rede ist vom „Spiegel“, der in dieser Woche die „Bürgerlichsten aller Bürgerlichen“ auf die Titelseite stellt. 

Die „Spiegel“-Titelseite, charmant gestaltet im heilserwartungsvollen Stil aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, wie wir ihn gegenwärtig nur noch von der MLPD oder den Zeugen Jehovas kennen. Die gleiche Chose – allerdings in Grün: oben scheinen hell- und dunkelgrüne Strahler den Schriftzug „Die neue deutsche Volkspartei“ zu projizieren. Darunter Renate Künast, die die rechte Sozialisten-Faust ballt, und Jürgen Trittin, der rechte und linke Hand umklammert, was einen an das Logo der SED denken lassen soll. Darunter wiederum Demonstranten, die gegen „Stuttgart 21“ und gegen Atomkraft demonstrieren: offensichtlich „bürgerliche“ Menschen, die ihre Pappplakate und Fäuste in die Luft recken. Ganz unten dann die Frage: „Was taugen die Grünen?“ 

Nicht viel, wie wir in der Titelgeschichte erfahren. Dort heißt es, die Grünen stünden für „Normalität, jedenfalls in den bürgerlichen Vierteln, aus denen die Grünen ihre Anhänger rekrutieren“. Das hört sich freilich nicht ganz so locker an. Aber auf jeden Fall „profitieren die Grünen heute vom Konformitätsdruck der bürgerlichen Mittelschicht“, weshalb sie ja – man denke an die Titelseite – jetzt „die neue deutsche Volkspartei“ sind. Wir merken uns: wir sind das Volk, wir sind bürgerlich, woraus zwingend folgt, dass demzufolge das Volk bürgerlich ist. Volkspartei zu sein bedeutet, bürgerlich zu sein, weshalb verständlicherweise auch Sigmar Gabriel darauf besteht, dass die SPD ebenfalls bürgerlich ist. 

Ob denn Sozialdemokraten keine Bürger seien, fragt der Parteichef so rhetorisch wie empört, wenn sich die schwarz-gelbe wieder einmal eine „bürgerliche“ Koalition nennt. Da kann, wie kürzlich auf dem Parteitag, Frau Merkel ihre Leute auffordern, „die Herausforderungen einer veränderten Welt anzunehmen und bürgerliche Politik neu zu begründen“. Wenn mit der CDU die neue Zeit zieht, dann mit der SPD schon mal erst recht. Wenn die Konservativen anfangen, „die Herausforderungen einer veränderten Welt anzunehmen“, bitte sehr, dann sind die Sozialdemokraten eben jetzt auch „bürgerlich“. Das wäre ja noch schöner! 

Einzig die Linkspartei hält stramm Kurs: bürgerlich ist böse. Schluss der Debatte. Und weil alles, was nicht Linkspartei ist, irgendwie bürgerlich ist, ist es auch – gut mitgedacht! – irgendwie böse. Abgesehen von den bürgerlichen Freiheitsrechten, die wiederum irgendwie gut sind – zumindest so lange, wie eine Regierungsbeteiligung nicht in Sicht ist. Deshalb macht die Linke in Ostdeutschland auch nicht so viel Bohei um „bürgerliche Freiheitsrechte“ und so; denn dort ist sie ja Volkspartei. Wir haben gelernt: eine Volkspartei ist qua definitione bürgerlich. Weil ja, wie Sie sich erinnern, das Volk selbst, bürgerlich ist. Was soll es denn auch sonst sein?! 

Zugegeben: wenn alle bürgerlich sind, macht es irgendwie auch keinen Spaß. Genau genommen wird es überhaupt erst möglich, bürgerlich zu sein, wenn es Leute oder Sachen oder Ideen gibt, die eben nicht bürgerlich sind. Aus dem schönsten Konformitätsdruck könnte gar nichts werden, wenn alle, wirklich alle, „so sind wie wir“. Ein Festival der Liebe, gab einst Jürgen Marcus zum Besten, solle unser Leben sein. „Und alle, die so sind wie wir, die laden wir gern ein.“ Und alle Anderen eben nicht. Das ist ja gerade der Clou an der ganzen Angelegenheit. Wer – bitteschön – ist nicht bürgerlich? Jetzt einmal abgesehen von den Leuten von der Linkspartei … 

Richtig: Hartz-IV-Empfänger und so Leute. Die sind nicht bürgerlich. Dafür aber auch uninteressant, womit die soziologische Betrachtung des bzw. der Nicht-Bürgerlichen auch schon durchgenudelt wäre. Deutlich interessanter ist der politologische Blick auf Bürgerliche und Nicht-Bürgerliche. Klar zu erkennen auf Demonstrationen – gegen AKWs, Nazis und all so´n Mist. Die, die mit dem Stadtrat, dem Bürgermeister, dem Pastor und dem Gewerkschaftsboss gehen, sind die Bürgerlichen. Die Anderen, die etwas offensiver an diese Kämpfe herangehen – im bürgerlichen Sprachgebrauch: Krawallmacher, Chaoten oder so – sind es eben nicht. Also: nicht bürgerlich. Politologie einfach, Soziologie uninteressant – historisch betrachtet wird die Sache leider unnötig kompliziert. Deshalb stellen wir uns jetzt einmal ganz dumm und fragen uns, wer oder was der Bürger eigentlich ist. Denn so, wie es ohne Anschau kein „anschaulich“ gibt, gibt es ohne Bürger auch kein „bürgerlich“. Logisch. 

Schauen wir uns das also auf Wikipedia an: da haben wir einmal das Bürgertum, die Klasse der Bourgeois, also die Bourgeoisie, die sich als besitzende Klasse gesellschaftliche Produktion privat aneignet. Das ist gemein, ziemlich bürgerlich und irgendwie auch nicht gerecht. Dann haben wir aber auch noch – neben dem Bourgeois – den Citoyen, also den Bürger, der „die bürgerlichen Ehrenrechte” (Rechte und Befugnisse) genießt, wie z.B. das aktive oder das passive Wahlrecht. Den Staatsbürger eben. Beide, also Bourgeois und Citoyen, können freilich in ein und derselben Person vorkommen, müssen es aber nicht. Und in den allermeisten Fällen tun sie es auch nicht. Die meisten Staatsbürger besitzen nämlich gar keine Produktionsmittel. Und wenn doch: wie viele Aktien muss man eigentlich besitzen, um als Angehöriger der bürgerlichen Klasse gelten zu dürfen? 

Und überhaupt. Wenn Alle, oder sagen wir mal: fast Alle, jetzt bürgerlich sind, haben wir dann eine klassenlose Gesellschaft, also – man wagt es gar nicht zu fragen: leben wir dann – sozusagen jetzt schon – im Kommunismus? Das könnte ja sein. Wenn vor zwanzig Jahren der Tante Frieda oder dem Onkel Herrmann erzählt worden wäre, dass die Grünen heute Volkspartei sind, und dass der Trittin vielleicht Bundeskanzler werden könnte, da wären die zusammen gezuckt und hätten diese Frage ohne zu zögern mit einem Ja beantwortet. Die wussten allerdings damals auch noch nicht, wie chic sich die Grünen anziehen können. Claudia Roth meint, „bürgerlich“ sei, wenn man „wohlerzogen“ ist. So ähnlich hatten sich das Tante Frieda und Onkel Herrmann auch gedacht. 

So dreimal, manchmal auch viermal im Jahr gingen die Beiden auswärts essen. Geburtstag, Hochzeitstag und so – da musste Tante Frieda nicht kochen. Da hatte man sich etwas gegönnt. Gute bürgerliche Küche.

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lebowski
lebowski
13 Jahre zuvor

Ich hab noch die Anfänge der Grünen miterlebt. Es war Anfang der Achtziger und der Schulbetrieb war komplett politisiert. Man wußte von jedem Lehrer, in welcher Partei er war. Anfang der Achtziger tauchten die ersten grünen Lehrer auf. Das war damals noch etwas Besonderes. Und seitdem schossen Grüne im Staatsdienst wie Pilze aus dem Boden.
Klar wollten die Grünen eine alternative Lebensweise, aber die muss man ja auch irgendwie finanzieren. Mit dem Anbau von Ökogemüse wirds schwierig. Also machten die Grünen den Kompromiss, dass man tagsüber einem kommoden Job im Staatsdienst nachging und nach Feierabend alternativ war. Obergrüne lungerten in Parlamenten herum, weil das a. besser bezahlt war als Lehrer und man b. seine Thesen zur kindlichen Erziehung nur sehr ungern mit der Realität abgleichen wollte.
Nach 30 Jahren ist ein Großteil grüner Wähler und Politiker im Staatsdienst angekommen. Aus den alternative Spinnern ist eine deutsche Beamtenpartei geworden, deren Mitglieder gerne Bio essen.

Höddeldipöp
Höddeldipöp
13 Jahre zuvor

Pah, der Spiegel!

Die Realität ist schlimmer als die wüstesten Verschörungstheorien. Bitte sich mal diese beiden Videos hier reinpfeifen:

https://stuttgart21.blog.de/2010/11/18/medienmanipulation-heissen-herbst-9995281/

Die „Ver-Jauchung“ der Republik steht uns bevor („Ich habe gerade heute noch am Mittagstisch mit meinen adoptieren Kindern darüber gesprochen, und die haben dazu folgende Meinung …“)

Und noch mal „Pah“, die Grünen!

Die Grünen sind zu einer Marketing-Agentur für Bio-Lifestyle mutiert. Wenn man sich schon anschauen muss, wie Frau Roth Datteln verteilt, um gegen das Kraftwerk Datteln zu protestieren. Immer haben sie irgendwelche albernen Marketing-Gags parat. Und die Strategie wird von Kowi-Fröschen (Kuhn) in teuren Designer-Anzügelchen (Katrin Göring-Eckardt) vorgegeben und das verbeamtete Stimmvieh darf abnicken.

Wann wird diese Republik wieder proletarisch. Ich will keine Adeligen mehr in der Politik, keine bräsigen Millionäre oder DAX-Vorstands-Lebensgefährtinnen als Talkshow-Moderatoren oder Nachrichtensprecher in den öffentlich-rechtlichen und auch keine Großbürgerlichen Neureich-Bürger an der Spitze der Parteien.

Das ist das Problem. Solange diese Leute die „Denke“ vorgeben, stapfen wir zielstrebig in Richtung Meudalismus.

Helmut Junge
Helmut Junge
13 Jahre zuvor

„Aus den alternative Spinnern ist eine deutsche Beamtenpartei geworden, deren Mitglieder gerne Bio essen,“ ….und sich für links und pazifistisch halten.
Aber immerhin traut Ihnen ein Teil der Bevölkerung zu, daß sie die Aufgaben der Zukunft lösen können. Frau-o-Frau!!!

Ich kann mich noch gut erinnern, daß die Bezeichnung „Staatstragend“ eine der übelsten Beleidigungen für Grüne Mandatsträger war.
Kinder, wie die Zeit vergeht.
@Werner,
Da hast Du ein schönes Thema angepackt. Bleib da dran, denn lästern macht Spaß.
Schon meine Großeltern haben viel darüber gesprochen, was aus dem und dem geworden ist. Auch über uns wird man eines Tages sagen: Mensch, wie die angefangen haben. Später haben die dann aber bei den bürgerlichen Ruhrbaronen mitgemacht. So what.
Aber auch die Linken. Was die bekannten Freunde von der Linkspartei betrifft, sind übrigens alle schon länger bürgerlich als ich. Am bürgerlichsten sind sogar genau die, die am meisten darüber schimpfen. Wie heißt es so schön:
Die größten Kritiker der Elche, waren früher selber welche.

Tom
Tom
13 Jahre zuvor

Die Behauptung, die Partei Die Linke sei nicht bürgerlich, ist einfach falsch. Hier der Beweis!

trackback

[…] Bürgerlich, bürgerlicher, am bürgerlichsten: über das Volk und seine nach ihm benannten Parteien … ruhrbarone […]

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