„Historia magistra vitae“ – Die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens (*Cicero)

© Kohlhammer Buchcover

„Hat man denn gar nichts aus der Geschichte gelernt?“ So oder ähnlich lautet oft die Forderung, wenn es um die Diskussion gesellschaftspolitischen Handelns geht. Der Historiker Peter Geiss greift in seinem aktuellen Buch diese Frage auf und erläutert mögliche Antworten anhand von 14 historischen Fallskizzen.

Mehr als zweitausend Jahre umspannt der Bogen, den Peter Geiss in seinem Buch „Geschichte in Zeiten der Unsicherheit“ mit 14 thematisch geschlossenen Kapiteln schlägt. Von den machtpolitischen Strategien des Kaisers Augustus im vorchristlichen Rom bis zum ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr im Balkankonflikt 1999 erläutert er das jeweilige Thema, eingebettet in den historischen Kontext, so dass der Leser gut nachvollziehen kann, wie und auf welcher Grundlage Entscheidungen getroffen worden sind und welche Konsequenzen sie hatten.

Wie kam es zur Auswahl genau dieser Fallbeispiele? Welche Schwerpunkte wollte der Autor setzen, gab es Gründe für den Fokus auf historische Ereignisse der jüngeren Geschichte? Fragen, die sich der Leser beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis möglicherweise stellt, die Peter Geiss in der Erläuterung zur Struktur seines Buches gut verständlich beantwortet. Es geht ihm ausdrücklich nicht darum, den aktuellen Forschungsstand zu den 14 behandelten Themen abzubilden, schließlich soll das Buch auch von Nicht-Historikern gelesen und, ohne wissenschaftliche Expertise mitbringen zu müssen, verstanden werden. Geiss legt den Schwerpunkt bewusst in die Neuzeit, auf die Geschichte der internationalen Beziehungen mit dem Fokus auf „Kriege und Fast-Kriege“. Die einzelnen Kapitel werden thematisch angerissen und ihre verbindenden Elemente herausgearbeitet. Peter Geiss zieht sozusagen längsschnittartig die Linien entlang der historischen Ereignisse durch die dargestellten zweitausend Jahre und weist dabei auf Zusammenhänge zwischen historischen Geschehnissen hin, die nichts miteinander zu tun haben. Jedenfalls auf den ersten Blick. Schaut man genauer hin, stellt das Prinzip „Lernen aus der Geschichte“ genau diesen Zusammenhang her, wenn man die zugrundeliegenden Handlungsmuster erkennt. Das Beispiel der „Kubakrise“ (Kapitel 12) zeigt besonders deutlich, wie politische Entscheidungen auf der Basis historischer Ereignisse getroffen worden sind.

Die Welt am nuklearen Abgrund – die Kubakrise

Zur Erinnerung: Im Oktober 1962 verkündete der US-amerikanische Präsident John F. Kennedy öffentlich, dass die Sowjetunion Abschussvorrichtungen für Mittelstreckenraketen auf Kuba stationiert hatte. Diese Raketen hätten auch mit Nuklearsprengköpfen bestückt werden können und, falls sie zum Einsatz gekommen wären, große Teile der USA zerstört. Wie diese brisante Bedrohung endete, ist bekannt, es kam glücklicherweise zu keiner militärischen Konfrontation der beiden Supermächte.

Was aber hat Kennedy zu seinen Entscheidungen bewogen, welches waren die Motive für sein Handeln und mit Blick auf das Thema des Buches: Welche Lehren aus der Vergangenheit hat Kennedy gezogen? Peter Geiss nennt hier die Daten 1914, 1938 und 1941 als wichtigste Eckpunkte, die er thematisch aufeinander bezieht. Die Krise im Juli 1914 war für Neville Chamberlain die Triebfeder für seine Appeasement-Politik im Rahmen der Münchener Konferenz, die den Zweiten Weltkrieg bekanntermaßen nicht hatte verhindern können. John F. Kennedy zog seine Konsequenz aus dem Scheitern dieser Appeasement-Politik und vertrat die Ansicht, man müsse aggressivem Verhalten mit Härte und Entschiedenheit begegnen, um erfolgreich zu sein. Gleichzeitig, dies ist der dritte historische Bezugspunkt, der japanische Überfall auf Pearl Harbour, lehnte Kennedy es ab, dass „die USA sich moralisch auf dieselbe Stufe stellt wie Japan 1941“, d.h. ein Überraschungsangriff auf Kuba kam für ihn nicht in Frage. Peter Geiss entwickelt die Folgen aus historischen Ereignissen, die für die Entscheidungen während der heißen Phase der Kubakrise im Oktober 1962 ein bedeutende Rolle gespielt haben, gut verständlich und auch für historische Laien nachvollziehbar.

Das Urteil des Heute mit Blick auf die Vergangenheit

Es versteht sich von selbst, dass die Beurteilung historischer Ereignisse und der mögliche Lerneffekt immer nur im Rückblick stattfinden kann. Hier ist weniger die objektive zeitliche Einordnung relevant, sondern vielmehr die subjektive Wahrnehmung: Schätzt man die auf ein Ereignis folgende Entwicklung positiv ein, neigt man dazu, auch die diesem Ereignis zugrundeliegende Entscheidung positiv zu bewerten. Natürlich sind historische Situationen nie 1 : 1 wiederholbar, andere Zeiten, andere Einflüsse, dies alles muss in der Beurteilung mitbedacht werden. So können auch Zufälle eine Rolle spielen oder gespielt haben, die weder vorhersehbar noch zu kontrollieren sind. Ebenso sind die Kriterien für getroffene Entscheidungen auch nicht immer a priori festgelegt, denn „es spielt eine wesentliche Rolle für die Möglichkeit eines zukunftsbezogenen Lernens aus der Geschichte, ob Menschen an die Existenz von historischen Gesetzen glauben, die sich im politischen Handeln erfolgsfördernd berücksichtigen lassen, oder nicht“ (P. Geiss).

Dieser etwas sperrig zu lesende Satz enthält eine der Kernthesen des Buches, nämlich der subjektive Glaube an historische Einflussgrößen auf politische Entscheidungen der Gegenwart. Daraus folgt, so Peter Geiss, dass Entscheidungsträger gar nicht anders handeln können, als sich auf zurückliegende Erfahrungen zu stützen und fragt weiter, welche Erwartungen wir an ein handlungsbezogenes Lernen aus der Geschichte richten können. Das Schlüsselwort lautet hier „handlungsbezogen“, da es die Frage nach der Ausrichtung des Buches aufwirft. Ist es als Anleitung zum Handeln zu verstehen oder eher als akademische Debatte, die in den philosophischen Bereich der Logik reicht, in dem es um den Wahrheitsgehalt einzelner Aussagen geht? Logisch korrekte Schlüsse, die miteinander vergleichbar sind, können nur aus vergleichbaren Prämissen gezogen werden; dieser Ansatz ist für historische Vergleiche jedoch nicht anzuwenden. Peter Geiss erläutert den Grund: „Dass eine bestimmte Politik (A) in einem bestimmten Kontext zu einem bestimmten Ergebnis (Y) – hier einem Weltkrieg – geführt hat, bedeutete keineswegs, dass eine ähnliche Politik (B) in einem anderen Kontext zu einem ähnlichen Ergebnis (Y) führen muss“ (P.Geiss).

Lässt sich die Unsicherheit überwinden?

Ciceros Satz von der „Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens“ lässt sich auf jede der 14 Fallskizzen des Buches anwenden, so werden getroffene Entscheidungen der Vergangenheit verständlicher. Peter Geiss erläutert für historisch und politisch interessierte Leser gut verständlich die Zusammenhänge und Randbedingungen, die diesen Entscheidungen zugrunde lagen und sieht sie als „Trainingsmaterial“ (P.Geiss) für die Gegenwart. Der Verweis auf die „Zeiten der Unsicherheit“ im Titel nimmt die Empfindung vieler Menschen mit, den getroffenen politischen Entscheidungen der Gegenwart ausgeliefert zu sein, ohne die Gründe dafür zu kennen. Peter Geiss möchte den Leser zum eigenständigen, ergebnisoffenen Denken anregen, um selbständig mögliche Lösungswege für aktuelle Herausforderungen erkennen zu können. Dies ist seiner Meinung nach nur möglich, indem man eben nicht die Handlungsmuster der Vergangenheit auf die Gegenwart überträgt, sondern sie als Möglichkeit erkennt, analytische und argumentative Kompetenzen zu entwickeln.

Fazit: Ein gelungenes, lesenswertes Buch mit historisch abgegrenzten Kapiteln, die dennoch thematisch zusammenhängen.

Peter Geiss, Geschichte in Zeiten der Unsicherheit. Wie Politik seit der Antike aus der Vergangenheit lernt. ISBN 978-3-17-045282-4. 504 Seiten. 29 EUR.

Prof. Dr. Peter Geiss ist Professor für Didaktik der Geschichte am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn.

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