Face-Palm für Boris Palmer: Mehrheit der Corona-Toten hätte noch 10 Jahre zu leben gehabt

Boris Palmer, Tübingens grüner OB
Boris Palmer (GRÜNE): Wir schützen Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären. Foto: Stadt Tübingen

Nein, anders als Boris Palmer meint, retten wir durch den Lockdown nicht nur Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären. Eine neue Studie aus Schottland zeigt anhand der italienischen Todeszahlen, dass die Mehrheit der an COVID-19 gestorbenen Menschen noch mehr als ein Jahrzehnt zu leben gehabt hätte. Selbst Menschen mit schweren Vorerkrankungen hätten ohne Corona noch 13 bzw. 11 Jahre (Männer/Frauen) vor sich gehabt.

Die COVID-19-Pandemie ist weltweit für eine steigende Anzahl von Todesfällen verantwortlich. Da die meisten Corona-Toten älter sind und langfristige Vorerkrankungen haben, geht Boris Palmer, der GRÜNEN-Oberbürgermeister von Tübingen, davon aus, dass sie sowieso nicht mehr lange zu leben gehabt hätten. Unterschwellig sagt er, dass sich der Aufwand diese Menschen vor Infektion und Erkrankung zu schützen, nicht lohnt.

Nun haben Wissenschaftler der Universitäten Glasgow und Edinburgh die Anzahl der verlorenen Lebensjahre von Corona-Opfern geschätzt. Sie nutzen dafür die offiziell veröffentlichten Daten über Alter und Geschlecht der COVID-19-Todesfälle in dem schwer getroffenen Italien. Diese Daten verschneiden sie mit langjährigen Ergebnissen der britischen Gesundheitsstatistik über die Lebenserwartung von schwer erkrankten Menschen. Alter, Geschlecht und verschiedene Arten von schweren Vorerkrankungen werden dabei berücksichtigt und miteinander kombiniert. Sie erstellen damit ein statistisches Modell, das es erlaubt, die Anzahl der verlorenen Lebensjahre eines COVID-19-Toten seines Alters, Geschlechts und seiner Vorerkrankungen abzuschätzen.

Boris Palmer und die Corona-Toten: Verlorene Lebensjahre an COVID-19 verstorbener Männer (Italien)
Verlorene Lebensjahre an COVID-19 verstorbener Männer (Italien)

Die Ergebnisse lassen aufhorchen:

  1. Ohne schwere Vorerkrankungen beträgt die Anzahl der verlorenen Lebensjahre pro COVID-19-Todesfall
    bei Männern:     14 Jahre
    bei Frauen:         12 Jahre
  2. Nach Berücksichtigung der Anzahl und Art der schweren Vorerkrankungen liegt die durchschnittliche Anzahl verlorener Lebensjahre etwas niedriger, bleibt jedoch hoch:
    bei Männern:     13 Jahre
    bei Frauen:         11 Jahre
  3. Zwar führt hohes Alter in Kombination mit schweren Vorerkrankungen tatsächlich zu deutlich weniger verlorenen Lebensjahren, dies aber mit sehr großen Schwankungsbreiten. So liegt zum Beispiel bei Menschen älter 80 Jahre und keinen Vorerkrankungen das Lebensminus bei mehr als 10 Jahren. Haben diese aber eine ernste Vorbelastung, so schwanken die verlorenen Lebensjahre zwischen sechs und drei Jahren.
Verlorene Lebensjahre an COVID-19 verstorbener Frauen (Italien)
Verlorene Lebensjahre an COVID-19 verstorbener Frauen (Italien)

Die schottischen Wissenschaftler schlussfolgern: Todesfälle durch COVID-19 führen zu einer beachtlichen Anzahl verlorener Lebensjahre pro Person, nämlich von mehr als einem Jahrzehnt. Selbst nach Bereinigung um die typische Anzahl und Art von schweren Vorerkrankungen bleibt das Lebensminus im Durchschnitt bei mehr als zehn Jahren. Allerdings beeinflusst das Ausmaß der Multimorbidität die Anzahl verlorener Lebensjahre in der Altersgruppe der 50 bis 70-Jährigen besonders stark. Ab einem Lebensalter von 70 nimmt der negative Einfluss der Vorerkrankungen deutlich zu.

Durchschnittlich verlorene Lebensjahre an COVID-19 verstorbener Menschen in Italien
Durchschnittlich verlorene Lebensjahre an COVID-19 verstorbener Menschen in Italien

Zwar räumen die Wissenschaftler ein, dass es sich bei ihren Ergebnissen nur um Schätzungen handelt. Sie plädieren aber dafür, dass die Gesundheitsbehörden künftig nicht nur wie bisher die Anzahl der COVID-19-Toten angeben sollten, sondern auch die Anzahl der verlorenen Lebensjahre. Geschieht dies nicht, so würden die Auswirkungen der Krankheit auf den Einzelnen erheblich unterschätzt. Siehe Boris Palmer.

 

Hanlon P, Chadwick F, Shah A et al.:

COVID-19 – exploring the implications of long-term condition type and extent of multimorbidity on years of life lost: a modelling study
[version 1; peer review: awaiting peer review]

veröffentlicht auf:
Wellcome Open Res 2020, 5:75 (https://doi.org/10.12688/wellcomeopenres.15849.1)

 

 

 

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Berthold Grabe
Berthold Grabe
4 Jahre zuvor

Boris Palmer hat zunächst überlegenswertes in die Diskussion gebracht, bedingt durch die vorliegenden Informationen. Er hat keine Forderungen gestellt!
Das die Zahlen nun Anderes belegen wird auch für Palmer ein Grund sein, von diesen Überlegungen wieder Abstand zu nehmen.
also wozu die Aufregung? Weil wire eine möglicherweise realistisches Szenario nicht hören wollten oder weil es mittlerweile widerlegt ist?
Sind wir unfähig in der Öffentlichkeit mit ungesicherten Daten umzugehen, mit denen unsere Politiker Tag für Tag umgehen müssen?
Die Infragestellung Palmers war und ist seriös, nicht seriös dagegen sind die Interpretationen die sich empören über vermeintliche Unmenschlichkeit, weil man sich schlicht weigert sich der Varantwortung zu stellen Szenarien zu durchdenken, noch bevor sie überhaupt eintreten.
Bei solcher Empörungspolitik darf man sich nicht über Fake News und der Zugrundeliegenden Verantwortungsunfähigkeit breiter Kreise wundern. wenn die brutalen Szenarien und Risiken nicht mal öffentlich durchdacht werden dürfen.
Das ist Demokratiefeindlich und -schädlich.

josef
josef
4 Jahre zuvor

Diese Studie ist alles andere als auch nur halbwegs ernst zu nehmen. Da werden aus 700 italienischen Todesfällen 10.000 Individuen "simuliert". Sie berücksichtigt nicht die unterschiedliche Lebenserwartung in verschiedenen Ländern noch die in verschiedenen Lebenslagen (ein Mensch im Altersheim hat z.B. eine durchschnittliche Lebenserwartung von 18 Monaten!). Außerdem klärt die Studie nicht ihre eigenen Rechnungsvoraussetzungen. Ein Freund von mir, der vom Fach ist, hat sie sich genauer angesehen und als "Schrott" bezeichnet. Es ist zudem völlig unsicher, ob sie überhaupt der peer review überstehen wird – und wenn man die Diskussion der Leser am Ende der Studie liest, wachsen die Zweifel noch mehr!

Chris Schibulsky
Chris Schibulsky
4 Jahre zuvor

Es ist doch egal, wie lange jemand noch zu leben hat. Man muss auch für einen Menschen, der nur noch ein halbes Jahr zu leben hat, kämpfen. Eine bewusste Entscheidung, solch ein Leben nicht zu beschützen, ist Krankenmord.

JPJEA
JPJEA
4 Jahre zuvor

Man kann die durchschnittliche Lebenserwartung (überwiegend von gesunden Menschen) und damit die Restlebenszeit, nicht mit einem an Vorerkrankungen leidenden Menschen vergleichen. Daher beweist der Artikel gar nichts. Außerdem sind die Zahlen nicht aus Deutschland. Außerdem sagte Palmer ja selbst, dass man seine Aussage als Gedankenexperiment verstanden haben will. Dabei hat er ja nicht Unrecht, dass man die Folgen ethisch abwegen muss. Es sind zu viele Mathematiker und Virologen im TV und zu wenige Ethiker, Pathologen (Folgen für Genesene/Coronaüberlebende), Volkswirte…

Jürgen
Jürgen
4 Jahre zuvor

Die Gedankenspiele von Herrn Palmer lassen außer acht, dass eine prognostizierte Lebenserwartung für Kranke wie Gesunde eine Prognose ist. Das Einzelschicksal eines Jeden fällt einer mathematisch ermittelten Durchschnittszahl zum Opfer. Ob ein Mensch mit schweren oder weniger schweren oder keinen Vorerkrankungen an, mit oder in Folge dieses Virus (oder einer anderen viralen Infektion) zum Opfer fällt und wann das der Fall sein wird, kann man wahrscheinlich erst im Krankenhaus genauer sagen. Vorher aber auf der Grundlage einer mathematischen Berechnung Menschen in zwei Kategorien einzuteilen, ist menschenverachtend. Und das hat Herr Palmer meinem Verständnis nach gemacht.

Personen wie Herr Palmer (oder in Berlin Herr von Dassel) machen für mich eine Partei wie die Grüne/Bündnis 90 mittlerweile unwählbar.

Wolfram Obermanns
Wolfram Obermanns
4 Jahre zuvor

Wie andere schon schrieben, eine inhaltliche 1 zu 1 Übertragung epidemiologischer Erkenntnisse auf andere, in der Studie nicht betrachteter Gruppen ist sehr problematisch. Das funktioniert bekanntlich nicht einmal innerhalb Deutschlands, s. Kandel.

Triage ist, offensichtlich unbemerkt von der Öffentlichkeit, medizinisches Alltagsgeschäft sowohl in der Notfallmedizin bei Großereignissen, wobei ein Großereignis bereits bei einem Helfer und z.B. drei Schwerverletzten gegeben ist, und natürlich z.B. in der Transplantationsmedizin, in der ein Punktesystem über Leben und Tod entscheidet.

Gestützt auf die Ergebnisse der Hamburger Pathologie und der Empfehlungen des Ethikrates, der bestimmt hat, daß niemand aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit diskriminiert werden darf, sondern nur die Überlebenserwartung entscheidend sei, hat sich Palmer mit schroffen Worten in die Öffnungsdebatte eingemischt. Die Kohorte der von Triage betroffenen hat er um Farbige im Ausland erweitert, das hält man unter Grünen für verwerflich.
Merke! Nur weil man nicht mehr Neger sagt, heißt das nicht, daß man sich nicht welche hält.

Helmut Junge
4 Jahre zuvor

Wenn Helfer entscheiden müssen, ist das ihr Gewissen und ihr Problem, und zwar aus einer mit nichts anderem vergleichbaren Notfallsituation. Das kann ich nachvollziehen.
Palmer ist aber kein Helfer, und er muß nicht entscheiden. Er konstruiert aus der Entfernung. Er ist nicht einmal Chef eines Katastrophenteams. Er ist Oberbürgermeister mit komplett anderen Aufgaben. Ihn hat auch keiner gefragt, wer sterben soll und wer nicht. Das macht schon einen Unterschied, ob jemand Empathie kann, oder ob er wie ein General denkt, der einen Teil seiner Truppe opfern muß, um ein militärisches Ziel zu erreichen. Ich würde ihn jetzt nie mehr wählen, weil ich im Zivilleben keinen General brauche.

Bernard O'Brian
Bernard O'Brian
4 Jahre zuvor

Wieviele Lebensjahre gehen verloren beim Tod durch Grippe, Erkältung, Lungenentzündung ?
Warum sind wir seit Mnschengedenken nicht allesamt ständig isoliert von unseren Mitmenschen ?

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