Erinnerungskultur: Claudia Roths zweifelhafter Gestaltungswille sollte gebremst werden

Claudia Roth by PantheraLeo1359531 CC-BY 4.0


Wie soll in Deutschland in Zukunft die Erinnerungskultur staatlich organisiert und finanziert werden? Das Haus der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Claudia Roth, hat dazu ein Rahmenkonzept veröffentlicht, das von den Vertretern der Gedenkstätten scharf kritisiert worden ist.

Das „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“ ist ein Text von sagenhafter Schludrigkeit. Die Verfasser schreiben: „Der Holocaust stand allerdings in den ersten Dekaden nach Kriegsende keineswegs im Mittelpunkt deutscher kollektiver Erinnerung. So dauerte es fast vierzig Jahre, bis die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die eigene Schuld und Verantwortung aus der Zivilgesellschaft heraus erkämpft wurden.“ Nur wenige Zeilen später weisen sie korrekt auf die große Bedeutung des Frankfurter Auschwitzprozesses 1963 und der Arbeit des Staatsanwalts Fritz Bauer sowie der Serie „Holocaust“ hin. Beide Ereignisse fanden innerhalb der ersten 40 Jahre nach dem Untergang des nationalsozialistischen Deutschlands statt und hatten nichts mit der Zivilgesellschaft zu tun: Bauer war als Staatsanwalt Mitarbeiter der Justiz, die Serie „Holocaust“ wurde 1978 vom amerikanischen Medienunternehmen National Broadcasting Company (NBC) produziert. Der Text des BKM ist in weiten Teilen eine Aneinanderreihung von Schlagworten, die oft den Eindruck erwecken, willkürlich hingeworfen worden zu sein. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte sollte sich schon textlich und inhaltlich auf einem höheren Niveau abspielen. Denn der Anspruch von Claudia Roth (Grüne), der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und ihren Mitarbeitern, ist groß: „Das vorliegende Konzept versucht, diesen Anspruch zu unterlegen und den Rahmen zu beschreiben, in dem von zivilgesellschaftlich getragenen Unterfangen bis hin zu einer möglichen Neuausrichtung des Gedenkstättenkonzepts eine lebendige und auf die Zukunft unserer Demokratie ausgerichtete Erinnerungskultur Platz finden kann.“

Das Ziel der Bundesregierung ist es, die Erinnerungskultur in Deutschland zu erweitern. Zurzeit stehen die nationalsozialistischen Verbrechen und insbesondere der Holocaust im Zentrum. Das von den Nationalsozialisten regierte Deutschland war verantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen Juden, was der auch in dem BKM-Text zitierte Historiker Dan Diner zutreffend als „Zivilisationsbruch“ beschrieb. Zu den Opfern des deutschen Terrors gehören zudem Sinti und Roma, Sozialdemokraten, Kommunisten, Millionen Bewohner von von Deutschland besetzten Gebieten und die Opfer des Krieges. Die Vernichtung von mehr als 50 Millionen Menschenleben hat Deutschland zu verantworten.

Die Sorge der Gedenkstätten und anderer Kritiker des Rahmenkonzeptes ist, dass diese Verbrechen künftig dadurch relativiert werden könnten, indem man sie mit den Verbrechen des Kolonialismus, den Erfahrungen der Zuwanderer, der Unterdrückungsgeschichte der DDR oder einzelnen Nazimorden aus der nahen Vergangenheit auf eine Stufe stellt. Ohne Frage: All diese Themen sind erinnerungswürdig und wurden oft bislang nicht ausreichend aufgearbeitet. Das trifft auf die deutschen Kolonialverbrechen ebenso zu wie auf das brutale Besatzungsregime Deutschlands auf dem Balkan oder auch den Einfluss der DDR auf die Politik der Bundesrepublik. Vieles wird in dem BKM-Papier angerissen, doch nur mit Schlagworten beschrieben, die zeigen, dass die Autoren sich mit der Geschichte eher oberflächlich beschäftigt haben, was nicht angemessen ist. Die Sorge der Gedenkstätten und anderer Kritiker des Papiers ist, dass es sich als Trojanisches Pferd erweisen könnte, um den „post-colonial turn“ weiter durchzusetzen, wie Philipp Dinkelaker in der Jungle World schrieb: „Das BKM fällt mit seinem Entwurf hinter die mühsam gegen politische und gesellschaftliche Widerstände durchgesetzte Forschung zur historischen »Präzedenzlosigkeit« (Yehuda Bauer) der Shoah zurück. Weder Holocaust-Forschung noch -Gedenken haben je die ihnen heute unterstellte Ausschließung des Kolonialismus postuliert, sondern Begriffe und Vorlagen geschaffen, die zur kritischen Anwendung auf andere Felder einladen. Einigen Protagonisten des »post-colonial turn« geht es aber nicht um sachlichen Dialog, sondern darum, aus politischem Interesse die Spezifik der Shoah zu relativieren. Nicht selten geht dies einher mit der Dämonisierung Israels und der Ausblendung des (islamischen) Antisemitismus.“ Die Öffnung für postkolonialistische Perspektiven bedeutet nicht die Beschäftigung mit der Kolonialpolitik und ihre Folgen, sondern einer Ideologie Raum zu geben, für die Israel ein Kolonialstaat ist, der vernichtet werden muss. Eine solche Politik könnte am Ende jene zufrieden stellen, die nach den Pogromen der Hamas am 7. Oktobers vergangenen Jahres mit der Parole „Free Palestine from German Guilt“ gegen die Politik der Bundesregierung protestierten. Würde der Holocaust weiterhin im Zentrum der deutschen Erinnerungskultur stehen, könnte das als Provinzialität und als Weigerung denunziert werden, eine Multidirektionale Perspektive einzunehmen. Doch solche Vorwürfe laufen ins Leere: Geschichte ist immer auch, wenn nicht nur, Nationalgeschichte und die Verbrechen der Nazizeit werden dieses Land wahrscheinlich noch mehrere Jahrhunderte prägen. Der Umgang mit dieser Geschichte wird auch der Maßstab sein an dem man dieses Land misst, wenn niemand sich mehr an postmoderne Theorien erinnert.

Dafür spricht, dass einer der wenigen Historiker, der sich hinter das BKM-Papier stellte, Jürgen Zimmerer ist. Der Hamburger gehört zu den prominentesten postkolonialen Geschichtswissenschaftlern der Bundesrepublik und wurde vor allem durch sein Buch „Von Windhoek nach Auschwitz“ bekannt, in dem er versuchte zu belegen, dass mit dem 1904 in der damaligen deutschen Kolonie „Deutsch-Südwest“, dem heutigen Namibia, begangenen Völkermord an den Herero und Nama die Grundlagen für den Holocaust gelegt wurden. Zimmerer schrieb im Spiegel: „Claudia Roths Rahmenkonzept zur Erinnerungskultur gelingt – zumindest auf konzeptioneller Ebene – nichts Geringeres als die Modernisierung der deutschen Erinnerungslandschaft, ihre Anpassung an die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts, allen voran der Migrationsgesellschaft.“

Der von Dinkelaker zitierte „post-colonial turn“ meint nicht nur eine intensivere Beschäftigung mit der Kolonialgeschichte und ihren Folgen. Viele Anhänger des Postkolonialismus, jedoch nicht Zimmerer, der eine vergleichbar moderate Position vertritt und, wie im Gespräch mit dem Historiker Michael Wolffsohn, als Moderator zwischen klassischer Geschichtswissenschaft und den hippen Postkolonialisten auftritt, sehen in ihm vor allem eine aktivistische Theorie, die genutzt werden kann, um im Westen entstandene Ideen wie die Menschenrechte und den Universalismus zu denunzieren. Zudem gilt Israel in diesem Milieu als europäischer Kolonialstaat und die Hamas wird als Befreiungsbewegung durchaus geschätzt: „Die Dämonisierung Israels ist in dieser Strömung seit langem Standard“, schreibt Ingo Elbe in der Jüdischen Allgemeinen.

Bei manchem, was in dem Papier steht, hat man das Gefühl, dass den Autoren die Tragweite ihrer Vorschläge nicht ganz bewusst ist. „Deutsche Geschichte ist auch die Geschichte der Vorfahren derjenigen, die zu uns gekommen sind. Strukturen und Räume hierfür zu schaffen bzw. diese Geschichte in die gegenwärtige Erinnerungskultur einzuschreiben, ist Teil der hier beschriebenen Aufgaben.“ Praktisch würde das bedeuten, auch den Anteil der Araber und subsaharischen Reiche an der Sklaverei zum Thema zu machen, die Erfahrungen von Griechen, Bulgaren oder Serben unter dem Joch des Osmanischen Reiches als Teil deutscher Geschichte zu sehen und auch die Unterdrückung der Kurden einzubeziehen, um nur wenige Beispiele zu nennen. Die Reihe ließe sich mit besten Gründen fast beliebig fortsetzen. Das würde allerdings auch bedeuten, geschichtspolitische Konflikte noch stärker zu thematisieren, die ohnehin, wenn heute auch oft unter der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle, bereits präsent sind: Wie Griechen, Kurden und Türken zueinanderstehen, ist ohne Geschichtskenntnisse nicht zu verstehen. Aber sollte jede Geschichte im Zentrum der deutschen Erinnerungskultur stehen oder könnte eine Fokussierung nicht doch mehr Sinn machen?

Auch wenn das BKM-Papier betont, „Das Menschheitsverbrechen der Shoah und die Verbrechen des Nationalsozialismus nehmen als „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) eine einzigartige Rolle in der deutschen Erinnerungskultur ein.“, könnte eine immer weitere Ausweitung dessen, was zu dieser Erinnerungskultur gehört, im Laufe der Jahre zu einer Relativierung der Bedeutung des Holocausts führen. Genug Kräfte im Lager postkolonialer Historiker und Aktivisten dafür gäbe es und würde das Konzept umgesetzt, würden ihnen auch mehr Mittel zur Verfügung stehen. So gesehen passt es in die Politik der Bundesregierung, die wie auch beim Demokratiefördergesetz bemüht ist, vor allem ihr nahestehende Milieus finanziell möglichst dauerhaft gut auszustatten, was ja nichts anderes als kluge und langfristig gedachte Machtpolitik ist.

In einer Stellungnahme der Gedenkstätten zum Rahmenkonzept wird dieses scharf kritisiert: „Der Entwurf leitet einen geschichtspolitischen Paradigmenwechsel ein, der zu einer fundamentalen Schwächung der Erinnerungskultur führen würde.“ Er verabschiede sich von dem langjährigen Konsens, dass die nationalsozialistischen Verbrechen nicht relativiert werden dürften.

In einem Land wie Deutschland, das von Zuwanderung geprägt ist, gewinnt die Geschichte der Länder, aus denen die Zugewanderten kommen, an Bedeutung. Und sie ist häufig mehr mit der deutschen Geschichte verbunden, als viele glauben. Wer weiß schon, dass auf alliierter Seite Soldaten aus afrikanischen Kolonien und Indien an den Fronten in Nordafrika oder Europa gegen die Deutschen kämpften oder kämpfen mussten und so zur Befreiung Europas beitrugen? Aber ein „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“ kann nicht alle historischen Erfahrungen integrieren, weder in- noch ausländische. Die Aufgabe ist zu groß. Es macht Sinn, sich zu konzentrieren und vor allem darauf zu achten, dass der Holocaust und andere Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands weiterhin im Zentrum stehen. Der Holocaust war kein Genozid wie viele andere zuvor oder danach, er hat eine gut begründete Sonderstellung. Kolonialismus, Terrorismus von links und rechts haben wie die DDR-Diktatur Deutschland geprägt. Es muss eigene Gedenk- und Erinnerungsorte geben und oft ist das auch schon der Fall. Andere sind besser im Geschichtsunterricht aufgehoben oder sollten Thema von Debattenbeiträgen und Artikeln sein. Es ist eine politische Entscheidung, was in den kommenden Jahrzehnten im Zentrum der Erinnerungspolitik steht. Und genau darum geht es bei dem Entwurf des BKM. Das Haus Roth scheint sie nutzen zu wollen, um die Versorgung der eigenen Klientel abzusichern und ansonsten einen „Erinnerungseintopf“ anzurühren, wie es Philipp Dinkelaker in der Jungle World formulierte. Es bleibt zu hoffen, dass Claudia Roth beides nicht mehr gelingt. Die Chancen stehen gut, dass sie nach der nächsten Bundestagswahl nicht mehr im Bund für Kultur zuständig sein wird. Bis dahin sollte ihr zweifelhafter Gestaltungswille gebremst werden.

Mehr zu dem Thema:

Dokumentation: Das Rahmenkonzept Erinnerungskultur und die Stellungnahme der Gedenkstätten

 

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