Kann eine Meinung den Tod verdienen? Wann sollte der Mensch getötet werden?

Eine Luftaufnahme des Zeltes, in dem Charlie Kirk erschossen wurde. Foto: KSL News Utah Lizenz: CC BY 4.0

Angenommen, Sie hätten jetzt gerade eine Diskussion. Eine beliebige Diskussion, ein beliebiges Thema. Welche These oder Aussage müsste Ihr Gegenüber vertreten, damit Sie zu dem Schluss kämen, dass man Ihrem Gegenüber in den Hals schießen und so ermorden darf? Welche Aussage oder Denklogik hätte zur Folge, dass Sie nicht nur den Tod Ihres Gegenübers, sondern blutrünstig den Tod sämtlicher Anhänger besagter Denklogik forderten?

Welche These verwirkt das Recht auf Leben und rechtfertigt, dass sich Menschen online glücklich, freudig über den Tod der Person zeigen sollten?

Welche Position rechtfertigt die Todesstrafe? Und: Wenn Thesen und Aussagen die Todesstrafe bedingen und rechtfertigen, ist dann nicht die Todesstrafe allgemein zulässig? Kann eine Aussage schlimmer sein als beispielsweise Vergewaltigung, Mord oder nur der Diebstahl eines Fahrzeugs. Sind nicht die realen Auswirkungen und Konsequenzen, die beispielsweise ein Familienvater spürt, wenn ihm das zum Existenzerhalt der Familie zwingend erforderliche Fahrzeug gestohlen wird, weit schwerwiegender als das Tätigen der Aussage, Abtreibung sei schlimmer als der Holocaust? Wieso sollte man also nicht auch den Fahrzeugdieb töten?

Wann ist die Grenze überschritten, dass man Freude über den Tod eines Menschen empfinden und dessen Ermordung sogar beklatschen sollte? Wann gilt Artikel 1 der Erklärung der Menschenrechte, „die Würde des Menschen ist unantastbar“ lediglich situativ und nicht allgemein? Wer legt fest, welche Geisteshaltung und Überzeugung das Existenzrecht beendet und Vogelfreiheit, ähnlich wie im Mittelalter, bedingt? Was muss jemand sagen oder denken, um auch sämtliche abgeleitete Konsequenzen, etwa, dass Familie und Kinder der Ermordung beiwohnen, zu rechtfertigen?

Und: Sind Sie sich sicher, dass Ihre Überzeugungen, Ihre roten Linien und Grenzen, ab jenen Menschen getötet werden dürfen, kongruent mit jenen Ihrer Nachbarn sind? Was, wenn eine Aussage, die in Ihrer Gedankenwelt vollkommen konsistent und logisch ist, für Ihren Nachbar dazu führt, dass dieser Ihren Tod möchte?

Am Ende dieser Überlegungen steht immer und zwangsläufig dieselbe Erkenntnis: Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist nur dann möglich, wenn der Mord an einem Menschen niemals als potentielles Lösungsszenario akzeptiert wird. Wenn, innerhalb der zivilisatorischen Gemeinschaft, die Grundüberzeugung verteidigt wird, dass die dem Faschismus eigene Wahl des Mordes als politische Waffe geächtet wird. Andernfalls nämlich legitimiert irgendwann nahezu alles einen Mord.

Selbstverständlich behandelt dieser Text den Mord an Charlie Kirk und die darauffolgenden Reaktionen im und abseits des Internets. Und es zeigt, wie vollkommen enthemmt, moralleer und nah an der Denklogik des Faschismus zahlreiche Menschen handeln und argumentieren. Insbesondere im Lager jener, die einst angetreten waren, den Faschismus zu bekämpfen. Und es zeigt auch, wie gleichgültig Menschen bereit sind, die Grenze zwischen Emotionen und Aufklärung zu verwaschen.

Es gibt keinerlei Veranlassung, Trauer über Kirks Tod zu empfinden. Genauso wenig gibt es einen Grund, auf zynisch-humoristische Aussagen zu verzichten. Kirks Tod hat eine zynische Komponente, das steht gänzlich außer Frage. Ein vehementer Vertreter des Waffenrechts, der Tote als logische Konsequenz des Rechts auf Waffenbesitz sah, wird mit 31 Jahren von einem Waffenbesitzer ermordet. Das ist skurril zynisch.

Skurrile oder zynische Todesfälle sorgen, seit es Menschen gibt, für Spott. Etwa der Tod der Besatz des U-Bootes Titan. Nach der Implosion traten immer neue Details zu Tage, etwa über die Konstruktion des Bootes oder die Steuerung mit einem umgebauten Gaming-Controller, die bei jedem halbwegs rationalen Menschen die Frage aufkommen ließ, wie man freiwillig an Bord eines solchen Schiffs zur Titanic tauchen konnte. Und natürlich gab und gibt es Memes.

Ähnlich, wie es Memes über Krebserkrankungen gibt sowie jede beliebige Art und Weise zu Sterben. Humor, auch in der denkbar geschmacklosesten, makabersten Weise, ist seit jeher ein Mittel von Menschen, mit dem Tod umzugehen oder auf den Tod zu reagieren. Man muss Humor nicht teilen, aber man kann auch nicht den Verzicht auf selbigen einfordern.

Freude aber oder Befürwortung sind eine gänzlich andere Ebene. Und genau hier entgleitet das Wesen menschlichen Handelns vom Humor hin zur Verachtung des Menschseins selbst.

Und es wirft die Frage auf:

Ist man sich sicher, Richter über Leben und Tod sein zu dürfen? Ist die eigene Überzeugung so gefestigt, so belegt und richtig, dass man eine Gruppe, die andere Überzeugungen und Positionen teilt, in den Tod schicken kann, darf oder sogar muss?

Persönliche Einordnung:

Kirk war ein ultra-konservativer, religiöser Fanatiker. Als säkularer Demokrat lief und läuft es mir bei zahlreichen seiner Aussagen sprichwörtlich kalt den Rücken hinunter. Kirks Aussagen, etwa die zuvor bereits zitierte über den Holocaust, seine These, ein vergewaltigtes 10 Jahre altes Mädchen sollte, wenn sie dabei schwanger würde, das Kind auch austragen, sowie zahlreiche Kommentare zum notwendigen Einfluss staatlichen Handelns zur Festigung religiöser Dogmen stehen im krassesten denkbaren Widerspruch zu allem, woran ich glaube. Mehr noch, sie sind, nach meiner Lesart, absolut irre. Aber: In Kirks ultra-religiöser Denklogik waren seine Thesen absolut konsistent. Ähnlich, wie ideologisch gefestigte Vertreter beliebiger sektenartiger Denklogiken Gedankenwelten aufbauen und vertreten, die inhärent konsistent sind.

Die Waffe, mit der derartige Denklogiken zu bekämpfen sind, ist das Wort.

Um die Überlegung umzustellen: Wenn Kirks Denklogik seine Ermordung rechtfertigt, wieso sollte dann die Denklogik seines Mörders nicht ebenso dessen Ermordung durch andere Vertreter von Kirks Überzeugungen rechtfertigen?

Und an der Stelle sind wir wahlweise im Bürger- oder Religionskrieg angekommen.

Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Schnell kamen nach Kirks Ermordung Vergleiche und Zirkelschlüsse auf. Etwa, ob die zuvor getroffenen Aussagen auch für die hypothetische Ermordung Hitlers gegolten hätten oder ob das Argument auch für die Hamas gelte.

Es ist ein bekanntes und beliebtes Argument. Reduziere jemanden auf das absolute Böse und schon ist die Magnitude des Mordes eine andere und jener, der nur das Argument hinterfragt, ein Verteidiger und Anhänger des ultimativen Bösen, in diesem Falle des Faschismus. Dabei entwertet das Argument in diesem Fall nicht Kirk, es entwertet die Tragweite des Faschismus und stellt eine pervertierte Relation auf.

Kirk hat nicht den Holocaust zu verantworten. Kirk plante oder betrieb keinen Angriffskrieg. Kirk war kein Massenmörder und kein Vergewaltiger. Kirk organisierte auch nicht die Shoa. Ebenso war Kirk nicht Mitglied einer faschistoiden, islamistischen Terrororganisation, deren einziges Existenzziel der Mord an Juden ist und Kirk vergewaltigte und schnitt auch nicht im Oktober 2023 Jüdinnen bei einem Musikfestival auf.

Selbstverständlich ändert sich die Handlungsgrundlage, wenn Staaten zur Selbstverteidigung gegen Massenmörder und Folterknechte gezwungen sind.

All das ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. Kirk vertrat extreme, aber konsistente Positionen. Er produzierte YouTube-Videos und mobilisierte Menschen, insbesondere für Donald Trump.

Man muss das nicht gutheißen. Als säkularer Demokrat muss man den absoluten Großteil von Kirks Thesen ablehnen und auf das Schärfste angehen. Auch kann man zu dem Schluss gelangen, dass Kirk der Welt nicht fehlen wird. Man kann Gags reißen und Memes veröffentlichen.

Sofern aber die Lehren aus dem Holocaust, aus den Schrecken von Jahrhunderten an Religionskriegen und faschistischen Gräueltaten weltweit gezogen und verstanden wurden, kann man unmöglich seinen Tod feiern, befürworten oder weitere Morde an politischen oder ideologischen Akteuren fordern. Es ist undenkbar, dass die Menschenwürde situativ ist oder diskutiert wird.

Zumindest nicht, ohne den Grundsatz der modernen Zivilisation, die Menschenrechte, selbst aufzugeben.

 

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