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Ruhrtriennale: Universe, Incomplete von Christoph Marthaler

Universe, Incomplete von Christoph Marthaler bei der Ruhrtriennale (Foto: Walter Mair)

Das feine und intime Theater eines Christoph Marthaler, das sich mit dem ganz alltäglichen Scheitern und der stillen Vergeblichkeit des Lebens beschäftigt, das weder in seinem Humor noch seiner Melancholie laut und vordergründig ist, eignet sich auf den ersten Blick so gar nicht für die riesige Unüberschaubarkeit der Bochumer Jahrhunderthalle. Und auch die Bühnenbilder einer Anna Viebrock, diese tristen, geschlossenen Räume, die leicht aus der Zeit gekippten Amtsstuben und Wartehallen, die in ihrem sanften Verfall zunächst unbedingt realistisch und bei genauem Blick in den Details absurd bis surreal sind – in den Weiten der Halle sind sie eine Unmöglichkeit. Und dennoch wagt sich dieses Team nun gemeinsam mit den Bochumer Symphonikern, Rhetoric Project, dem Schlagquartett Köln, Schlagzeugstudierenden aus Köln, Detmold, Essen, Münster und Bochum und dem Dirigenten Titus Engel an diese Herausforderung. Und zu allem Überfluss wählen sie auch noch eine bisher nie erprobte Perspektive, bei der der Zuschauer von einer schräg in die Seitenhalle gestellten Tribühne in die Langhalle schaut, so dass sich eine Spielfläche von enormer Tiefe ergibt und nach rechts hin ein nicht einsehbarer Resonanzraum, aus dem heraus über einen großen Teil der Inszenierung hinweg das Orchester agiert. Erstaunlicherweise funktioniert das akustisch hervorragend und fügt sich perfekt mit den bei dem Komponisten des Abends Charles Ives immer wieder zu findenden visionären raumakustischen Ideen. Wie die Musiker und Titus Engel über die oft enormen Distanzen hinweg hier Synchronität und Klangbalance realisieren, nötigt allein schon allergrößten Respekt ab.

Die Universe Symphony war das lebenslange Riesenprojekt des amerikanischen Komponisten Charles Ives, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Werke von unbedingter Eigenständigkeit schuf, mit Collagentechniken und Vierteltönen, Formen und Räumen experimentierte, der fernab von allen musikalischen Strömungen seiner Zeit ein Werk von extremer Eigenständigkeit schuf, das erst spät in seiner bahnbrechenden Modernität wiederentdeckt wurde durch Ausnahmekünstler wie John Cage. Zeitlebens blieb Ives’ Universe Symphony unvollendet, mehr noch Fragment oder sogar nur eine Ansammlung von Skizzen, Versuchen und Überlegungen. Und dennoch scheint Ives selbst das Scheitern an dieser Aufgabe von Anfang an akzeptiert zu haben, ohne freilich die Arbeit daran deshalb aufzugeben. 

Vom Titel der Symphonie leitet sich nun auch der Titel von Marthalers Musiktheater-Kreation ab, die am 17.8. in der Jahrhunderthalle im Rahmen der Ruhrtriennale ihre Uraufführung erlebte. Die Unmöglichkeit des Projektes findet sich dabei schon als Contradictio in Adiecto im Titel „Universe, incomplete“ wieder. Es ist aber auch eine Zurückhaltung darin zu spüren, als wolle Marthaler hier dem eigenen Scheitern vorbeugen, indem er die Unvollständigkeit des Abends von Anfang an Raum gibt. 

Universe, Incomplete von Christoph Marthaler bei der Ruhrtriennale (Foto: Walter Mair)

Anna Viebrock hat in die riesige Halle einzelne Elemente gestellt. Eine Reihe Kirchenbänke, ein hölzerner Kircheneingang, am Rande des noch gerade einsehbaren Raumes ein Kinosaal, eine kitschige Brücke in Pastellfarben, im Hintergrund ein endlos langer Tisch mit Stühlen, ein Wellblechschuppen und ein Checkpoint. Und quer zur Zuschauertribühne verlaufen Bahnschienen durch die gesamte Halle. Manches, wie eine Baseballtribüne, verweist direkt auf Charles Ives, doch Christoph Marthaler belässt es bei nur wenigen Anspielungen auf das Leben des Komponisten und kreiert eher lose assoziative Situationen zur und mit der Musik, die von erfolglosem Bemühen und beiläufigem Scheitern erzählen. 

Der Abend steigt ein mit dem umfangreichsten und beeindruckendsten Fragment der Komposition. Ein monströses Schlagwerk-Stück, das aus zwanzig sich in verschiedenen Tempi überlagernden Formeln, die die gesamte Basis der Sinfonie bilden sollten, einen berauschenden Sog entwickelt. Ives’ Konzept der Formeln erinnert dabei ein wenig an Stockhausens Technik der Urformel, aus der heraus er sein siebenteiliges Magnum Opus „Licht“ entwickelte.  

Musikalisch werden die wenigen erhaltenen Teile der Universe Symphony an diesem Abend ergänzt durch Sätze aus den vier Symphonien von Charles Ives, Lieder, ein Klavierstück für zwei um einen Viertelton verschoben gestimmte Klavier, kleinere Kompositionen und einen Satz aus einem Streichquartett. Und, der Kenner ahnt es schon, beendet wird der Abend durch „The Unanswered Question“, jenes rätselhafte und herzzerfetzende Stück, das nicht nur das bekannteste von Charles Ives ist, sondern ihm auch einen Platz im Olymp der Komponisten sichert. Jene sechs Minuten Musik, die an das Äußerste und das Letzte rühren. Marthaler weiß das genau und es gelingt ihm und seinem Darstellerensemble dazu eine stille Inszenierung, die die überwältigene Wirkung der Musik tatsächlich noch steigert. 

Davor geizt der Abend nicht mit Ideen, die aber nie als Flut über die Zuschauer hereinbrechen, sondern in einem perfekten Timing der Marthaler’schen Langsamkeit vorbei ziehen. Es gibt irrwitzigen Humor, der aber immer mit einer zarten Melancholie grundiert ist. Und hier trifft sich in perfekter Weise die Grundstimmung des Theaters des Schweizer Regisseurs mit der des amerikanischen Komponisten, dessen oft verwirrende Collagen aus polytonaler Avantgarde und plötzlich hereinbrechender Populärmusik gleichermaßen urkomisch wie von tiefstem, fast heiligen Ernst, erfüllt sind. Es ist ein Abend der ganz großen Theateraugenblicke, ein Abend voller Magie, feinem Witz und trauriger Schönheit. Es gibt einen Schuppen, der Darsteller verschlingt und ein ganzes Orchester wieder ausspuckt, einen unsichtbaren Kinofilm, Tänze des Scheiterns und Wiederversuchens, ein Konzert des Stühlerückens, das Pianistenduell, eine Prozession bäuchlings kriechend über Abgründe hinweg und den Mann mit der Tuba, der panisch in der Halle herumläuft auf der Suche nach seinem Orchester.

Universe, Incomplete von Christoph Marthaler bei der Ruhrtriennale (Foto: Walter Mair)

„Universe, incomplete“ ist ein Abend von überwältigender Schönheit. Es ist eine Inszenierung, für die die Ruhrtriennale erfunden wurde, ein Theaterereignis, das so nur bei diesem Festival möglich ist, weil aus dem einzigartigen Raum, den Möglichkeiten (und auch den Schwierigkeiten) seiner Größe sowie der Atmosphäre und Ästhetik der Architektur, dem gemeinsamen Willen und Mut aller hochspezialisierten Einzelkünstler, mit diesen Möglichkeiten zu arbeiten, und einem außerordentlichen künstlerischen Konzept eine Einheit entsteht. Dabei kommen Marthaler und Ives sich in ihrer Kunst fast schon unheimlich nahe. Die Aufführung in der Jahrhunderthalle wirkt, als hätten sie gemeinsam das unmögliche Riesenwerk endlich vollendet. Mit „Universe, incomplete“ hat sich diese gerade erst begonnene Ausgabe unter der Intendanz von Stefanie Carp schon jetzt tief in die Geschichte der Ruhrtriennale eingeschrieben. Ein ikonischer Abend, der mühelos neben solchen herausragenden Inszenierungen wie David Pountneys „Die Soldaten“ und selbst den unvergessenen Projekt-Konzerten, mit denen Eberhard Kloke noch vor der Erfindung der Ruhrtriennale die Jahrhunderthalle überhaupt für Kunst erschloss, bestehen kann.

Termine und Tickets: ruhrtriennale

 

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