Aigner sagt leise Adieu

Ilse Aigner hat sich ausgeloggt.

Wer A sagt, muss auch B sagen – dachte sich wohl Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner und kündigte am Freitag ihren baldigen Austritt bei Facebook an. Heute ist sie weg. Was unter ihrem Namen übrig bleibt, sind ein paar Fanseiten und der Versuch, die Goldgrube Facebook zu ändern.

Dabei sagt Facebook selbst: „Auf Facebook geht es um das Teilen von Inhalten.“ Ich kann mitbestimmen, mit wem ich meine Inhalte teile: Mit Freunden, mit Freunden von Freunden oder auch mit der ganzen Welt. Ich kann den Google-Robot blockieren und so verhindern, dass die eine Datenkrake auf die andere zugreift. Ich kann zwar mein Profil löschen, doch sicher bleibt es auf irgendeinem Server gespeichert. Wer bisher nicht begriffen hat, dass das Internet nichts vergisst, hat auch in den Social Networks nichts verloren. Nicht der Facebook-Nutzer per se ist naiv, sondern der Glaube an ein anonymes Internet.

Mark Zuckerberg wird Internet-Ilse wohl keine Träne nachweinen – er wird sich eher über die PR-Arbeit der letzten Wochen freuen, denn Facebook wird immer größer. Rund 200 Prozent Wachstum verzeichnet das Social Network gegenüber dem Vorjahr. Aigners Austritt war konsequent und längst überfällig – einen Sinn hatte er nicht.

Ich kenne niemanden, der Facebook seit Aigners Kritik verlassen hat. Dafür habe ich seit Anfang April viele neue Gesichter dort entdeckt. Wer sich die Frage stellt, wie man sich bei einer Plattform anmelden kann, die mit Daten dealen möchte, den frage ich: „Wie kann man Google benutzen?“

Google beantwortet momentan rund 90 Prozent der Suchanfragen in Deutschland. Nicht einmal in den USA hat Google solch eine Monopolstellung. Und: Google wird die Daten irgendwo sammeln. Mit Suchanfrage und IP und allem Pipapo – wer weiß, wofür sie noch gut sein können.

Google verdient sich mit Anzeigen eine goldene Nase. Vielleicht ist es ja auch die Weiterentwicklung des Kapitalismus, dass Google und Facebook keine gemeinnützigen Vereine sind. Wir bekommen den kostenlosen Service einer Suchmaschine oder eines Netzwerks und geben dafür unsere Privatsphäre auf. Die Frage ist nicht „Ist das okay, dass Facebook meine Daten verscherbelt?“. Sie sollte vielmehr lauten: „Welche meiner Daten kann Facebook verscherbeln? Und was wäre mir peinlich, wenn es morgen in der Zeitung stehen würde?“ Das sollten die Gedanken der Facebook-Jünger sein. Medienkompetenz 2.0 quasi.

Was Ilse Aigner nicht recht verstanden hat, ist der Unterschied zwischen Facebook und Google: Zu Facebook tragen wir unsere Daten hin, Google nimmt sich diese Daten einfach. Und viel verwerflicher als die Datenpolitik von Facebook ist die Einstellung vieler der 12 Millionen deutschen Facebook-Nutzer: Da wird von der Handynummer über den Beziehungsstatus bis hin zu religiösen Ansichten alles gespeichert.

Meine Facebooks-Friends sind nicht zwingend meine Freunde. Und meine wirklichen Freunde kennen mein Geburtsdatum und haben meine Handynummer. Es soll auch vorkommen, dass Freunde meine Adresse kennen und auf ein Bier vorbeikommen.

Ohne Facebook, total Oldschool.

Wer sich um seine Daten schert, sollte sich fünf Minuten Zeit nehmen und an den Privatsphäre-Einstellungen feilen. Mal darüber nachdenken, welche Angabe Facebook Geld einbringen könnte. Vielleicht auch die ein oder andere Info entfernen. Oder einfach das komplette Profil „löschen“ – aber sich bestimmt nicht darüber aufregen, dass Facebook böse ist. „Don´t be evil“ ist schließlich das Motto von Google und nicht von Facebook.

Und wem die ganze Sache mit den sozialen Netzwerken sowieso zuwider ist, dem sei Hatebook empfohlen. Dort heißt es: „Hatebook ist an anti-social utility that disconnects you from the things you hate.“

Vielleicht kann Ilse Aigner da Mark Zuckerberg als Enemy adden.

Die NPD und ihre Fans bei Facebook

NPD bei Facebook

Dass im Internet jegliches bisschen an Privatsphäre aufgegeben wird, weiß mittlerweile auch meine Oma. Dass sich dort auch gerne Rechtsgesinnte tummeln, ist ebenso wenig neu. Nur der kleine Aufstand, der sich aktuell bei Facebook breit macht, lässt die Kritiker der vermeintlich unpolitischen Jugend hoffen.

„Kein Facebook für Nazis – NPD Seite löschen!“ steht auf meinem Bildschirm. Alles klar, Daumen hoch und Fan werden, genau wie über 150.000 andere Facebook-Nutzer auch schon Fans sind. Die Idee der digitalen Bewegung ist denkbar einfach: Es wird eine Gruppe gegen die NPD gegründet, die NPD-Seite wird Facebook gemeldet und dann gelöscht. So sollte es laufen. Tut es aber nicht.

Die „soziale Heimatpartei“, wie die NPD sich selbst beschreibt, fordert die Rückkehr der D-Mark, verlinkt auf diverse NPD-Seiten im Netz und wettert gegen das Rettungspaket der EU. Alles im Rahmen des Gesetzes, versteht sich. Viel wurde über den Wahlkampf der großen Parteien im Web 2.0 geschrieben, doch dass rechte Parteien wie die NPD ebenfalls hier weiden, übersieht man gern. Wo die Linke in den Landtag einziehen darf, darf die Rechte doch wohl ein virtuelle Fans haben, oder?

Während ich das tippe, wächst die Zahl der Anhänger der NPD bei Facebook: Zehn Fans mehr hat die NPD-Seite allein in den letzten fünf Minuten gewonnen. Und weil die Gedanken auch in der Welt der Mark Zuckerbergs und Sergej Brins frei sind, bekennen sich über 1.500 Rechte öffentlich:

M. E. schreibt: „Und ich hoffe du gehst irgendwann wie Millionen andere hier lebende „Bürger mit Migrationshintergrund“ in deine angestammte Heimat zurück. Wobei du als BRD-Türkin ja nicht mal von einer angestammten Heimat sprechen kannst. Dem System sei Dank!“ Ganz selbstverständlich sagt M.E. das, weil Meinungsfreiheit in Deutschland herrscht und Facebook in den USA sitzt. Deswegen muss Facebook die NPD-Seite auch nicht löschen. Und deswegen wird Facebook die Seite aller Voraussicht nach auch nicht löschen.

Die Mitte als politische Orientierung ist hier hinfällig – jeder, der gegen die NPD ist, wird als Linker abgestempelt: „ACHTUNG: Seit einiger Zeit versuchen linke Gutmenschen und uns nicht willkommene Zivilokkupanten durch beleidigende und bedrohende Nachrichten an unsere Fans, bzw. durch Zumüllen unserer Kommentarspalten, unsere Arbeit zu sabotieren.“, heißt es vom Betreiber der Seite.

Früher versammelten sich Nazis in einer dunklen Kneipe oder bei Kameraden, heute gehen sie online. Mit Bild, Namen und Wohnort. Da ist Martin. Er wohnt an der Donau, ist Single und hört Bushido. Und ist Fan der NPD. Oder nehmen wir Robert. Robert ist auf der Suche nach Frauen und politischer Aktivist. Seine kleine Tochter lacht auf seinem Profilbild.

Die Rechte sitzt nicht mehr im Keller und hört illegale Musik. Sie sitzt bei Facebook und Twitter und schämt sich nicht. Die Rechte hat Kinder, hört HipHop von einem Halb-Tunesier und steht dazu. Sie muss nicht auf Demos gehen, denn sie hat seine kleine rechte Revolution zu Hause.

Die Tatsache, dass auf einen Facebook-Fan der NPD rund 100 NPD-Gegner kommen, nützt nicht viel. Zumindest nicht, solange Facebook es den Holtzbrinck-Netzwerken nicht nachmacht und Soziale Netzwerke zum Sperrgebiet für die Rechte erklärt.

Wie wichtig Social Networks als Propaganda-Werkzeug sind, wird auf der Seite der NPD Sachsen klar: „Also raus aus den Hinterzimmern, raus auf die Straße, aber auch rein in die neuen sozialen Netzwerke des Internet.“

Vielleicht ist der Anti-NPD-Aufruf bei Facebook ein bisschen naiv.

Einen Versuch wert ist er alle Mal.


Die unglaubliche Geschichte der Neda Soltani – vom Versagen der Medien und der „Social Networks“

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Mir gegenüber sitzt die Todgesagte. Sie redet, sie lacht, manchmal merke ich, dass sie Angst hat. Neda Soltani musste flüchten, sie hat ihre Heimat verlassen. Sie sagt, hier in diesem Kaff bei Frankfurt am Main sei alles anders. Schnee, Frost, Regen und kalte Straßen mit kalten Gesichtern. Ein fremdes Land für die jungen Frau.

Das Bild von Neda Soltani kennt fast jeder auf dieser Welt. Es kam über die Sender, das Internet und die Zeitung in so gut wie jedes Haus als das Bild einer Toten. Dieses bekannte Portrait zeigt eine junge, vorsichtig geschminkte Frau mit braunen Augen. Der im Iran gesetzlich vorgeschriebenen Schleier ist eine Handbreit zurückgeschoben. Man sieht den Ansatz ihres kräftigen Haares. Sie lächelt, ein wenig weich, ein wenig unschuldig, freundlich.

Hier und jetzt, in einem Cafe irgendwo in der Nähe von Frankfurt ist das Gesicht von Neda Soltani härter geworden. Sie trägt keinen Schleier mehr. Man sieht graue Strähnen, die größer werden an ihrer Stirn. Es war nur ein Missverständnis, sagt sie. Ein Fehler. Ein Irrtum mit schrecklichen Folgen. Neda Soltani geriet in den Tumulten nach den gefälschten Wahlen im Iran zwischen die Fronten, wurde gehetzt, gejagt und musste flüchten. Ihr altes Leben zerbrach wie ein Spiegel. Ihr Foto, das Bild mit dem weichen Lächeln das um die Welt ging, wurde ihr entrissen.

Bis vor einem halben Jahr hat Neda Soltani in Teheran gelebt. Sie unterrichtete dort englische Literatur. Sie kann sich in der fremden Sprache fließend ausdrücken, gewählt und intelligent. Im Sommer erst hatte sie eine Arbeit über die weibliche Symbolik im Werk von Joseph Conrad abgeschlossen. An den Protesten im Iran konnte sie deswegen nicht teilnehmen. Sie musste im Juni Korrektur lesen. „Mein Ziel war es, irgendwann eine Professur anzustreben, wenn ich gut genug dafür gewesen wäre.“

Ihre Eltern gehören der iranischen Mittelschicht an. Wo genau sie herkommt und was ihre Familie macht, will sie nicht sagen. Sie hat Angst. Sie erkennt Probleme. Sie weiß, dass nicht alles richtig läuft. Aber sie war vor allem fleißig, wenn es darum ging, zu lernen. Eine Akademikerin. „Ich habe über zehn Jahre hart gearbeitet, um mir die Position als Dozentin an der Universität zu sichern. Ich habe Geld verdient, ich bin mit Freunden ausgegangen und ich habe Spaß gehabt.“ Heute hat sie davon nichts mehr. Keine Arbeit, kein Geld und keine Freunde zum Ausgehen. Neda Soltani ist jetzt 32 Jahre alt.

Die Geschichte ihres Fotos beginnt am 20. Juni 2009. Damals wurde in der Nähe der Kargar Avenue in Teheran gegen 19:00 Uhr Ortszeit eine junge Frau niedergeschossen. Sie fiel auf den Rücken, aus ihrem Mund lief Blut. Dabei starrte sie in eine Handykamera, verletzt, voller Angst, wehrlos. Sie starb wenig später auf dem Weg ins Hospital. Die Bilder der sterbenden Frau wurden auf Youtube hochgeladen.

Alarmiert durch Blogger und Twitter stoßen bald große Sender auf das Sterben der Frau. Redakteure versuchen sie zu identifizieren. In Zeitnot suchen sie Bilder der Toten. Ihr Vorname, Neda, war im Video zu hören. Schnell kommt über das Netz ein Nachname: Soltan, Studentin der Islamic Azad Universität in Teheran. Irgendwer sucht mit diesen Daten bei Facebook.

Hier unterhält auch Neda Soltani eine Seite. Öffentlich zugänglich ist hier nicht viel. Neda Soltani hat ihre Inhalte allein für Freunde freigegeben. In ihrem Profil stand allerdings ein Foto, das damals jeder sehen konnte.

Wer als erster auf ihre Seite im internationalen Portal für Studenten, Manager und Hausfrauen stieß, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Genauso wenig ist klar, wer den Fehler machte und die ermordete Neda Soltan (auf dem Foto links) mit Neda Soltani (auf dem Foto rechts) verwechselte.


Auf jeden Fall kopiert irgendwer das Foto der Lebenden in der Nacht auf den 21. Juni 2009 aus deren Facebook-Profil. Es wird über die sozialen Netzwerke, über Blogs und Portale gestreut. Dann wird es über CNN, BBC, CBS, ZDF, ARD und fast jeden anderen denkbaren Sender gesendet. Es wird gedruckt in den Zeitungen und Magazinen dutzender Länder. Es passiert gleichzeitig, es passiert weltweit.

Das Foto der jungen Frau wurde so zum Symbol des Freiheitskampfes am persischen Golf. Auf Demonstrationen trugen die wütenden Menschen das Abbild der vermeidlichen Märtyrerin vor sich her. Sie trugen es auf ihren T-Shirts und bauten ihm Altäre. Sie riefen: „Engel des Iran“.

Wie konnte es zu dem verwechselten Foto kommen? Soltani ist ein gewöhnlicher Name im Iran. Wie Meyer oder Müller vielleicht. Auch Neda ist nicht ungewöhnlich. Man könnte ihn mit Sonja oder Sandra vergleichen. Die Ermordete studierte an der privaten Islamic Azad Universität, die lebende Neda Soltani war dort Dozentin. Doch hätten die Medien nicht besser prüfen müssen, wessen Foto sie benutzen, anstatt es einfach von einer Facebook-Seite zu kopieren und weltweit zu verbreiten? Es gab Zeitdruck, das ja, aber es gab zumindest eine Sache, die hätte stutzig machen müssen. Die Tote hieß mit vollem Namen Neda Agha-Soltan. Die Lebende wird einfach Neda Soltani genannt.

Am Morgen des 21. Juni 2009, einen Tag nach dem Todesschuss, wunderte sich Neda Soltani. Immer mehr Menschen wollten sich auf ihrer Facebook-Seite registrieren, als angebliche Freunde. Hunderte waren das, aus aller Welt. Es hörte nicht auf. Es kamen Anrufe. Ein befreundeter Professor brach in Tränen aus, als er ihre Stimme hörte.

Zunächst ein schlechter Witz, dachte Neda Soltani. Etwas, das mit zwei, drei Anrufen aus der Welt zu schaffen ist. Ein Fehler halt, wie er nicht passieren darf, aber passieren kann. Sie fing an zu schreiben. Sie schrieb, dass sie leben würde. Sie schrieb an den im Iran populären Sender Voice of America. Sie schrieb, dass es ein Irrtum sei. Dass sie das falsche Foto hätten. Als Beweis schickte Neda Soltani ein weiteres Foto von sich. Und schrieb: Die Redaktion könne ja vergleichen. Das sei auch sie. Neda Soltani hat nicht damit gerechnet, was dann passierte.

Voice of America verbreitete nun dieses zweite Foto als neues Bild der verstorbenen Neda und CBS griff es auf. Neda Soltani bekam Angst. Alles was sie tat, um ihr Bild zurück zu gewinnen, schien nutzlos.

Sie löschte das Foto auf ihrer Facebook-Seite. Damit es niemand mehr runterladen kann. Der nächste Stein kam ins Rollen. Zensur wähnend, wurde ihr Foto kopiert, dutzende, hunderte Facebook-Seiten auf aller Welt spiegelten ihr Bild. Es wurde in Blogs fixiert und bei Twitter versandt.

Es war, als sei ihre eigene Identität aus dem Foto gelöscht und stattdessen mit den Sehnsüchten tausender Menschen aufgeladen. Das lächelnde Gesicht der Tod Geglaubten gerann zur Ikone eines unschuldigen Opfers im Freiheitskampf.

Es half auch nichts, dass spätestens seit dem 23. Juni 2009 authentische Fotos der toten Neda Agha-Soltan frei und für jeden verfügbar waren, deren Eltern hatten sie herausgegeben. Das Bild von Neda Soltani wurde trotzdem weiter verbreitet.

Freunde von Neda Soltani versuchten, in Foren den Fehler richtig zu stellen. Eine Vertraute wurde deswegen beschimpft. „Du Bastard, Du wirst uns den Engel des Iran nicht nehmen.“ Es ist, als könne der einmal geglaubte Irrtum nicht mehr berichtigt werden.

Die Geschichte ist nicht nur die Geschichte des Versagens der traditionellen Redaktionen in hektischen Nachrichtenzeiten. Diese Geschichte beschreibt auch das Versagen der sozialen Medien. Die Masse hat im Netz nicht nur die Macht, Lügen zu entlarven. Die Masse kann auch eigene Wahrheiten erschaffen und verteidigen. Egal wie falsch die sind. Nur sehr wenige Blogs berichteten über den Fehler. Keiner wurde so ernst genommen, dass er die Macht gehabt hätte, den Irrtum zu korrigieren.

Irgendwann wurde Neda Soltani klar, dass etwas gewaltig aus dem Ruder läuft. Nur wenige Journalisten schrieben sie über ihre Facebook-Seite an und fragten nach ihrer Identität. Keiner von ihnen konnte oder wollte die Welle stoppen.

Neda Soltani geriet im Iran unter Druck. Sie wurde bedroht. Sie hat Angst um ihre Familie, deswegen kann und will sie nicht sagen, was genau vorgefallen ist. Nur soviel ist klar: Der Fehler mit ihrem Foto sollte gegen die Opposition gewandt, die Menschen auf der Straße als Instrumente westlicher Fälscher entlarvt werden – mit aller Gewalt. Es kamen schlimme Vorwürfe, die den Tod bringen können. Neda Soltani wurde krank. Panikattacken und hilflose Angst.

Sie konnte nicht mehr bleiben. Sie musste aus dem Iran verschwinden. Ohne von ihren Eltern Abschied zu nehmen, floh sie am 2. Juli 2009 in den Westen. Ihre Ersparnisse bekamen Fluchthelfer. Mit nichts in den Händen als einem Rucksack, einem kleinen Rucksack, ging sie los. Sie floh über Griechenland nach Deutschland. Hier hat sie einen Cousin. In Bochum. Der ist jetzt Ihre Familie.

Am 3. Juli 2009 brachte endlich BBC Online eine Nachricht über die falsche Identität in einer Internet-Wochenschau über soziale Netzwerke. Direkt hinter den Verschwörungstheorien zum Tod von Michael Jackson. BBC Online kommentierte: „Dieser Fall ist ein herausragendes Beispiel für die Gefahren, wenn Massenmedien Bilder aus sozialen Netzwerken im Internet verbreiten.“

Man hätte nun erwarten können, dass es damit ein Ende findet. „Meine Freunde haben mir gesagt, warte noch einen Tag. Dann wird alles gut. Doch es vergingen die Tage und nichts wurde gut“, sagt Neda Soltani.

Das Asylverfahren in Deutschland läuft nun seit Monaten. Neda sagt, sie wollte nie auswandern. Sie war auch noch nie im Westen. Sie sagt, sie hat Heimweh. Sie bekommt vom Deutschen Staat etwa 180 Euro im Monat als Hilfe. Das reicht kaum, um sich von Salaten, Früchten und Broten zu ernähren, so wie sie es gewohnt ist. Sie lebt irgendwo in einem Heim für Flüchtlinge. Ihr Zimmer mit der Nummer 11 ist schmal, zwei Betten, ein Regal. Hier will sie niemanden hineinlassen. Sie sagt, sie will die Monate „im Lager“ so schnell wie möglich vergessen. Sobald sie raus ist, soll sie nichts mehr an das hier erinnern. Die Beschläge der Türen sind mit Gips geflickt. Die Küche für einen ganzen Flur mit zwei dutzend Menschen hat kein Fenster, der Ausguss wackelt auf einem Brettergestell. Auf einem Balkon zum Hof ist eine Satellitenschüssel auf eine abgebrochene Metallstange gespießt. Die Stange steckt in einem vergammelten Sauerkrauteimer mit Sand und Steinen. Improvisiertes Flickwerk für eine Verbindung zur Heimat.

Obwohl das Foto der toten Neda seit Monaten bekannt ist, taucht noch immer das Bild der falschen bei Spiegel-Online auf, in der New York Times oder in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Selbst ein Bild der Nachrichtenagentur AFP zirkuliert noch durch die Archive.

Eines ist allen diesen Bildern gemein: Es sind meist Aufnahmen von Fotos. Sie zeigen Menschen, die eine Ikone in die Kamera strecken. Bilder eines falschen Bildes.

Neda Soltani hat lange dazu geschwiegen. Sie hat Boden unter den Füssen gesucht, sich gesammelt.

Als CNN im November einen Bericht zum Iran brachte, war der wieder mit dem Foto von Neda Soltani illustriert. Sie schrieb den Sender an und bat darum, ihr Bild zu löschen.

Als Antwort erhielt sie eine automatische Email, die um Verständnis bat, dass nicht alle Hinweise persönlich beantwortet werden könnten. Unterzeichnet war das Schreiben mit „CNN, The Most Trusted Name In News“.

Das Bild gehört nicht mehr ihr. Es gehört CNN und den anderen.

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Diese Geschichte erschien auch im SZ-Magazin.

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