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Davos und der Antisemitismus- Bekenntnisse einer Europäerin zweiter Klasse

Davoser Café 1928 Bild: Ernst Ludwig Kirchner – Reprografie aus Kunstbuch Lizenz: Gemeinfrei

Von unserer Gastautorin Anastasia Iosseliani
Kürzlich gab es in Davos, das ist in der Schweiz, eine Thora-Einweihung, bei der viele orthodoxe Juden anwesend waren, und weil es eine Prozession war, bei der gesungen, getanzt wurde und Freude herrschte, wurde für eine Weile die Hauptstrasse blockiert. Dies sorgte bei einigen Davosern für Unmut, dem sie sich mit Kommentaren Luft machten wie: «Wir sind doch nicht in Israel. Wir sind in der Schweiz». Oder «Unsere Heimat ist verloren.» DieseReaktion überrascht mich nicht. Die Leute haben nichts gegen Juden, d.h. nichts gegen Juden, die jüdisch aussehen (wie ein Jude aussieht bestimmen allerdings Nicht-Juden, mir wird zum Beispiel attestiert, eine jüdische Nase zu haben.). Allerdings soll der Jude nicht praktizierend sein, insbesondere «kein koscheres Fleisch, denn das sei Tierquälere;. Die Leute haben nichts gegen Juden, ausser die Juden sind nun einmal da, verhalten sich nicht so, wie die Leute wollen und haben auch noch die Unverschämtheit, diese «Chuzpe», frei rumzulaufen
und mal für einen Anlass, für kurze Zeit, die Hauptstrasse zu blockieren.

Dies wiederum führt dazu, dass das antisemitische Ressentiment aktiviert wird, das in vielen unbewusst schlummert. Denn wären irgendwelche Schwinger durchs Dorf gezogen und hätten dabei die Hauptstrasse blockiert, wäre die Reaktion eine andere gewesen, da bin ich mir sicher. An Juden fühlt man sich berechtigt, sein Mütchen abzukühlen, uns zu erziehen, weil wir ja bekanntermassen so grausam und primitiv sind, den Tieren gegenüber wie den Arabern, ach was, gegenüber den Muslimen, den Nicht-Juden allgemein.

Rituale und Praktiken, die wir Juden seit Jahrhunderten, auch in Europa, praktizieren, werden zur Disposition gestellt. Das zeigt mir, dass wir Juden für viele, bestenfalls, geduldete Fremde sind. Fremde, die alles erdulden müssen, denn zum Erdulden sind wir da. Und wenn man genug von unserer Präsenz hat, dann vertreibt man uns, hat schliesslich schon während der «Reconquista» geklappt. Wenn wir Juden uns dann erdreisten und versuchen zurückzukehren, verunmöglicht man uns das, wie man jetzt bei der Affäre sieht um die Juden, die während der Nazizeit nach Grossbritannien fliehen mussten und nun Deutsche werden wollen. Sie berufen sich dabei auf das Grundgesetz, aber die deutschen Behörden lehnen das meist ab. In dem man zum Beispiel immer noch jüdische Frauen, die Briten geheiratet haben, und deren Nachkommen nicht diskriminiert. Denn er war die ganze Zeit da und hat sich nur versteckt und Nein, ich rede hier nicht von Hitler. Ich rede hier von Antisemitismus. Ja, ich bin mir bewusst, dass diese Feststellung mich nicht gerade beliebt machen wird. Aber es ist eine offensichtliche Tatsache und es ist auch Tatsache, dass Antisemitismus eine bequeme Art der Diskriminierung ist, die in Europa Tradition hat, wie die Beispiele aus der Schweiz und aus Deutschland zeigen. Obwohl es sehr unwahrscheinlich ist, dass Juden einen Lkw kapern, um in einen Weihnachtsmarkt zu fahren, um dort Nicht-Juden zu ermorden.

Dieser Antisemitismus ist es auch, der mich manchmal wie eine Europäerin zweiter Klasse fühlen lässt, deren Präsenz von der Mehrheitsgesellschaft oft nur geduldet und manches Mal in Frage gestellt wird. Das, obwohl ich die Staatsbürgerschaft der Schweiz habe, hier geboren wurde, Steuern zahle, wähle und, ganz offensichtlich, eine der vier Landessprachen, fliessend beherrsche. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Dieses Gefühl ist keine neues Gefühl, sondern ein leider allzu vertrautes und leider bin ich auch nicht die erste Jüdin, die so denkt und fühlt. Und nein, das ist nicht meine Schuld, dass dem so ist, denn weder waren wir Juden anno dazumal «primitiv», «Brunnenvergifter», «Propheten»- oder «Gottesmörder», noch sind wir das heute. Die Mehrheitsgesellschaft hat sich daran zu gewöhnen, dass wir Juden existieren und so weit wie möglich zu akzeptieren und nicht zu versuchen uns zu erziehen, wie unverschämte Kinder. Um Konrad Adenauer zu zitieren: «Nehmen Sie die Juden, wie sie sind, es gibt keine anderen (mehr)».

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Nina
Nina
4 Jahre zuvor

Nur weil man sich über Gläubige, die einem den Weg versperren aufregt, ist man gleich Antisemit?
Ich hätte mich vielleicht auch aufgeregt, je nach Tagesform. Mich nerven verschleierte Frauen, mich nerven missionarische Christen im Bahnhof und in der City, mich nerven freitägliche Menschenansammlungen von Muslimen, die in ihre Moschee drängen und gewiss würden mich auch Juden nerven, insb. orthodoxe Juden, die ein weiteres Gotteshaus einweihen.
Ich komme mittlerweile auf Religionen einfach nicht mehr klar, die Dogmen, die Strenge, die Doppel-Moral, das Aufzwängen von Religion Kindern gegenüber.

paule t.
paule t.
4 Jahre zuvor

@Nina #1:
Wenn man im Zuge dieses Aufregens die Betroffenen gedanklich aus der Zugehörigkeit zum Land ausschließt ("Wir sind doch nicht in Israel" und im Gegensatz dazu "unsere Heimat") und eine harmlose Störung, wie sie wegen allem möglichen passieren kann, gleich zum Untergang aufbläst ("ist verloren"), ist man natürlich Antisemit. Was denn sonst?

ke
ke
4 Jahre zuvor

Um was geht es jetzt?
Um die Reaktion einiger Schweizer in Davos?
Bei meinem letzten Aufenthalt in Davos waren viele orthodoxe (?) Juden im Stadtbild zu sehen. Ich hatte den Eindruck gewonnen, dass orthodoxe Juden dort nicht besonders auffallen.

Dass Gruppen Umzüge/Veranstaltungen machen und dabei Straßen benutzen ist für viele andere vielleicht nervig, es gehört aber zu jeder Großstadt. Die extremen Reaktionen kann ich deshalb nicht nachvollziehen. Beleidigungen und genervte Menschen wird es aber bei solchen Aktionen immer geben.

Dann folgt der folgende Satz: "Rituale und Praktiken, die wir Juden seit Jahrhunderten, auch in Europa, praktizieren, werden zur Disposition gestellt."
Wenn Rechte von anderen Lebenwesen beeinträchtigt werden, ist es ein Thema zu klären, welche Rechte eine höhere Wichtigkeit haben. Hier kann man uralte Rituale vorziehen, muss es aber nicht. Steinigungen, Todesstrafen usw werden bei hier glücklicherweise nicht mehr durchgeführt. In anderen Ländern ist das anders, weil ihr Gott es angeblich so will. Die Menschheit entwickelt sich. Staaten und Gemeinschaften ändern ihre Werte.

Dann werden ein paar Dinge angesprochen, bei denen für mich Grenzen der Religionsausübung im Jahr 2019 erreicht sind.
– Tierschutz hat für mich eine höhere Priorität als ein uraltes Ritual.
– Die körperliche Unversehrtheit von sehr jungen Menschen muss sichergestellt werden (z.B. Beschneidung).
– Dann ist es für mich offen, ab welchem Alter Kinder von ihren Eltern eine Religionsgemeinschaft und auch eine klare äußerliche Kennzeichnung zugeordnet bekommen können. Bei mir war es der christliche Glauben, bei anderen Kids sind es andere Religion. Aktuell tendiere ich dazu, Taufen, sichtbare Kennzeichnungen etc. erst ab der Religionsmündigkeit (14 Jahre) zuzulassen. Menschen sollten frei bestimmen können, was sie glauben.

Diese Grundlagen gelten natürlich für alle Religionen und für alle Menschen.

Die Frage ist für mich eher, warum Glauben solche Rituale aus Sicht einer Religionsgemeinschaft braucht.
Nahezu alle Religionen sind alt und auf die damaligen Gesellschaften ausgerichtet.

Nina
Nina
4 Jahre zuvor

@#2 paule t. Eine "harmlose" Störung ist es gewiss nicht, wenn 2000 Menschen (auf den öffentlichen Bilden sieht man überwiegend komplett schwarz gekleidete Männer mit Hüten) fast 2 Stunden teils Straßen bevölkern und versperren.
Das löst zurecht Befremden und Ablehnung aus.
Wenn man dabei gleich "Antisemitismus!" kräht, ist man am Ende vielleicht selber einer.
Noch nie war Religionskritik die letzten Jahre mehr angebracht als heute. Es gibt Menschen, die nehmen die Kritik am Judentum da heraus weil sie meinen das sei antisemitisch. Also billigt man genitale Verstümmelung bei Jungen und lächelt milde, wenn ein orthodoxer Jude einer Frau die Hand nicht gibt (das muss man doch verstehen, hat traditionelle Gründe!). Ehm, ja. Verstehe.
Anders als die Autorin des unten verlinkten Artikels bin ich nicht der Meinung, dass man auf orthodoxe Gläubige zugehen muss. Ganz im Gegenteil-man sollte sich abwenden aber Hallo.

https://www.blick.ch/news/schweiz/das-sagt-davos-nach-der-staenkerei-ueber-juden-beide-seiten-muessen-aufeinander-zugehen-id15477731.html

thomas weigle
thomas weigle
4 Jahre zuvor

"Andersdenkende" in größerer Zahl lösen auch gerade deshalb Befremden/Ablehnung aus, weil sie meist auch das Anliegen haben, für ihre Überzeugung und/oder um Mitglieder zu werben. Das ist bei Juden nicht so. Es gibt nicht nur kein Missionsgebot oder gar Zwang dazu,, es ist sogar ziemlich schwer Jude zu werden, wenn überhaupt, Für den orthodoxen Teil des Judentums gilt m.W.n., dass Jude nur ist, wenn die Mutter jüdisch ist. Was also soll die Aufregung?

Helmut Junge
Helmut Junge
4 Jahre zuvor

Ich war nicht dort, hab es nicht gesehen und weiß deswegen nicht, wie diese Veranstaltung auf mich gewirkt hätte. Davos ist auch nicht meine Heimat.
Ich kann mich aber theoretisch hineindenken. Ich weiß ja, daß ich ziemlich voreingenommen bin, was Juden betrifft. Ich bin nämlich prosemitisch, falls es diesen Begriff überhaupt gibt. Dementsprechend hätte ich diese Störung vermutlich nicht als Störung empfunden, sondern wäre neugierig geworden, darüber, was das sein sollte. Denn gesehen habe ich so etwas noch nie. Dagegen habe ich schon andere Minderheiten beobachten können, die wegen Fußball, Hochzeiten, Autokorsen usw. meist spontan und UNANGEMELDET die Straße aus eigener Machtvollkommenheit lahmlegen. Immer verknüpft mit viel Getöse. Da wäre manchmal Empörung meinerseits gerechtfertigt. Laut beklagt habe ich mich aber m.W. noch nie. Das wäre bei mancher Veranstaltung auch nicht ratsam. Wer sich also laut beklagt, ist vermutlich sicher, daß es für ihn keine Folgen haben wird. Das spricht für die Juden in Davos.

Nina
Nina
4 Jahre zuvor

@#5 thomas weigle: Klingt ja fast so, als wären Juden die besseren Gläubigen. Hüstel. Dieses Denken kann eine Form von verstecktem Antisemitismus sein.

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