Griechenland in der Krise: Illegal auf Kreta – und jetzt?

Haus in Paleochora Foto: Reinhold Karn Lizenz: GNU ab 1.1/CC

Ein Gastbeitrag von Susanne Krueger, Radio Kreta, Paleochora, Kreta.

Dass und wie die Krise die ca. 11 Millionen Griechen betrifft und „beutelt“ ist aus der Berichterstattung aus den Medien allgemein bekannt. Aber wie sieht es eigentlich mit den „Illegalen“ im Land aus, deren Anzahl nicht konkret bekannt ist, deren Dunkelziffer wohl aber irgendwo zwischen 500.000 und einer Million (manche reden sogar von 2 Millionen!) liegt? Woher kommen diese Menschen – und warum? Und warum nach Griechenland?

Viele „Einwanderer“ kommen naturgemäß aus den östlichen Anrainerstaaten – seit der letzten Osterweiterung der EU teilweise sogar legal. Albaner, Rumänen und Bulgaren gehören in Griechenland längst zum „normalen“ Straßenbild. In den letzten Jahren sieht man aber auch zunehmend Pakistaner, Afghanen und Afrikaner, die sich von einem Leben im „reichen Europa“ eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien erhoffen.

Viele sind auf der Flucht aus einem armen und bedrohten Leben in von Bürgerkriegen zerrütteten, terroristischen und/oder diktatorischen Systemen, haben ihre oft kinderreichen Familien zu Hause zurücklassen müssen und träumen davon, im fernen Ausland so viel Geld zu verdienen, um die Familie aus der Ferne zu versorgen und irgendwann gar zu sich holen zu können. Oder als „gemachter Mann“ in die Heimat zurückzukehren.

Griechenland bietet sich für diese Menschen als erste „Auffangstation“ an, da die Grenzen des Landes (der Inseln!) kaum vollständig kontrollierbar sind. Viele bleiben hier hängen, einige ziehen weiter in den reicheren Norden Europas. Was passiert nun mit diesen Menschen, den Entwurzelten, Illegalen, die eigentlich gar nicht offiziell existieren, in dieser Krise? Ein kleines, sehr persönliches Schicksal, das so oder ähnlich vermutlich viele der „Illegalen“ trifft, getroffen hat oder noch treffen wird, aus unserem ganz persönlichen Umfeld – eine wahre Geschichte:

Es ist die Geschichte des Pakistaners Razi S.* Razi, von Beruf eigentlich Lehrer, sah im Jahr 2003 keinen anderen Ausweg, als seiner Heimat, in der Bürgerkrieg und Terrorismus herrschten und herrschen, den Rücken zu kehren. Und damit auch seiner Familie. Eltern, Geschwister, Frau und 6 Kinder, das jüngste gerade ein halbes Jahr alt. Zu diesem Zeitpunkt war Razi Ende Zwanzig, ein drahtiger, gesunder junger Mann, bereit, alles für eine bessere Zukunft zu riskieren. Sein über 7.000 km weiter Weg führte ihn durch Pakistan, Afghanistan, den Iran und die Türkei, bis er schließlich per Boot auf Kreta landete. Seines Passes hatte er sich in der Türkei entledigt, um sich in Europa als Afghane auszugeben und damit als Kriegsflüchtling asylberechtigt zu sein.

Soweit der – vielleicht etwas naive – Plan. Der scheiterte, da er nicht als Afghane anerkannt wurde. Seine Gründe, aus Pakistan zu fliehen interessierten weiter niemanden. Kein anerkannter Kriegsflüchtling, kein Asyl. Keine Aufenthaltsgenehmigung, keine Arbeitserlaubnis. Seitdem war und ist Razi ein „Illegaler“ im Südosten Kretas. Offiziell gibt es ihn gar nicht. Es gibt ihn aber und bisher meinte das „europäische“ Leben es sogar recht gut mit ihm.

Anfangs verdingte er sich, wie so viele, als Erntehelfer, bekam täglich seinen Lohn und eine bescheidene Unterkunft, die er mit Freunden teilte. So ließ sich auch das sich langsam aber unaufhaltsam einschleichende Gefühl des Heimwehs besser ertragen. Razi lernte fleißig Griechisch (so, wie er die Sprache halt auf der Straße aufschnappte, bis er sie fließend sprach), lebte sehr bescheiden und schickte wann immer er konnte soviel Geld, wie er entbehren konnte (meist 80% seines Verdienstes) nach Hause zu Frau und Kindern. Doch die Aussichten auf eine wirklich bessere und stabile Zukunft schwanden nach und nach. Bis Razi den Mann traf, der ihm die Hoffnung zurückgab. Denn es gibt sie, die großherzigen Griechen, die, auch auf die Gefahr hin, selbst Probleme zu bekommen, den ärmeren und verzweifelten (aber ebenfalls großherzigen) „Illegalen“ eine Chance geben.

Besagter großherziger Grieche, ein Kreter – nennen wir ihn Michali X.* – ist Gründer und Besitzer einer Firmengruppe und großer Bauunternehmer. Die letzten Jahre waren sehr gut für Michalis gelaufen – kaum ein Gebäude in seiner kleinen Stadt, das nicht von seinen Leuten gebaut worden wäre. Für Michalis war die Zukunft klar: seine drei Söhne würden in die Firmengruppe einsteigen und sein Lebenswerk weiterführen. Ein Sohn wurde Steuerberater, der andere Architekt und der dritte studierte Marketing. Die Weichen für eine fruchtbare Zukunft waren gestellt. Zu dieser Zeit befand sich Michalis ́ Unternehmen auf Expansionskurs – eine Luxuswohnanlage wurde gebaut und stand zur Vermietung oder Verkauf. Diese Wohnanlage brauchte einen Hausmeister und „Mädchen für alles“ – und hier kommt Razi wieder ins Spiel, denn er bekam den Job. Gegenüber der Wohnanlage bekam Razi einen kleinen Bau-Container, der von Michalis allerdings mit Klimaanlage, Satellitenschüssel, Duschbad, kleiner Kochnische und Schlafecke ausgestattet wurde – so luxuriös hatte Razi schon lange nicht mehr gewohnt.

Razis Aufgabe war es, die Anlage in Schuss zu halten, sich um die Gartenpflege und die Swimmingpools zu kümmern und „Mädchen für alles“ zu sein, sollten denn Gäste kommen. Dafür zahlte Michalis ihm 800 Euro monatlich – eine Wahnsinnssumme für Razi, von der er jeden Monat noch am Tag der Auszahlung 600 Euro zu seiner Familie schickte. Er erklärte uns, dass es ja ganz leicht sei, mit 200 Euro im Monat auszukommen. Er ernährte sich vorwiegend von Tomaten, Gurken und Eiern – der einzige „Luxus“, den sich der muslimische Razi gönnte, war original Pakistanischer Tee, denn der erinnerte ihn an die Heimat, die ihm immer mehr fehlte. Wir hatten unser Büro ganz in der Nähe von Razi ́s Container und freundeten uns schnell an.

Er erzählte uns von seiner Heimat, zeigte uns atemberaubende Bilder des Landes und Fotos seiner Lieben, die er immer mehr vermisste – schließlich war er zu diesem Zeitpunkt schon fast 6 Jahre von zu Hause weg! Jeden Morgen kam Razi zum Büro herunter, um zu schauen, ob wir da waren. War dies der Fall, kam er kurz darauf noch einmal, diesmal mit zwei Tellern mit jeweils einem Spiegelei, frischem Brot und 2 Gläsern seines geliebten, süßen Tees und rief fröhlich „Frühstück!!! Es ist doch viel schöner, gemeinsam mit Freunden zu frühstücken!“ Wenn wir erwiderten: „Aber Razi, warum hast du denn nichts für dich selbst dabei?“ zwinkerte er uns zu „Ach, ich stehe doch viel früher auf als Ihr, ich hab ́ schon gefrühstückt. (Beides stimmte natürlich nicht!) Aber jetzt schaue ich meinen Freunden beim Frühstück zu, das macht mich glücklich.“

Gerne verwöhnte er uns an heißen Sommernachmittagen auch mit eisgekühlter Wassermelone, die man, wie er uns lehrte, in Pakistan mit Salz isst, denn das intensiviert den Geschmack. Auch original pakistanischer Reispudding mit Pistazien stand ganz oben auf der Spezialitätenliste, die wir langsam aber sicher „abarbeiteten“ und Razi damit glücklich machten.

Umgekehrt war es allerdings nicht so einfach, Razi zu beschenken, da er furchtbar bescheiden und stolz ist. Mehrere Versuche unsererseits, ihn mal zum Essen einzuladen, scheiterten – bis wir ihn einmal
endlich überreden konnten, uns ein eine einfache Taverne zu begleiten. Allerdings saß Razi wie ein Häufchen Elend vor seinen Lammkoteletts, schaute auf einmal auf und uns an und sagte: „Ich finde es total toll von Euch, dass Ihr mich immer einladen wollt und seid mir bitte nicht böse, dass ich bis heute immer abgelehnt habe – aber wenn ich vor einem vollen Teller mit solch wunderbarem Essen sitze, muss ich immer an meine Familie zu Hause denken, die das nicht haben. Und dann kann ich nichts mehr essen.“ Und konnte nichts mehr essen. Zu diesem Zeitpunkt war Razi bereits immer schweigsamer und schwermütiger geworden, seine Haut wies bereits großflächige Pigmentstörungen auf und er redete immer öfter von seiner Heimat und wie sehr er sich wünscht, nach Hause zurückzukehren. Zum „Kind, das seinen Vater noch nie sah“**…

Aber wie? Ohne Geld, ohne Papiere? Und hier ging es ihm doch gut. Eigentlich. Wenn das Heimweh allzu schlimm wurde, setzte Razi sich auf ́s Fahrrad und fuhr 40 km über die Berge an die Nordküste zu seinen pakistanischen Freunden. Für ein paar Stunden bei Tee und Unterhaltung in der Muttersprache den schlimmsten Kummer vergessen. Dann allerdings war er wieder alleine in seinem Container, die einzige Freude dort waren seine geliebten „Bollywood“-Filme, die er über Satellit sehen konnte. Ein Stück Heimat. Aber es ging ihm ja gut. Eigentlich.

Doch dann kam die Krise. Die Vermietung der Luxusanlage lief mehr als schleppend, vom Verkauf derselben gar nicht zu reden. Das Baugewerbe wurde als eines der Ersten schwer gebeutelt, Michalis brachen die Aufträge weg. Das von Michalis zu Anfang der Krise unter dem Motto „Krise? Nicht mit mir – jetzt erst recht!“ noch komplett entkernte und frisch renoviere Stadthotel lief zwar irgendwie, aber längst nicht so, wie es geplant und zur Rückzahlung des letzten Kredites notwendig gewesen wäre. Mitte 2011 musste Michalis seinen Angestellten bereits die Gehälter kürzen – auch Razi, der jetzt nur noch 700 Euro bekam und somit nur noch 550 Euro nach Hause schicken konnte. Also noch ein Loch mehr in den Gürtel stanzen, um ebendiesen noch enger zu schnallen und von nun an halt mit 150 Euro im Monat auszukommen.

Neulich rief Razi uns an. Verzweifelt, traurig, hoffnungslos. Michalis hat ihm den Lohn auf 350 Euro gekürzt, kann in Kürze vermutlich gar nichts mehr zahlen und Arbeit gibt es auch keine mehr. Razi hat von seinen pakistanischen Freunden gehört, dass die griechischen Behörden offenbar bereit sind, alle Illegalen, die sich freiwillig zur „Abschiebung“ – in Razi ́s Falle die lang ersehnte Heimreise – melden, mit den entsprechenden Papieren auszustatten und sie straffrei nach Hause zu schicken. Nun spart Razi auf die Reise nach Athen und träumt weiterhin von zu Hause. Ob er endlich wieder nach Hause kommen kann? Werden seine Kinder ihn wiedererkennen? Kann er sich nach fast 10 Jahren Europa dort überhaupt noch wohlfühlen und wieder eingliedern? Und wie soll er seine Familie vor Ort ernähren? Deswegen war er doch eigentlich nach Europa gekommen! Wie geht es weiter mit Razi, dessen Geschichte hier nur stellvertretend für viele hunderttausend ähnliche Geschichten und Schicksale steht? Die Krise als Chance? Nicht für Razi. Sie hat ihm alles genommen. Nur eines nicht: seinen Stolz. Er ist wohl doch schon ein echter Kreter geworden.

*vollständiger Name der Red. bekannt **Textzeile aus Udo Jürgens`“Griechischer Wein“

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Klaus
Klaus
12 Jahre zuvor

Wenn sich Razi S. schon so vernünftig in Griechenland durchbeissen konnte, schafft er das auch in seiner Heimat Pakistan.

Wünsche ihm auf jeden Fall viel Erfolg !

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