
Die Muslimbruderschaft (MB) gilt als eine der einflussreichsten islamistischen Bewegungen der Welt – und als eine unterschätzte Bedrohung für Demokratien. Am 12. September 2025 lud der Arbeitskreis Politischer Islam (AK-Polis) in das Willy-Brandt-Haus, die SPD-Parteizentrale in Berlin, um genau darüber zu diskutieren: über Agenda, Strukturen und politische Antworten. Gastgeber war Lutz Neumann.
Unter den Gästen saßen unter anderem Volker Beck, Ralph Ghadban und Ali Ertan Toprak. Schon ihre Anwesenheit verdeutlichte die parteiübergreifende Brisanz des Themas. Die Referenten beleuchteten die Ideologie der MB, ihre Netzwerke und Strategien, Versuche politischer Einflussnahme in Deutschland und Europa sowie die Rolle von NGOs und Medien. Die Tagung verstand sich zugleich als inhaltlicher Impuls für den geplanten Bund-Länder-Aktionsplan gegen den politischen Islam.
Florence Bergeaud-Blackler hielt die Keynote. Sie stellte ihr Buch „Kalifat nach Plan – Frérismus und seine Netzwerke in Europa“ vor, das Ergebnis von drei Jahrzehnten Forschungsarbeit. Ihre Analyse war eindeutig: Das Ziel der MB sei die Errichtung eines Kalifats innerhalb von 30 bis 40 Jahren – nicht mit offenen Schlachten, sondern durch schleichende Islamisierung und die Durchdringung von Gesellschaft und Politik. Das Attentat auf Charlie Hebdo beschrieb sie als „Racheaktion“, um Grenzen der Meinungsfreiheit auszuloten. Besonders gefährlich sei die „Islamisierung des Wissens“: Forschung solle sich dem Islam fügen, kritische Wissenschaftler würden eingeschüchtert. Bergeaud-Blackler selbst darf keine Universität mehr betreten und steht unter permanentem Polizeischutz. Sie warnte, linke Parteien in Europa würden als „Kuckucks-Parteien“ genutzt, um islamistischen Einfluss auszuweiten. Ihre Botschaft: Es braucht mehr politischen Mut im Umgang mit der MB.
Sebastian Elsässer (CAU Kiel) legte den Fokus auf die politische Dimension. In vielen Ländern verwaltet der Staat einen „Amts- oder Staatsislam“. Die MB tritt dem mit eigener sozialer Infrastruktur entgegen. Langfristiges Ziel ist nicht ein Staatsislam, sondern die Islamisierung des Staates selbst. In Jordanien war die MB über die Islamic Action Front eingebunden; während des Arabischen Frühlings 2011 beteiligte sie sich an Protesten, die sich vordergründig gegen Korruption und für Wahlrechtsreformen richteten – instrumentell für die eigene Agenda. Im April 2025 folgte das Verbot. Elsässers Folgerung für Deutschland: Integration muss gestärkt werden, damit keine Ersatzstrukturen der MB entstehen.
Nina Scholz zeigte die ideologische Kontinuität. Der einflussreiche Theologe Yusuf al-Qaradawi (1926–2021) habe Antisemitismus zur tragenden Säule der MB gemacht. Er verherrlichte Hitler, deutete den Holocaust als „göttliche Strafe“ und verband dies mit der Forderung nach einem künftigen Kalifat. Nach außen gibt sich die MB dialogbereit, intern ist sie kompromisslos; Gewalt wird situativ eingesetzt, wenn es der Strategie dient. Scholz betonte den „Marsch durch die Institutionen“ über Vereine, NGOs und Parteien. Ihre Forderungen: keine Förderung MB-naher Strukturen, keine politischen Besuche in MB-Moscheen, mehr Transparenz über Finanzen und Strukturen, eine Stärkung der Forschung – und vor allem ein Unvereinbarkeitsbeschluss für Akteure des legalistischen islamischen Extremismus, auch und gerade in der SPD.
Hartmut Licht (ehem. Verfassungsschutz) erläuterte die juristischen Probleme bei Verbotsverfahren. Die MB operiere oft über ausländische Strukturen oder Tochtervereine; viele Erkenntnisse der Nachrichtendienste seien vor Gericht nicht verwertbar. Zudem nutze die MB Sprache und Semantik, um Verboten zu entgehen. In den 1980er Jahren sei die Zerschlagung rechtsextremer Gruppen gelungen, später sei man gegen die PKK weit weniger wirksam vorgegangen. Lichts Fazit: Die Demokratie muss ihre Gegner klar benennen und deren Finanzquellen konsequent austrocknen.
Tugay Saraç (Ibn-Rushd-Goethe-Moschee) zeigte, wie die MB innergesellschaftlich destruktiv wirkt. Indem sie sich zum Sprachrohr „der Muslime“ stilisiert, verstärkt sie pauschal Vorurteile – und befördert so Muslimfeindlichkeit. Parallel verbreitet sie queerfeindliche Positionen. Ergebnis: nicht Integration, sondern Spaltung.
Sascha Adamek (Investigativjournalist, Monitor, Kontraste) illustrierte am Beispiel Berlin, wie die MB erfolgreich Strukturen unterwandert. Geldströme aus Katar fließen über Vereine und Moscheen, oft getarnt als interkulturelle Zentren. Politische Kontakte sind offenkundig: Der damalige Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) trat dort auf; Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier habe öffentlich zu Spenden aufgerufen. Adamek wies auf politischen Druck hin, MB-nahe Organisationen nicht länger vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen – mit Auswirkungen bis in die TV-Berichterstattung. Seine Bilanz fiel sarkastisch aus: „Berlin macht Katar mittlerweile bei der Finanzierung von Terror Konkurrenz.“
Sigrid Herrmann erläuterte die Entstehungsgeschichte von Islamic Relief, das dahinter stehende internationale Netzwerk sowie die Bedeutung des Vereins. Sie verwies zudem auf neue digitale Kommunikationsstrategien der MB, die aus Zeitgründen nicht vertieft werden konnten.
Heiko Heinisch (Historiker) hob die Rolle von Millî Görüş hervor – eine Organisation mit rund 2000 Moscheegemeinden weltweit, entstanden im Widerstand gegen die laizistische Republik Atatürks. Präsident Erdogan stammt aus diesem Umfeld. Die häufige Einordnung der AKP als „türkische CDU“ sei eine grobe Fehleinschätzung; die Partei sei von Beginn an tief islamistisch geprägt gewesen. Deutschland, so Heinisch, sei heute ein Eldorado für Islamisten – ein Rückzugs- und Ruheraum, in dem sich Organisationen wie Millî Görüş weitgehend ungestört entfalten können. Dieses Milieu sei von Antisemitismus durchzogen: „Die Juden sind an allem schuld“ bilde ein ideologisches Fundament. Skandalös sei, dass sich deutsche Politiker immer wieder mit Vertretern solcher Organisationen fotografieren ließen, obwohl diese vom Verfassungsschutz beobachtet werden.
Carsten Frerk stellte Strukturen in Deutschland in den Vordergrund. Er erinnerte an die Gründung von INSSAN (2002), die spätere CLAIM-Allianz und an die 2010 gestartete Initiative JUMA, aufgebaut von Sawsan Chebli und Lydia Nofal und gefördert vom damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Auch die Initiative „Demokratie stärken“ sei Teil dieser Entwicklung. Frerk warnte vor ideologischer Engführung: Der Begriff „Rassismus“ sei zum Kampfbegriff geworden. Rassismus gegen Religion gebe es nicht, betonte er – dennoch werde Kritik an der Muslimbruderschaft oft reflexhaft als „rechtsextrem“, „muslimfeindlich“ oder „rassistisch“ diffamiert.
In der Abschlussdiskussion wurde auch der § 166 StGB (Blasphemie) gestreift. Volker Beck warnte davor, Energie an dieser Stelle zu binden. Wichtiger seien das Offenlegen von Finanzströmen, die Abwehr der Infiltration von Parteien und das Wähler-Fischen, wenn Politiker die Nähe zu MB-Vertretern suchen. Der Konsens: Es braucht endlich klareres politisches Handeln.
AK-Polis versteht sich als parteiübergreifende Plattform, die Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammenbringt. Im Vorstand sitzen u. a. Ahmad Mansour und Seyran Ateş. Gastgeber Lutz Neumann machte deutlich: Es geht nicht nur um Analyse, sondern um Konsequenzen – auch innerhalb der SPD selbst.
Am Ende herrschte Einigkeit: Die Muslimbruderschaft bleibt eine unterschätzte Bedrohung; ihr Weg ist die Unterwanderung, nicht die offene Gewalt. Demokratische Institutionen laufen Gefahr, instrumentalisiert zu werden. Gefordert sind mehr Transparenz, klare Grenzen bei Förderung und Zusammenarbeit, konsequente Anwendung des Vereinsrechts und nicht zuletzt eine Stärkung der wissenschaftlichen Forschung.
Mein Eindruck: Die SPD als Gastgeber und AK-Polis haben mit dieser Veranstaltung ein Signal gesetzt – ob daraus, auch über die Parteien hinweg, politische Konsequenzen folgen, wird sich erst zeigen.
