Die Ukraine, Russland und die Linie Archangelsk- Astrachan

Feldmarschall Friedrich Paulus nach der Niederlage in Stalingrad 1943 in sowjetischer Gefangenschaft Foto: Bundesarchiv, Bild 183-F0316-0204-005 Lizenz: CC-BY-SA 3.0


Putins Bedrohung der Ukraine, die Eroberung des Doness und der Krim sind die größte Bedrohung des Friedens in Europa und erfordern die Standfestigkeit des Westens. Ein Grund die Geschichte umzuschreiben sind sie jedoch nicht.

Niemand, vielleicht noch nicht einmal der russische Präsident Vladimir Putin, weiß was in den kommenden Tagen passieren wird: Kommt es zu einer russischen Invasion in der Ukraine? Haben die diplomatischen Bemühungen Erfolg? Wir erkennen einmal mehr, dass es angenehmer ist, über Geschichte zu lesen als sie zu erleben.

Wenn Peter Pomerantsev nun in der Zeit schreibt, „Wie unter anderem der Historiker Timothy Snyder von der Universität Yale deutlich gemacht hat, vernachlässigt das deutsche Schuldgefühl gegenüber Russland aus dem Zweiten Weltkrieg, dass Hitlers Ziel immer die Besetzung und Versklavung des „Brotkorbs“ Ukraine und nicht Russlands war und dass die menschlichen Opfer in der Ukraine ähnlich grauenhaft waren wie jene in Russland.“ Ist das an entscheidenden Stellen falsch. Ja, der Krieg Deutschland gegen die Sowjetunion fand vor allem in der Ukraine und Weißrussland statt, aber das lag weniger an den Zielen Deutschlands, sondern am Erstarken der Roten Armee Ende 1941 und der Professionalisierung der sowjetischen Armeeführung. Hitlers Ziel war auch, aber nicht vor allem, die Eroberung des „Brotkorbs“ Ukraine. Die Wehrmacht sollte im Osten drei Ziele erreichen: Die komplette Zerstörung Leningrads, das Hitler als intellektuelles Zentrum des Bolschewismus sah, der Eroberung Moskaus und im Süden die Eroberung der Ukraine und der russischen Ölförderung am Kaspischen Meer. Die Wehrmacht wollte in der Sowjetunion ein Territorium unterwerfen, das von einer Linie, die von Archangelsk im Norden bis Astrachan im Süden reichte, begrenzt werden sollte. Neben den Ölförderanlagen am Kaspischen Meer und den landwirtschaftlichen Ressourcen der Ukraine hätte auch der größte Teil der Industrieanlagen der Sowjetunion zur deutschen Beute gehört. Dass es innerhalb weniger Monate gelingen würde, zahlreiche Rüstungsbetriebe im Westen der Sowjetunion ab- und in Sibirien wieder aufzubauen, war zu Beginn des Krieges unvorstellbar und grenzt auch im Nachhinein an ein Wunder.

Einen Punkt auf der Linie Archangelsk- Astrachan erreichte die Wehrmacht übrigens: Stalingrad.

Wobei ich zu meinem zweiten Kritikpunkt an dem Text von Pomerantsev komme. Es gibt sowohl bei Rechten als auch autoritären Linken eine Bewunderung für Putin und ab und an wird auch eine angebliche Seelenverwandtschaft der Deutschen und Russen bemüht wird, deren Mentalitäten sich von der „Oberflächlichkeit des Westens“ unterscheiden soll. Dass aber das Verhältnis der Deutschen zu Russland von einem schlechten Gewissen geprägt sein soll, halte ich für eine Legende. Weder der Generalplan Ost, der den Hungertod von 30 Millionen Menschen vorsah, noch die Verbrechen der Wehrmacht an der Zivilbevölkerung oder den Rotarmisten, die in den Gefangenenlagern verreckten, spielen in der deutschen Erinnerung eine zentrale Rolle. Wichtiger ist der Horror der Niederlage, der mit dem Namen Stalingrad verbunden ist. Zwar brachte die Rote Armee der Wehrmacht mit der Operation Bagration im Sommer 1944, während deren Verlauf die Heeresgruppe Mitte zerschlagen und 28 Divisionen ausgelöscht wurden, eine noch heftigere Niederlage bei, es war die schwerste einer deutschen Armee aller Zeiten, aber Stalingrad wurde zum Mythos. Die Deutschen haben weniger ein schlechtes Gewissen gegenüber „Russland“ als Angst, erneut so vernichtend geschlagen zu werden. Diese Angst prägt das Verhältnis zu Russland in weiten Teilen der Bevölkerung. Sie ist das Ergebnis der Kampfkraft der Roten Armee. Was gerne übersehen wird:  In der Roten Armee kämpften Angehörige aller Völker der Sowjetunion. Die Wehrmacht verlor den Krieg im Osten nicht nur gegen Russen, sondern auch gegen Kasachen und Usbeken. Von der eingebildeten rassischen Überlegenheit der Deutschen blieb am Ende des Krieges nichts übrig.

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Christof Bieker
Christof Bieker
2 Jahre zuvor

Die Situation sieht Hitlers eskabaren zum zweiten Weltkrieg ähnlich,Hitler Putin irgenteine Verbindung?

Thomas Baader
Thomas Baader
2 Jahre zuvor

"Dass aber das Verhältnis der Deutschen zu Russland von einem schlechten Gewissen geprägt sein soll, halte ich für eine Legende."

Als weit verbreitetes Phänomen innerhalb der deutschen Bevölkerung gibt es ein solches schlechtes Gewissen tatsächlich nicht. Bei einzelnen politischen Akteuren schon (oder, falls doch nicht, dann heucheln sie zumindest ein solches schlechtes Gewissen, denn entsprechende Aussagen – die deutsche Geschichte verbiete eine einseitige Parteinahme zugunsten der Ukraine gegen Russland – gab von bestimmten Politikern tatsächlich).

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