Das Ruhrgebiet und das Aufleuchten und Verschwinden des Poetischen – eine Momentaufnahme vom Flug des Pegasus abseits des heute gestarteten Phoenix

Das ist unstrittig: Zwei Impulse für die deutschsprachige Literatur gingen seit den 1950er Jahren von der Ruhr aus: die (Wieder-)Entdeckung der Arbeitswelt als Gegenstand und Thema literarischen Schreibens und später die Entdeckung der Region als Tatort (local crime) – mit vielen spannenden  Krimis, die im Ruhrgebiet spielen, aber oft weit darüber hinausweisen. Heute verbindet man mit dem Ruhrgebiet mehr freie Schriftsteller denn je. Die Entwicklung nicht nur der Literatur hierzulande darf  dennoch getrost in Dekadenschritten beschrieben werden.
Der in Duisburg geborene Schriftsteller Nicolas Born ging in den 60ern weg aus dem Ruhrgebiet, starb 1979 mit nur 41 Jahren an Krebs. Seine in Paris lebende Tochter Katharina Born kehrt 2011 über die Figur eines Duisburger Doktoranden in ihrem Roman „Schlechte Gesellschaft. Eine Familiengeschichte“ auch ins Ruhrgebiet zurück und steht mit dem Text zurzeit auf der SWR-Bestenliste. Bereits zuvor aber war sie gerne und oft Gast an der Ruhr. Von einem dieser Besuche und einer Suche nach den Wurzeln der Poesie im Ruhrgebiet möchte ich kurz erzählen.

2007 treffen der Herner Komponist und Saxophonist Eckard Koltermann und ich Katharina Born, die Tochter Nicolas Borns, in Paris, um sie für eine Jazz&Lyrik-Produktion mit Texten ihres in Duisburg geborenen Vaters Nicolas Born zu gewinnen. Wir plaudern mit ihr und Mutter Irmgard in einem Café nahe der Sacre Coeur über Nicolas Born, seine Gedichte und Briefe, die die Tochter im Wallstein Verlag herausgegeben hat. Als sie ein paar Monate später in Duisburg mit Eckard auftritt, wünscht sie sich, dass ich ihr den Duisburger Norden zeige, für kurze Zeit Nicolas Borns Kleinkinderheimat.

„Ich bin 1937 geboren in einer Stadt wie Duisburg; es war die Stadt Duisburg, da ist es passiert. Das Ruhrgebiet war meine Heimat als ich aufwuchs, aber ich glaube, das bedeutet nicht viel. Ich habe auch das Ruhrgebiet nicht richtig verstanden, hatte manchmal den Eindruck, es sei überhaupt unverständlich. Andere meinten später, das Ruhrgebiet müsse für einen Schriftsteller eine Goldgrube sein; für mich war es eher eine Fallgrube. Eines Tages bin ich aus dem Ruhrgebiet getürmt, obwohl ich mich sicher vom Dreck und von den Bildern vom Dreck nicht lösen konnte, jedenfalls bin ich nie richtig sauber geworden und das Ruhrgebiet holte mich immer wieder ein. Es geht zwar nicht mehr unter die Haut, aber unter die Fingernägel; der Steinstaub bleibt für alle Zeit auf den Stimmbändern. Ich bin unzufrieden geblieben. Vielleicht ist das ein chronischer und krankhafter Zustand, der mich aber (wahrscheinlich) zum Schreiben gebracht hat.“
(Nicolas Born: (Autobiographie). In: Die Welt der Maschine. Aufsätze und Reden. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1980, S. 9)

Wir fahren durch Hamborn, Katharina Born weiß nicht, wo Borns Elternhaus gestanden haben könnte, saugt die Atmosphäre der Straßen ein, das überraschende Grün, die Hässlichkeit der Häuser, die an diesem Samstagmorgen eher leeren Straßen, das türkisch-deutsche Nebeneinander. Dann fahren wir in den Landschaftspark Duisburg-Nord in Meiderich. Einst Hüttenwerk von Thyssens Gnaden ist der Landschaftspark heute ein Freilicht-Industriemuseum mit viel Platz für Taucherausbildung im gefluteten Gasometer, Jazz-Events des Traumzeit-Festivals auf der Piazza Metallica im Schatten rostbrauner Fabrikanlagen, für RuhrTriennale-Theater in der Gebläsehalle, die nicht zu Unrecht eine „Industriekathedrale“ genannt wird.
Katharina Born und ich schlendern auf dem weitläufigen Gelände, achten an diesem späten Vormittag nicht auf Verbotsschilder, stolpern über Gleise, durch dunkle Wege von Röhren und Stahlträgern gesäumt. Plötzlich steht da 20 Meter vor uns Darth Vader, riesig, wie aus dem Star Wars-Todesstern in die Altlast gebeamt. Unbeweglich, lautlos, mitten auf dem Weg, die Maske uns zugewandt. Nach einem kurzen Schreck gehen wir auf die Figur zu, ich frage: „Was machen Sie hier?“ Da senkt der schwarze Todeskrieger der dunklen Macht sein Plastik-Lichtschwert, lüpft seinen kriegerischen Helm, und es erscheint das Gesicht eines vielleicht 15-, 16jährigen Riesenbabys, ein freundliches Jüngelchen. „Fotoshooting … Game-Event. Hier sind heute jede Menge Leute aus der Community.“ Aha, denken wir, der tut nichts, der will bloß spielen, und verabschieden uns: „Möge die Macht mit euch sein!“
Hat sich die Duisburger Jugend doch noch das Fabrikgelände erobert, das für Kinder und Frauen so lange tabu war und für ihre Väter nach 40, 50 Jahren Schichtarbeit so ganz anders aussah. Nicolas Born hätte der Junge vielleicht gefallen, so wie er da stand, allein, dieses Erscheinen eines Jünglings in der Menge, nicht nur aus dem Film gefallen, auch aus der Rolle. Wie er versuchte, was Eigenes zu spielen, zu phantasieren, nicht ganz „still geworden unter Dach und Fach“, wie er versuchte, sich zu lösen von dem, was Born einst beklagte: „Verrott, der durch die Häute“ dringt.
In den Landschaftspark kommt heute auch die Sektion Duisburg des Deutschen Alpenvereins, um im Klettergarten des ehemaligen Erzbunkers Hochalpines zu üben. Der Park ist Kulisse für Film-Drehs und all die als Liebhaber der erotischen Fotografie getarnten kleinen Voyeure, ist Biotop einer Industrienatur, die sich mit Birkenwäldchen, Grünspecht und Graureiher das Gelände zurückerobert. Auch Rotfüchse – so hört man – sagen sich hier „Gute Nacht“. Noch kann man bei gutem Wetter vom begehbaren Hochofen aus einer Höhe von 70 Metern über Duisburg und darüber hinaus schauen. Und hofft für die Stadt mit dem unkaputtbaren Oberbürgermeister auf einen Satz Nicolas Borns, nach dem hier bisher nicht einmal eine Sackgasse benannt wurde: „Aber jeder ist eine gefährliche Utopie, wenn er seine Wünsche, Sehnsüchte und auch Schmerzen wiederentdeckt unter dem eingepaukten Wirklichkeitskatalog.“

In ein paar Jahren, vielleicht einem guten Jahrzehnt, wird der Rost hier alles so böse korrodiert, zernagt haben, dass man zumindest Teile des Geländes erneut wird absperren müssen. Werksschließung, diesmal durch Verfall.
In the year twenty-twentyfive,  Kameras an, ein poetisches Event wie von André Heller inszeniert, der längst tot ist, aber einer seiner Jünger wird die Inszenierung „Stahlgewittern“ nennen und im Kulturmanagement-Studium an der Exzellenz-Hochschule von Ernst Jünger noch nie etwas gehört haben:
Der gigantische Hochofen bricht unter seinem eigenen Gewicht zusammen, spät abends, im Schein der farbenfroh mitverlöschenden Lichtkunstinstallation Jonathan Parks, ein letztes Mega-Event – die Implosion einer großartigen als Zukunft verkauften Ruine. Damit kennt sich das Marketing in Duisburg aus, 2010 wurde erstmals mit dem als unverzichtbar verkauften Giga-Event ‚Loveparade‘  geübt.

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Helmut Junge
13 Jahre zuvor

„die Implosion einer großartigen als Zukunft verkauften Ruine. Damit kennt sich das Marketing in Duisburg aus,“
ein schönes Sonnenuntergangsstimmungsbild. Ruinenromantik zuhauf.
Ja so warns, die alten Thyssenleut. In den wenigen Buchläden ganze Regalreihen voller Kochbücher. Literatur? Ach, was hat Heinrich Heine eigentlich so gegessen?
Als Zukunft verkaufte, jugendprägenden Ruinen gibt es viele im Ruhrgebiet.
Doch wenn Nicolas Born noch wußte, daß es anderswo interessanter sein würde, glauben heute viele, „daß anderswo auch scheiße“ ist, wie ein Komiker kürzlich sagte. Ach, ich wohne immer noch in Hamborn, und Stefan ist immer noch nicht nach Köln gezogen.

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