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Die Krefeldebatte: Empörungsmaschinerie und Whataboutism

Renaissance von Aufklärung und Engagement in Stéphane Hessels „Empört Euch!

 Nachdem das Essay „Empört Euch!“ des ehemaligen französischen Widerstandskämpfers und UN-Diplomaten Stéphane Hessel im Oktober 2010 veröffentlicht wurde, stieg die verkaufte Auflage bis Februar 2011 auf über eine Million Exemplare und bewegte damit die französische Nation. Im Gespräch mit Rudolf Balmer gibt sich Hessel bescheiden:

„Als dieses Büchlein letzten Herbst entstand, begann man in Frankreich gerade über die Präsidentschaftswahlen 2012 zu diskutieren. Ich wollte in diesem Zusammenhang sagen, dass es Grundwerte gibt, auf die man bestehen muss. Das wurde dann wie ein Appell aufgenommen.“

„Empört Euch“ wurde sehr kontrovers diskutiert und mal als Manifest, als Kampfschrift oder als Pamphlet bezeichnet. Dass Hessel es vor den Wahlen publizierte und auf sein Autorenhonorar verzichtete, lässt vermuten, dass es ihm darum ging, damit das Denken der Wähler konstruktiv anzuregen. Bereits mit dem Titel möchte er sie jedoch auch zum aktiven Handeln anregen und damit politisch in den bevorstehenden Wahlausgang eingreifen.

Struktur
1. Die Grundlagen der sozialen Errungenschaften Frankreichs durch das Grundsatzwerk des Nationalen Widerstandsrates (Résistance)
2. Aufforderung an die junge Generation, das geistige und moralische Erbe der Résistance, ihre Ideale mit neuem Leben zu erfüllen und sich gegen die herrschende Bankenklasse zu empören
3. Bezug auf Sartres Existentialismus und die ihm inhärente politische Verantwortung jedes Einzelnen
4. Die „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der UNO als Mittel zur globalen Befreiung von Totalitarismus
5. Hessels persönliche Empörung in der Palästina-Frage
6. Der Weg der Gewaltlosigkeit
7. Für einen Aufstand in Friedfertigkeit und Schlussparole

Argumentationsweise
Hessel führt dem Leser zunächst sämtliche Errungenschaften des französischen Sozialstaats und dessen Ursprünge in der Resistance vor Augen. Damit bezieht er sich auf eine moralische Instanz, die durch ihren Kampf gegen die nationalsozialistische Schreckensherrschaft unanfechtbar ist, als deren Teil er selbst Profi im Thema ist und aus der u.a. die engagierte Literatur von Jean-Paul Sartre und Albert Camus hervorgegangen ist. Anschließend entlarvt er die Bankenklasse und Lobbyisten als Schuldige an der Lüge vom fehlenden Geld für den Sozialstaat: „An vielen Schaltstellen sitzen Bonibanker und Gewinnmaximierer, die sich keinen Deut ums Gemeinwohl scheren.“ Nun kommt Hessel zum Kern seines Plädoyers:

„Das Grundmotiv der Résistance war die Empörung. Wir, die Veteranen der Widerstandsbewegungen in der Kampfgruppen des freien Frankreich, rufen die Jungen auf, das geistige und moralische Erbe der Résistance, ihre Ideale mit neuem Leben zu erfüllen und weiterzugeben. Mischt euch ein, empört euch! Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen, die ganze Gesellschaft dürfen sich nicht kleinmachen und kleinkriegen lassen von der internationalen Diktatur der Finanzmärkte, die es so weit gebracht hat, Frieden und Demokratie zu gefährden.“

Empörung ist zunächst ein geistiger Zustand des wütenden Widerspruchs. Damit geht Empörung auf das kant’sche „Sapere aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ und damit auf den Kern der Aufklärung zurück. Interessant wird dieser Zustand, wenn er angewandt wird: angewandte Empörung wird Protest. Mit diesem geistigen und moralischen Erbe der Résistance rekurriert Hessel indirekt auch auf die französische Revolution und den bis heute gültigen „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ Leitspruch und -werte Frankreichs. Nichts weniger als die ganze Identität Frankreichs und aller Franzosen sind durch die internationale Diktatur der Finanzmärkte akut bedroht, und dagegen soll man sich einmischen.
Hessel untermauert seinen Aufruf mit dem Verweis auf Sartre: „…lehrte uns, dass wir selbst, allein und absolut, für die Welt verantwortlich sind – eine fast schon anarchistische Botschaft. Verantwortung des Einzelnen ohne Rückhalt, ohne Gott. Im Gegenteil: Engagement allein aus der Verantwortung des Einzelnen.“
Dass Hessel im Anschluss deutlich für den Weg der Gewaltlosigkeit eintritt, ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass Sartre offen die These aufgestellt hat, dass gewalttätiger Widerstand und Terrorismus gegen Totalitarismus nicht geheiligtes Mittel zum Zweck sei. Außerdem zeigt er am Beispiel der israelischen Politik, warum Krieg und Gewalt zwingenderweise nur zu Unrecht und Unfrieden führen können.
Hessel beendet sein Essay einige Seiten später mit den Worten: „Den Männern und Frauen, die das 21. Jahrhundert gestalten werden, rufe ich aus ganzem Herzen und in voller Überzeugung zu:

Neues schaffen heißt
Widerstand leisten.
Widerstand leisten heißt
Neues schaffen.“

Die Parole als Ausrufungszeichen des Pamphlets
Mit dem Schluss stellt sich Hessel ganz in die Tradition von Marx‘ Kommunistischem Manifest und dessen Endausruf: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“. Es ist der finale Aufruf mit vorheriger Ansage zur Aktion, mit dem Hessel in einer vice-versa-Formulierung sein Plädoyer für ein Engagement der Empörung plausibel beendet.

Veränderung durch Empörung in „Engagiert euch!“
Wie Veränderung durch Empörung konkret aussehen kann, erklärt Stéphane Hessel später im Gespräch mit Gilles Vanderpooten detailliert, das Interview ist unter dem Titel: „Engagiert Euch!“ erschienen.

„Im Gespräch mit Gymnasiasten und Studenten, die am Beginn ihres Berufsweges stehen, ist meine Botschaft: „Macht euch klar, was euch stört und empört, und dann versucht herauszufinden, was ihr konkret dagegen unternehmen könnt.“

Damit steht Stéphane Hessel eindeutig in der Tradition der politisch engagierten Literatur der französischen Existentialisten. Humanistisches Engagement ist wichtiger denn je, das lehrt uns seit dem letzten Jahr insbesondere die 16jährige Greta Thunberg als Kopf der FfF-Bewegung. Sie hat konkret gehandelt, nämlich die Schule geschwänzt und ist stattdessen für die Zukunft der Erde auf die Straße gegangen. Und sie hat immer mehr Mitstreiter gefunden, bis die Bewegung zu der geworden ist, die heute Politiker in allen Ländern neu nachdenken lässt. Eine sechzehnjährige Schülerin musste erst die Schule schwänzen, um die junge Weltöffentlichkeit wachzurütteln, nachdem Joseph Beuys bereits in den 70ern Eichen für die Zukunft pflanzte und Al Gore 2006 gemeinsam mit Davis Guggenheim in ihrem Film „Eine unbequeme Wahrheit“ die wissenschaftlichen und politischen Aspekte der globalen Erwärmung vermittelte, die der aktuelle Hauptmieter im Weißen Haus gebetsmühlenartig leugnet.
Was ist seitdem schief gelaufen? Und was läuft jetzt wieder schief in den hypererregten Diskussionen um Flugscham, Böllerscham, SUVscham, Kreuzfahrtscham?

Die Krefeldebatte
Ein Beispiel hierfür Ist die Krefeldebatte nach dem Brand des Affenhauses im dortigen Zoo, bei dem 30 der Bewohner verbrannten. Ausgelöst worden war der Brand durch sogenannte Himmelslaternenn, ein chinesisches Feuerwerk, das hierzulande zwar verboten ist, aber dennoch vertrieben wird. Eine Welle des Betroffenheitsjournalismus schwappte wie ein Tsunami durch den Medienwald und riss alle mit sich, öffentlich bekundete Mitleidswellen und Betroffenheitstourismus zur Affenhausruine einschließlich dem Niederlegen von Blumen, Kränzen und Kerzen vor Ort waren die Folge. Die Suche nach den Schuldigen lief auf Hochtouren. Die Feuerwerker stellten sich bald den Behörden, doch im Betroffenheitsdiskurs wurden darüber hinaus ebenso die Chinesen als Erzeuger der tödlichen Raketen, als auch Gemischwarenhändler wie das Unternehmen Amazon ausgemacht. Dass die Tiere nicht zuletzt deshalb verbrannten, weil sie aus ihrem Gefängnis nicht fliehen konnten, las man selten. Wir haben diese Tiere eingesperrt und die Krefeldebatte wäre ein guter Anlass, über den Sinn und Unsinn der Zoologischen Gärten nachzudenken. Eine Aktivistin der Giordano-Bruno-Stiftung klärte mich in diesem Zusammenhang auf: „Tatsächlich ist das Mitgefühl für die Affen das, was Humanismus auszeichnet. Alle Lebewesen sind gleich. Der Mensch ist nicht wertvoller als ein Affe. Nicht umsonst unterstützt die gbs das Great Ape Project.“ Wenn das die Richtschnur ist, dann müssen wir sowohl die Zoohaltung, die Nutztierhaltung, Groß- und Kleintierhaltung kritisch überdenken. Auf Pferden, Ponys oder Kamelen zu reiten, wäre dann auch genauso wenig mit dem Gedanken der Wertegleichheit vereinbar, wie jeglicher Fleischkonsum. Doch soweit reicht der Atem der Empörialisten nicht, sie gefallen sich in hypererregten Beileidsbekundungen.

Als der Ruhrbarone-Kollege Robin Patzwald hier unter dem Titel „Trauer um tote Affen steht längst in keinem nachvollziehbaren Verhältnis mehr.“ schrieb, dass es eben doch „nur“ Tiere waren, die ums Leben gekommen sind und angesichts der um sich greifenden Hysterie dazu aufrief, doch mal den Ball flachzuhalten, wurde er dafür sehr angefeindet, einige Kritiker benutzten die rhetorische Allzweckwaffe des Whataboutism gegen ihn, weil er den Vergleich zu den in Deutschland täglich getöteten Tieren im Straßenverkehr wagte oder einen Blick nach Australien. Dort sind nach ersten Schätzungen bei den verheerenden Buschbränden inzwischen 1.000 000 000 Tiere verbrannt. Als ich den Beitrag mit Zuneigung teilte und die ketzerische Frage stellte, ob man angesichts der geopolitischen Entwicklungen im Nahen Osten keine wichtigeren Themen hätte, wurde mir ebenso Whataboutism vorgeworfen. „Die Aussage ‚Es sind nur Tiere‘ ist widerwärtig und eben zutiefst unhumanistisch.“. Der Effekt dieses Empörialismus bei mir war zunächst der Erwartete, ich fühlte Humanscham und mich als empathielosen, unhumanistischen Kretin desavouiert; und gedehmütigt.

Kehren wir zum ursprünglichen Thema der Empörung und des persönlichen Engagements zurück, so erkennen wir Unterschiede zwischen Krefeld, Australien und Nahost. Im Falle von Krefeld handelt es sich um einen Unfall, ob aus Fahrlässigkeit, werden die zuständigen Stellen zu klären haben. Sie haben auch dafür zu sorgen, dass verbotenes Feuerwerk wie ebenjene Himmelslaternen nicht mehr über deutsche Grenzen gelangen können. Das persönliche Engagement könnte hier bei dem Diskurs um die Zookultur in Deutschland ansetzen.

Die Buschfeuer in Australien sind eine verheerende Naturkatastrophe. Wer dagegen ankämpfen möchte, sollte sich zum Feuerwehrmann ausbilden lassen. Ansonsten steht die normalsterbliche Menschheit solchen Katastrophen meist eher ohnmächtig gegenüber. Meine Bewunderung gilt hier übrigens gleichermaßen den Kollegen in Krefeld und in Australien den Feuerwehrleuten; sie sind Helden, die unter Einsatz ihres Lebens alles versuchen, um Schlimmeres zu verhindern und zu retten, was zu retten ist.

Meine ketzerische Frage bezüglich der größeren Probleme in Nahost war deshalb kein Whataboutism, weil es das aktuelle Problem ist, das in der Zukunft viele Menschenleben fordern könnte, wenn die Zivilbevölkerung dagegen nicht auf die Straße geht. Und das kann jeder. Dabei ist egal, auf welcher Seite man steht: es spielt keine Rolle, ob ich den Tod Suleimanis begrüße oder nicht, ob ich finde, dass er ein Terrorist war, oder nicht – die Art und Weise der Durchführung war stümperhaft, mich ergreift Liquidationsscham. Es war de facto ein Angriffskrieg, die aggressive Entscheidung eines Einzelnen. Iran hat geantwortet. Mit dem Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine steigt die Anzahl der Toten in diesem Krieg bereits auf 178. Wenn der Gang zurück an den Verhandlungstisch nicht gelingt, dann erwartet uns der nächste Nahost-Flächenbrand. Und der reicht ganz schnell bis nach Europa. Bei dem Gedanken wird mir mulmig. Denn er betrifft – mal ganz egoistisch betrachtet – mich, meine Zukunft und meine Freiheit sehr direkt und wesentlich mehr, als dreißig verbrannte Tiere. Deren Feuertod ganz außer Frage schrecklich ist. Doch über die gerechtfertigte Trauer über den Tod der 30 in Krefeld und 1.000 000 000 in Australien gestorbenen Tiere, sollten wir nicht die Frage aus den Augen verlieren, welche weltpolitischen Tendenzen und Krisen wir mit gesunder Empörung und dem  persönlichen Engagement positiv beeinflussen können.

Die Empörungmaschinerie mitsamt ihrer  vermessenen Deutungshoheit führt gemeinsam mit der reflexhaften Unterstellung des Whataboutism im Diskurs zum Verlust an Ambiguität, an Mehrdeutigkeit und damit direkt in den Meinungstotalitarismus.

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Nina
Nina
4 Jahre zuvor

Für mich geht es da weniger um Empörung muss ich sagen als um Empathie und um den allgemeinen Fakt, dass sich Dinge im Verhalten der Menschen im Internet und durch das Internet geändert haben. Die Möglichkeiten sich zu äußern und zu beteiligen haben sich verändert. Das ist grundlegend erst mal gut und v.a. ein Fakt. Dennoch führt es genau zu dem Phänomen, das wir als "Hysterie" und Moralisierung beobachten.
Empathie allerdings ist immer gut. Und der Satz "Sind doch nur Tiere." ist immer Mist.
Jetzt möchte ich auch mal etwas Ketzerisches einbringen und da ist die Empörung vorprogrammiert. Es gibt tagtäglich weitaus mehr Frauen als Opfer von Gewalt als es bspw. Opfer von Rechtsextremen gibt. Was ist also schlimmer? Eine antisemitisch motivierte Körperverletzung oder die zigfach höhere Gewalt gegen Frauen?

Gerd
Gerd
4 Jahre zuvor

"Ausgelöst worden war der Brand durch sogenannte Himmelslaternenn, ein chinesisches Feuerwerk, das hierzulande zwar verboten ist, aber dennoch vertrieben wird."

Was nur der Anlass gewesen sein könnte. Ursache war viel eher die verbotene Verwendung von relativ leicht entflammbaren Materialien bei einem Umbau des Gebäudes.

https://www.achgut.com/artikel/die_30_toten_affen_von_krefeld_was_vertuscht_werden_soll

Helmut Junge
Helmut Junge
4 Jahre zuvor

Acrylglas ist nicht nur brennbar, sondern nachweislich auch nicht hagelfest. Für mich ist es kaum faßbar, daß das Dach nach Hagelschäden am vorherigen Glasdach ausgerechnet mit Acrylglas neu gedeckt wurde.
Spätestens nach dem nächsten schweren Hagelsturm wäre das Acryldach ebenso durchlöchert worden, wie das vorige Glasdach. Nur daß das Acryl genauso brennbar ist wie Holz.
Sogar Privatleute decken ihre Pavillondächer mit den deutlich teuereren Polycrbonatplatten.
Warum nur?
Aber so brennbar Acryl auch ist, ob ein Teelicht ausreicht es zu zünden, halte ich für unwahrscheinlich.
Vielleicht war es doch eine andere Ursache.

Helmut Junge
Helmut Junge
4 Jahre zuvor

In meinem Kommentar (3) muß es heißen Acrylglas ist nicht nur brennbar, sondern "nach meiner persönlichen Erfahrung", statt "nachweislich" auch nicht hagelfest.
Wenn es ausreichend dick ist, sollte es lt. Verkäufer auch " jeden Hagel" aushalten.
Aber Hagelkörner werden allerdings auch immer dicker.
Ich habe mich aber anders entschieden und einen schweren Hagel hat mein Pavillion schon ausgehalten. Ich spreche ausdrücklich von meiner persönlichen Erfahrung und nicht von wissenschaftlichen Tests.

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