Essen: Jugendliche haben nur ein überschaubares Interesse an einer dauerhaften Bleibeperspektive

Essen Altendorf Foto: Laurin


Die Stadt Essen versucht, ausländischen Jugendlichen eine dauerhafte Bleibeperspektive in Deutschland zu eröffnen. Der Erfolg des Projekts „Essener Modell – Integration von Geduldeten“ ist durchmischt.

Neben Berlin und Bremen ist Essen eine der drei Städte in Deutschland mit den größten Problemen im Bereich Clankriminalität. Auch wenn das Innenministerium NRW 2021 einen deutlichen Rückgang der Straftaten feststellen konnte, sorgen Massenschlägereien wie im Juni im Stadtteil Altendorf für Schlagzeilen. Stadt und Polizei versuchen schon seit Langem mit einer Mischung aus harten Maßnahmen und Dialogbereitschaft das Problem in den Griff zu bekommen: Es finden regelmäßig Razzien statt, es gab einen gescheiterten Versuch der Kooperation mit muslimischen Friedensrichtern und einem Verband libanesischer Vereine, einer Art Clan e.V..

Nun versucht die Stadt die Jungen davor zu bewahren, in der Clanszene abzurutschen, indem sie Jugendlichen hilft, eine dauerhafte Bleibeperspektive zu erlangen. Bis März hat das Jugendamt 460 in Deutschland nur geduldete Jugendliche und junge Erwachsene bis 35 Jahren mit „kurdisch-libanesischem Hintergrund“ angesprochen. Sie alle haben keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für Deutschland. Ihre Staatsangehörigkeit ist unbekannt. Geboren und aufgewachsen sind sie zumeist in Deutschland.

Viele ihrer Familien dürften, folgt man Experten wie dem Berliner Autor Ralph Ghadban, ursprünglich aus den Kurdengebieten der Türkei gekommen sein und nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Libanon in den 70er und 80er Jahren nach Deutschland weitergezogen sein. Ihre Anträge auf Asyl wurden abgelehnt, aber da sie keine Staatsangehörigkeit haben, konnten sie nicht abgeschoben werden. Weder die Türkei noch der Libanon wollen sie aufnehmen.

Eine Aufenthaltserlaubnis würde das Leben erleichtern: Ausbildungs- Miet- bis und Handyverträge lassen sich leichter schließen, man kann sein Leben in Deutschland planen und sich eine Existenz aufbauen. Um an dem Modell teilnehmen zu können, müssen jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: Die Teilnehmer müssen regelmäßig zur Schule gehen, einen Ausbildungsplatz oder einen Job haben. Sie müssen längere Zeit in Essen leben und straffrei sein. Ein Hilfsprogramm für kriminelle Clanmitglieder ist das Essener-Modell nicht, im Gegenteil: Es will Perspektiven bieten, um dem Absacken in die Szene vorzubeugen.

Doch das Interesse an einem dauerhaften Aufenthaltstitel hält sich in Grenzen: Nur 57 der 460 angesprochenen haben die Chance wahrgenommen und befinden sich jetzt im „Essener Modell“. 19 von ihnen haben bereits eine zweijährige Aufenthaltserlaubnis und acht nun einen Ausweis ihres Herkunftslandes und damit außerhalb des Modells einen gesicherten Aufenthaltsstatus erhalten.

403 angesprochenen Männer und Frauen haben bei dem Essener Modell nicht mitgemacht: Fünf haben sich erst gar nicht zurückgemeldet, bei 106 klärte sich, dass sie, zum Beispiel wegen Vorstrafen, nicht in das Projekt aufgenommen werden konnten. Mit 53 ist die Stadt noch im Gespräch und schaut, ob sie zu noch einem späteren Zeitpunkt einsteigen können.

“140 junge Menschen gaben in Einzelgesprächen an, kein „Interesse“ an der Teilnahme am Essener Modell zu haben.“, teilt die Stadt Essen auf Anfrage der Welt am Sonntag mit. „Mehrheitlich gaben sie an, kein Vertrauen in ein Gelingen der Unterbrechung der Kettenduldung zu haben. Sie berichteten von vielen fehlgeschlagenen Versuchen ihrer Familien, die notwendigen Unterlagen zu beschaffen, von Hoffnungslosigkeit ihrer Eltern und Großeltern, von Unverständnis und Frustration, dass diese Passbeschaffungsbemühungen nicht anerkannt wurden und somit ein Verbleib in der Duldung besiegelt sei.“ Einige der Angesprochenen beschrieben auch Konflikte innerhalb der Familie, die sie an einer Teilnahme hindern würden: „Sollte es im Rahmen einer Teilnahme am Essener Modell nämlich gelingen, Identitätsnachweise, gegebenenfalls auch einen Nationalpass, zu beschaffen, hätte dies auch Auswirkungen auf die Identitätsklärung und Passbeschaffungsmöglichkeiten anderer Familienmitglieder, die dann jedoch befürchten würden, abgeschoben zu werden.“

Auch wenn die Zahlen ernüchternd sind, soll das Projekt weiterlaufen. Die Stadt erhofft sich von denen, die eine Aufenthaltsverbesserung durch das Essener Modell erhalten haben, eine positive Signalwirkung in die Community hinein: Sie sollen den anderen zeigen, dass man den Behörden vertrauen kann und sich die Zusammenarbeit mit ihnen lohnt.

Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Welt am Sonntag

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Uwe Zappel
Uwe Zappel
1 Jahr zuvor

Den am Essener Modell Arbeitenden ist nur ein langer Atem und viel Erfolg zu wünschen. Sie arbeiten an den Folgen einer jahrzehntelangen falschen Flüchtlingspolitik und eines bestenfalls antiquierten Staatsbürgerschaftsrechts.

Die Anwendung des Territorialprinzips bei der Bestimmung des Staatsbürgerschaft für hier Geborenen (also: Wer hier geboren ist, hat auch das Recht auf einen deutschen Pass.) hätte vieles verhindern können.

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