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„Konstruktion, Materialität, Gliederung“

 

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In den letzten Jahrzehnten ist viel geschehen, um das baukulturelle Erbe der Montanindustrie als identitätsstarken Programmstein des Ruhrgebietes zu etablieren. Deren behutsame „Umcodierung“ zeugt von Kontinuität und Wandel der Region. Von unserem Gastautor Dieter Nellen.

Dass die bauhistorischen Texturen des letzten Jahrhunderts sich an Rhein und Ruhr aber nicht darauf beschränken und gerade in den guten Jahren der Weimarer Republik europäisches Metropolenformat gewannen, ist bisher weniger bekannt. Offenbar hat das Scheitern der ersten deutschen Demokratie eine angemessene Würdigung der architektonischen Leistungen dieser Epoche erschwert. Mit ihnen verbindet sich ungeachtet ihrer seinerzeitigen Modernität nicht die dauerhafte Erinnerung an Relevanz und Stil.

Dabei sind die Bauten im heutigen Stadtbild noch präsent. Und sie waren zu ihrer Zeit durchaus eine architektonische Leistungsansage an andere deutsche und europäische Metropolen. Bauliche Modernität und gestalterischer Anspruch finden dabei ihre politische und mentale Entsprechung in der begrifflichen Entdeckung des Ruhrgebiets als zusammengehöriger Industrieregion und in administrativer Metropoleninnovation: 1920 wird der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk (SVR) als erster Zweckverband zur Bewältigung von über die reine Versorgung und Existenz hinausgehender Aufgaben gegründet.

Der historische Blick kann sich jetzt weiten: Christoph Rauhut und Niels Lehmann von der ETH Zürich haben nach einer vergleichbaren Publikation für Berlin (mit Brandenburg) einen Text- und Bildband unter dem Titel „FRAGMENTS OF METROPOLIS RHEIN & RUHR“ vorgelegt. Er ist der zweite Band einer Serie.

Die beiden Architekturhistoriker dokumentieren darin „ein besonders glanzvolles Erbe expressionistischer Architektur, das von Stolz und Hoffnung zeugt“. Paul Kahlfeldt, Berliner Architekt mit einem Lehrstuhl an der TU Dortmund, hat das Vorwort geschrieben. Er testiert dieser Gestaltung „Konstruktion, Materialität und Gliederung“. Sie hebe sich wohltuend ab von der abstrahierenden oder lieblosen Vereinfachung der Architektur späterer Jahrzehnte. Das Neue will auch den Stuck und Putz der heute wieder sehr geschätzten gründerzeitlichen Quartiere überwinden.

Präsentiert werden mit Bild und genauer räumlicher Verortung in Plänen rund 140 Bauten dieser Ära. Es gibt einleitende bilinguale (Dt./Engl.) Essays und verschiedene Indizes zur Erschließung. Ein regelrechtes Werkverzeichnis oder enzyklopädisches Gattungskompendium ist der Band allerdings nicht.

Die Objekte umfassen neben Industrie- und Infrastrukturbauten, kleinen und großen Wohnhäusern sowie Kirchen vor allem öffentliche Gebäude in unterschiedlichen räumlichen Formationen. Ihre gesucht vertikale Struktur realisiert sich für gewerbliche und private Nutzungen nicht zuletzt in prägenden Hochbauten in Düsseldorf und Köln. Diese antizipieren die internationale Hochhausarchitektur späterer Zeiten in einer damals noch überschaubaren Dimension.

Die Gebäude sind eher auf sich gestellt. Das unterscheidet sie von ihren baulichen Verwandten in Berlin, welche den funktionalen Kontext von Technik und verkehrlicher Infrastruktur bedienen. An Rhein und Ruhr wirken sie demgegenüber heute manchmal wie erratische Zeitblöcke einer ziemlich alleingelassenen Moderne, obwohl sie bei ihrer Entstehung „planvoll in den Stadtraum gesetzt“ waren.

Die persönlichen und organisatorischen Bedingungen differieren gerade an der Ruhr von Stadt zu Stadt: In Bochum war es der freiberufliche und mit Einzelaufträgen beschäftigte Architekt Heinrich Schmiedeknecht (1880-1962), der das „expressionistische“ Bild der Stadt durch Bauten für den kommunalen Nahverkehr und die lokale Industrie prägte. In Oberhausen ging die planerische und bauliche Initiative vom zuständigen Stadtbaumeister Ludwig Freitag (1888 – 1973) aus. Sie führte neben einem neuen Stadtkern zum (Neu-)Bau des Rathauses, des Polizeigebäudes und des Kaufhaus Tietz. In Hagen verknüpfte sich der „Hagener Impuls“ von Karl Ernst Osthaus (1874 – 1921) mit der expressionistischen Architektur. In Dortmund entsteht das heutige U als monumentales Brauereigebäude.

In Essen verkörpert wiederum der Architekt und Hochschullehrer Alfred Fischer (1881 – 1950) als Leiter der Handwerker- und Kunstgewerbe- bzw. späteren Folkwangschule den starken Aufstiegs- und Formwillen der jungen Metropole. Fischer ist in dieser Zeit der gestalterische Repräsentant der prosperierenden Industriestadt. Weiterhin gelingen ihm über den engeren kommunalen Kreis von Essen hinaus wichtige Bauten im ganzen Ruhrgebiet. Am bekanntesten dürften das unlängst von den Hamburger Architekten von Gerkan, Marg und Partner umgestaltete Hans Sachs-Haus in Gelsenkirchen sein sowie das Verbandsgebäude des heutigen Regionalverband Ruhr (RVR) in Essen: Die „gedämpfte, gleichzeitig eigenständige Monumentalität als Ausdrucksmittel verkörperte das neue Selbstbewusstsein der Region“.

Diese Architektur ist zugleich eine europäische in den damaligen Nationalstaaten und durchzieht den Kontinent in fast alle Himmelsrichtungen. Sie umfasst deutsche Repräsentations-, Funktional- und Individualbauten an Rhein (dort vor allem in Düsseldorf und Köln) und an der Ruhr, in Berlin und in Hamburg. Sie hat gestalterische Verwandte und stilistische Zeitgenossen in den heutigen Benelux-Staaten sowie in osteuropäischen Ländern.

Die Europäische Kommission hat im Frühjahr vornehmlich auf deutschen Wunsch hin 2018 als Europäisches Kulturerbe-Jahr unter dem Titel „Sharing Heritage“ ausgelobt. Die zuständigen Institutionen sind zu qualifizierten Vorschlägen aufgerufen.

In Nordrhein-Westfalen verbindet die expressionistische Architektur baugeschichtlich zudem zwei wichtige Landesteile. Das europäische Projekt wäre ein guter Anlass, um diese stadtästhetischen Wurzeln an Rhein und Ruhr herauszuarbeiten und gleichzeitig ein wichtiges Kapitel europäischer Architekturgeschichte zum Thema einer internationalen Plattform zu machen. Die Zeit drängt, und erfreulicherweise gibt es erste Ideen dazu.

Literaturhinweis: Christoph Rauhut, Niels Lehmann, Fragments of Metropolis Rhein & Ruhr, München/HIRMER VERLAG 2016, Preis: 29.80 €

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