Spannungsfall: Hat sich Deutschland wehrlos gewählt?

Roderich Kiesewetter Foto: Büro Kiesewetter Lizenz: CC BY-SA 4.0


Es gibt gute Gründe, jetzt oder in naher Zukunft den Spannungsfall auszurufen. Doch ob es die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag gibt, ist zweifelhaft. Deutschland hat sich wehrlos gewählt.

Im Handelsblatt hat der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter die Ausrufung des Spannungsfalls gefordert. Kiesewetter ist der Ansicht, dass die Überflüge russischer Drohnen das „Schlachtfeld vorbereiten“ und Angst in der Bevölkerung auslösen sollen. Kiesewetters Forderung macht Sinn und müsste angesichts der russischen Eskalation ohnehin in absehbarer Zeit umgesetzt werden. Nur was ist der Spannungsfall? In ihrem Buch Deutschland im Ernstfall haben Ferdinand Gehringer und Johannes Steger ausführlich beschrieben, was der Spannungsfall – ein Begriff, der den meisten bislang kaum bekannt gewesen sein dürfte – ist: „Der Spannungsfall ist Teil der Notstandsverfassung des Grundgesetzes. Denn für besonders außergewöhnliche Lagen gibt es die Notstandsregelungen. Der Sicherheitsschalter im Maschinenraum der Demokratie: Man darf ihn nur im Ernstfall umlegen. Ist der aber gegeben, soll er dabei helfen, Schaden vom Ganzen abzuwenden, wenn nichts anderes mehr hilft.“

Was ist der Spannungsfall?

Ferdinand Gehringer und Johannes Steger erklären in ihrem Buch, was der Spannungsfall praktisch bedeutet: Mit seiner Feststellung werden in Deutschland spezielle Gesetze aktiviert – sogenannte Schubladengesetze. Diese Sicherstellungs- und Vorsorgegesetze liegen vorbereitet bereit, entfalten aber erst im Ernstfall Wirkung. Ihr Ziel ist es, die staatliche Handlungsfähigkeit und die Versorgung der Bevölkerung im Spannungs- oder Verteidigungsfall sicherzustellen.

Sie erlauben dem Staat, auf Ressourcen, Infrastruktur und Personal zuzugreifen – sowohl zivil als auch militärisch. Vergleichbar mit einem Werkzeugkasten enthalten sie Maßnahmen wie:

  • Vorrangregelungen: Unternehmen müssen zuerst für lebenswichtige Bereiche wie Gesundheit, Ernährung oder Energie produzieren.
  • Pflichtlagerung und Leistungen: Firmen können verpflichtet werden, Vorräte zu halten oder bestimmte Aufgaben zu übernehmen.
  • Verkehrslenkung: Transportwege für Hilfsgüter werden freigehalten, der Individualverkehr kann eingeschränkt werden.
  • Zugriff auf Bestände: Rohstoffe und Infrastruktur dürfen genutzt werden – gesetzlich geregelt und gegen Entschädigung.
  • Arbeitspflicht: In schweren Fällen können Personen zur Mitarbeit in systemrelevanten Bereichen verpflichtet werden.

Alle Maßnahmen sind gesetzlich geregelt und dürfen nur unter klar definierten Bedingungen eingesetzt werden – nicht willkürlich.

Aber das ist nicht alles: „Die Bundeswehr erhält im Spannungs- und Verteidigungsfall besondere Befugnisse. Sie darf nicht mehr nur im Ausland tätig sein, sondern kann ausnahmsweise im Inland eingesetzt werden, etwa zum Schutz kritischer Infrastruktur oder zur Regelung des Verkehrs. (…) Gleichzeitig können Reservisten einberufen und – wenn gesetzlich aktiviert – sogar die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt werden.“

Der Spannungsfall ist nicht der Verteidigungsfall, aber er soll das Land bereit für den Ernstfall machen. Denn wenn er eintritt, werden die Truppen, die in Europa die Demokratie gegen Russland verteidigen, durch Deutschland an die Front verlegt werden. Das Land wird Verwundete der Bundeswehr und befreundeter Armeen versorgen müssen und wird zur logistischen Drehscheibe.

Politische Hürden im Bundestag

Die große Frage ist nur, ob Kiesewetters Vorschlag im Bundestag eine Chance hat, denn zwei Drittel der anwesenden Abgeordneten des Bundestages müssen der Feststellung des Spannungsfalls zustimmen. Und das ist ein Problem: Mit AfD und Linkspartei stellen die Feinde der Demokratie mehr als ein Drittel der Abgeordneten. Gegen sie kann der Spannungsfall nicht ausgerufen werden. Und nicht nur die Abgeordneten von AfD und Linken sind ein Sicherheitsrisiko: Ob Sozialdemokraten wie Ralf Stegner und Rolf Mützenich dafür stimmen würden, dass sich die Demokratie bereitmacht, sich selbst zu schützen, ist ebenso offen wie die Unterstützung zahlreicher CDU-Bundestagsabgeordneter aus dem Osten. Deutschland hat sich wehrlos gewählt. Eine Zweidrittelmehrheit für den Schutz des eigenen Landes und die Unterstützung der Verbündeten ist alles andere als sicher. Nach Ende der Nazizeit hat die westliche Staatengemeinschaft Deutschland in ihren Kreis aufgenommen. Das war ein Vertrauensvorschuss, der damals durch nichts gerechtfertigt war, es war eine große Geste, die dem Land die Rückkehr in den Kreis der zivilisierten Gesellschaften ermöglichte. Wenn Deutschland nun versagt, würde sich dies als tragischer Fehler erweisen.

 

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hase12
hase12
2 Monate zuvor

Kritisch wird es erst, wenn Russland versuchen sollte, unser hier im Westen gelegenes alte deutsche Kulturland anzugreifen. Mit dem Gebiet östlich der Elbe kann es von mir aus machen was es will!

Gerd Schulz
Gast
Gerd Schulz
2 Monate zuvor

Ich sehe diese Aussage kritisch bzw. Als falsch an: „die Feinde der Demokratie, die Linken und die AfD, machen mehr als 1/3 der Stimmen im Bundestag aus. Ich bin 73 Jahre alt und war imner Wähler der Altparteien. Für mich sind diese Politiker die Gefährder der Demokratie schlechthin. Sie setzen die Sicherheit unseres Landes aufs Spiel. Sie tun nichts gegen Kriminalität ubd beschwören Unruhen herauf durch soziale Ungerechtigkeiten, wie Wohnungsnot und Schieflage des Rentensystems. Wir Bürger akzeptieren das nicht mehr, wie leichtfertig mit unseren Steuergeldern umgegangen wird und werden sie nicht mehr wählen.

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