
Hin und wieder heißt es, Friedrich Merz sei ein guter Redner – und im Vergleich mit seinen letzten zwei Vorgängern als Bundeskanzler mag das sogar stimmen. Was aber immer wieder irritiert, ist die Unschärfe in seiner Ausdrucksweise, vor allem dann, wenn es um Migration geht. Dieses Thema verträgt aber keine raunenden und interpretationsfähigen Andeutungen Marke „Stadtbild“ – hier muss permanent Klartext her.
Merz hat einen grundlegenden Missstand auf eine mehr oder weniger ästhetische Frage reduziert – was zu kurz gesprungen ist und zu (gewollten) Missverständnissen geradezu einlädt. Klar leidet auch das Stadtbild unter der unkontrollierten Einwanderung; viele Migranten bringen zum Beispiel etwas andere Vorstellungen mit, wie man im öffentlichen Raum mit seinen Hinterlassenschaften umgeht. Aber wichtiger als diese sichtbaren Folgen sind die eher unsichtbaren, mittelfristig weit wirkmächtigeren. Es geht leider um mehr als Müll auf den Straßen oder migrantische Männergruppen, die Frauen hinterherpfeifen – so ärgerlich und respektlos das alles auch ist.
Die Überforderung der Sozialsysteme ist da als Erstes zu nennen. Ein üppiger, voll ausgebauter und mit reichlich einklagbaren Rechten versehener Sozialstaat wie der deutsche muss fast notwendigerweise unqualifizierte, wenig motivierte und daher ungeeignete Zuwanderer anziehen. Der Anreiz ist einfach zu hoch – was menschlich ja durchaus verständlich ist. Das hohe Absicherungsniveau führt zu nüchternen Abwägungsprozessen, was den Arbeitsmarkt betrifft: Warum einen mäßig bezahlten Job annehmen oder durchziehen, wenn das Bürgergeld inklusive quasi kostenfreier Gesundheitsversorgung nur unwesentlich darunter rangiert?
Leistungen zu beanspruchen, zu deren Finanzierung man wenig bis nichts beigetragen hat, ist in einem Einwanderungsland nicht immer zu vermeiden, kann aber nur ein zeitlich knapp bemessenes Übergangsphänomen sein. Sonst funktioniert die Sache nicht – und löst verständlichen Unmut und entsprechendes Wahlverhalten bei denen aus, die schon länger hier sind. Darunter befinden sich auffallend viele integrierte Menschen mit Migrationsgeschichte, die Missstände oft klarer sehen und deutlicher artikulieren als die saturierten und teils verdrucksten Altdeutschen. Erfolgreiche Einwanderung bedeutet nun einmal individuelle Anstrengung, hat zu allen Zeiten und in allen Einwanderungsländern zunächst überdurchschnittliche Leistungsbereitschaft gefordert. Alles andere ist Träumerei – und somit allerdings sehr deutsch.
Diese Kritik an Friedrich Merz soll natürlich nicht die langweiligen und abgeschmackten Empörungsrituale rechtfertigen, die derzeit wegen des „Stadtbild“-Zitats von den üblichen Verdächtigen zelebriert werden. Den Protestierern geht es nur um ihre schwindende Deutungshoheit: Die Öffentlichkeit soll am besten weiterhin über die Schattenseiten der real existierenden Migration schweigen. Dabei kann jeder, der nicht blind ist beziehungsweise sich nicht blind stellt, in den Städten die Probleme sehen. Die sind zwar nicht vollkommen neu, wurden aber durch die Migrationsmisere à la Deutschland enorm verschärft.
Das entspannte Verhältnis vieler Neubürger zur Vermüllung der Straßen ist in besonders krasser Form etwa in Gelsenkirchen zu besichtigen. Auch andere Städte kommen kaum noch hinterher. Die Stadt Essen beschäftigt heute allein für das Bearbeiten der Bürgerbeschwerden mit 20 Mitarbeitern viermal so viele wie vor einigen Jahren. Offenkundig treffen in vielen Stadtteilen Alltagskulturen aufeinander, die nicht zusammenpassen.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hat Merz das „Stadtbild“-Zitat nicht relativiert, sondern in einer Pressekonferenz am 20. Oktober sogar noch draufgesattelt. Auf Fragen von Journalisten, wie er das mit dem Stadtbild gemeint habe, antwortete er, der Fragesteller möge – falls vorhanden – einfach mal seine heranwachsende Tochter fragen, „was ich damit gemeint haben könnte. Ich vermute, Sie kriegen eine ziemlich klare und deutliche Antwort“.
Abgesehen davon, dass die Belästigung von Frauen weniger ein Problem des Stadtbildes ist, ist es schlicht unwürdig, was Merz hier macht. Ein Bundeskanzler soll gefälligst Ross und Reiter nennen – statt schwafelnd und feige anderleuts Töchter in Stellung zu bringen.

Erst dachte ich: Erfreulich, da wird der offene Rassismus von Merz mal von unerwarteter Seite kritisiert. Es gibt also doch noch Konservative, die die Grenze zum Rechtspopulismus kennen.
Aber nein, das Problem ist nur, das Merz nur „raunt“ (das stimmt immerhin) und nicht ganz ausdrücklich und in langer Aufzählung Migration für einfach alles verantwortlich macht, was in diesem Land schlecht läuft, von schlechter Stadtreinigung über Sexismus bis hin dazu, dass Arbeitsplätze und Arbeitssuchende oft nicht zusammenpassen und die dafür zuständige Bürokratie oft versagt. Dazu kommt dann noch das allfällige Märchen von der „unkontrollierten Einwanderung“.*
Leute, um zu erzählen, dass es eine unkontrollierte Migration gäbe und die an einfach allem schuld wäre – dafür braucht man keine CDU. Dafür gibt es eine „Alternative“. Und die wählen die Leute dann auch, die diese Geschichten glauben.
* Dazu schrieb ich neulich noch, das kann ich einfach auf Wiedervorlage nehmen:
„Einwanderung nach Deutschland ist nicht „unkontrolliert“. Diese Behauptung wird durch ständige Wiederholung aus rechtsextremer und leider auch konservativer Richtung nicht wahrer. Im Gegenteil wird Einwanderung doch zienlich offensichtlich außerordentlich scharf kontrolliert, wenn auch – wie politisch gewünscht und beschlossen – primär nicht mehr an den deutschen Grenzen, sondern an der EU-Außengrenze. Das ändert aber nichts daran, dass es für Nicht-EU-Bürger außerordentlich schwierig ist, in die EU zu kommen, und dass dafür ganz im Gegenteil zu dieser Behauptung sehr viele Regeln und praktische Hindernisse überwunden werden müssen. Und das wurde ja auch in den letzten Jahren unter Beteiligung der Ampel-Regierung noch weiter verschärft. Dass es einer relativ geringen Zahl trotz alledem immer noch gelingt, irgendwie nach Deutschland zu kommen, ändert daran nichts.
Dass Einwanderung nach Deutschland „unkontrolliert“ sei, ist also schlicht falsch. Es ist vielmehr ein rechtsextremes Narrativ, mit dem einerseits Hass auf alle Migrant:innen geschürt werden soll und andererseits demokratische Politik delegitimiert werden soll, weil diese das behauptete Problem nicht lösen wolle. Es ist eine absolute Schande, dass auch demokratische Konservative diesem Narrativ hinterherlaufen, weil sie sich von den Erfolgen der Rechtsextremen treiben lassen. Auf lange Sicht bestätigt man damit aber nur deren Politik.“