Was unsere Lage schwierig macht

Vladimir Putin Foto: http://en.kremlin.ru Lizenz: CC BY-SA 4.0


Nach dreieinhalb Jahren Krieg, ist es Russland nicht gelungen, die Ukraine militärisch zu schlagen. Seit drei Jahren versucht eine der auf dem Papier stärksten Armeen der Welt, unter Einsatz aller Kräfte des bestehenden Heeres, einen Durchbruch in die Tiefe des Raumes zu erzielen, um die Ukrainer zur Kapitulation zu zwingen. Von unserem Gastautor Manfred Albers.

Russlands Verluste dabei sind enorm, es hat mehr als eine Million Mann verloren, Tote und Verwundete. Wer sich mit Russland befasst hat, weiß, dass Zahlen dort soweit es geht vertuscht werden. Die sowjetischen Verluste im 2. Weltkrieg wurden Jahrzehnte lang mit 20 Millionen angesetzt. Erst nach der kurzzeitigen leichten Öffnung der Archive in den 90ern weiß man, dass es mindestens 28 Millionen waren. Insofern muss man die heute kursierenden Zahlen vermutlich eines Tages eher nach oben korrigieren. Angesichts der traditionell miserablen Versorgung von Verwundeten, ist wie im 2. Weltkrieg davon auszugehen, dass das Verhältnis zwischen Verwundeten und Toten bei mindestens schrecklichen 1:1 liegt.

Die ukrainischen Verlustzahlen sind gut geheim gehalten und unbekannt, sie dürften weit über 100.000 vielleicht bis 300.000 gehen. Die zivilen Opfer des russischen Verbrechertums sind ebenso schwer fest zu machen. Seit dem Ende der Anfangsoffensive der Russen im März 2022 sind kaum noch Zivilisten in die Hand des Bösen geraten. Die höchste Zahl an Toten unter der Zivilbevölkerung hat die Schlacht um Mariupol ergeben, eine unbekannte Zahl im fünfstelligen Bereich ist zu vermuten. Deportationen und Lagerhaft gab es ebenso überall, wie mehr oder weniger wahllose Erschießungen. Anfängliche russische Zahlen sprechen von bis zu einer Million Ukrainer, die nach Russland deportiert wurden, aus dem Süden und Mariupol. Insbesondere an der unbeugsamen Bevölkerung dieser Stadt, die sich seit 2014 ihrer Einnahme widersetzte, dürften sich die Russen schrecklich gerächt haben. Folter an Kriegsgefangenen und entführte Kinder runden das Bild des russischen Verbrechertums ab.

Die Zahl der Kriegsgefangenen hingegen liegt bei ungefähr 30.000, vielleicht etwas mehr. Im Vergleich zu den Gesamtverlusten ist das extrem niedrig und zeigt, dass dieser Krieg mit einer nie gekannten Erbitterung geführt wird, die selbst die Ostfront des zweiten Weltkriegs übertrifft.

Unter diesen Rahmenbedingungen erkennt der für das alles verantwortliche Massenmörder im Kreml natürlich, dass seine Wirtschaft zwar durch die Kriegswirtschaft zu funktionieren scheint, jedoch das nichts ökonomisch Produktives hervorbringt, jetzt aber schon langsam nachlässt und nach einem Krieg die Rechnung präsentiert werden wird.

Das drängt die Frage nach den Handlungsoptionen Putins auf. Natürlich kann man eine gewisse Hoffnung hegen, weil der Spielraum des Kremls immer enger wird. Aber es ist sehr naiv, sich deshalb der Freude hinzugeben, es würde einen Waffenstillstand unter Überlassung der besetzten Gebiete in der Ukraine befördern. Eine Million Menschen verloren zu haben und dafür einen anschließenden ökonomischen Zusammenbruch der eigenen Bevölkerung präsentieren zu müssen, für ein paar zum Teil völlig zerstörte ukrainische Landstriche, das wird der Kremlzwerg selbst kurzfristig nicht überleben. Das ist physisch gemeint. Er weiß es und fürchtet es.

Hitler hat eine andere Lösung genommen. Ihm war nach der Niederlage vor Moskau deutlich, dass er den Krieg nicht mehr gewinnen könne und angesichts der beispiellosen schon Ende 1941 aufgehäuften Verbrechen auch, dass nicht mehr gewinnen, total verlieren hieße, weil der Gegner bis zum Schluss kämpfen würde. Er reagierte als Spieler. Er erhöhte den Einsatz. Nüchtern gesehen war es völlig irrsinnig, aber im Angesicht der drohenden Niederlage erklärte er ohne Not den USA den Krieg und verkündete er den Reichs- und Gauleitern am Tage darauf, dass er nunmehr alle Juden in seinem Herrschaftsbereich ermorden wolle. Das war zwar zuvor zwischen Himmler und ihm, unter Einbeziehung Görings, Heydrichs und der vorgesehenen führenden Mörder beschlossen und wurde durch die Einsatzgruppen an der Ostfront bereits experimentell umgesetzt, aber mit der Aussicht auf die Niederlage musste es nun widersinnig scheinen. Hitlers Vorteil dabei aber war, er musste die Niederlage nicht eingestehen, konnte völlig ungeniert um sich schlagen und sich einreden, durch das Setzen auf eine letzte Karte eine neue Chance zu haben. Aus seiner Sicht war es gar nicht so irrational, wie es uns heute scheint.

Vergleichbar zu heute ist, dass es sich um eine festgefahrene Situation handelt, die durch das Durchschlagen des Knotens gelöst werden könnte. Hitler erkannte dabei die USA als zeitweise schwach, mit einer 100.000 Mann Armee und im Fernen Osten gebunden, eher ungefährlich, im U-Boot-Krieg die Klarheit des Kriegszustandes durchaus vorteilhaft. Für Hitler war es der für einen Krieg gegen die USA bestmögliche Zeitpunkt, da von nun an die Zeit gegen ihn laufen würde, je mehr die Kriegswirtschaft in den USA in Schwung käme. Putin hat jetzt den Vorteil, dass die USA heute als Mitglied der Nato ausfallen könnten, dies sogar sehr wahrscheinlich ist, der Rest NATO aber unentschlossen und schwach erscheint, jedoch daran ist, zunehmend aufzurüsten; er also wie Hitler 1942 einige Monate hätte, die er im Vorteil wäre, grundsätzlich aber die Zeit gegen ihn.

Vergleichbar ist aber auch etwas anderes. Hitler war definitiv immer ein blutrünstiger Spieler. Das mag Putin so nicht gewesen sein. Der Mord war zwar von Beginn an Teil seines politischen Machtkalküls, aber er war durchaus ein kühler Realpolitiker, der zu seinem Vorteil schrittweise weiter ging und bei dem ich davon ausgehe, dass der große Krieg mit Europa nicht sein angestrebtes Ziel war, sondern die schrittweise Erweiterung der politischen Hegemonie durch Zersetzung der politischen Struktur der Mittel- und Westeuropäer bei gleichzeitiger nacheinander vorgenommenen Besetzung der osteuropäischen ehemaligen Sowjetrepubliken. Man sollte aber sich damit auseinandersetzen, dass er, wie anfangs beschrieben, inzwischen die Verantwortung für den Tod von bald einer Million Menschen trägt, die meisten davon waren eigene Soldaten, für ungeheuerliche Verbrechen und Zerstörungen, wie sie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr vorgekommen sind. Das verändert die Psyche. Umgeben von Jasagern ist er jenseits von allem Menschlichen angekommen. Er mag noch immer im Anzug aussehen, wie ein ganz normaler Unsympath an der Spitze eines Staates, aber tatsächlich ist er zu einem Monster geworden, das wie ein Monster denkt, ein Monster in Bedrängnis. Wie Hitler wird auch er verstanden haben, dass das Ergebnis des Krieges über nichts weniger als sein eigenes Überleben entscheidet. Nicht nur Trump ist naiv und dumm, weil er glauben mag, Wladimir Putin wäre ein rational denkender Diktator, etwas robust und kriminell im Umgang, aber Partner für “Deals”. Auch hierzulande ist diese Auffassung sehr, sehr weit verbreitet. Man verdrängt, in welchem Ausmaß das Monster im Blut gebadet hat und wie das selbst einen abgrundtief schlechten Menschen noch verändert.

Heute steht Russland mit jedem Tag mehr vor der Notwendigkeit neuer Entscheidungen. Gelingt es auch in den kommenden Monaten nicht, den großen Durchbruch an der Front zu erzielen, bleibt es dabei, dass die Rekrutierungen sich unterhalb der Verlustzahlen einpendeln, schaffen es die Europäer weiterhin, Trump soweit im Griff zu behalten, als dass er zumindest weiter Waffen an die Ukraine liefert, während sie selber lernen und aufrüsten, dann beginnt es für Russland ernst zu werden und die Uhr zu ticken. Der Kremlzwerg hat seit Kriegsbeginn die Generalmobilmachung gescheut, weil er glaubt, dass dies den Nerv seiner empathielosen Bewohner der wichtigen Städte treffen würde, denen es egal ist, wenn die Armen aus der Provinz, die Burjaten wie andere Angehörige der kolonisierten Völker, Obdachlose, Trinker, Gefängnisinsassen in den Tod an der Front gehetzt werden. Das Einziehen von Reservisten in erheblichem Umfange aber würde bei weiterer Erfolglosigkeit zum Winter hin unumgänglich werden, da der Waffenstillstand, s.o., keine Option ist.

Wenn aber schon Mobilisierung und damit das ultimative Risiko des Machterhalts, dann erscheint Tabula Rasa durchaus als Handlungsidee. Die Generalmobilmachung gegen die gesamte Nato zum Überleben Russlands einschließlich der Atomdrohung und partiellem Einsatz gegen eine schwache, rein europäische Nato ohne Vorbereitung auf den Drohnenkrieg, ließe sich vielleicht in Petersburg und Moskau verkaufen und wäre die Illusion eines denkbaren Sieges über Europa, vorbei an der unüberwindlichen Ukraine. Wenn ich ehrlich sein soll, ist es wahrscheinlicher als die Idee von 1942, zwischen Ägypten und dem Kaukasus mit unterlegenen Kräften eine Riesenzange um Europa zu schließen und den 2. Weltkrieg doch noch zu gewinnen.

Das muss alles nicht so kommen, aber es ist Zeit, es in die Situationsanalyse einzubeziehen. Gewiss sind die Entscheidungen in Moskau nicht mehr einem großen Plan folgend, der ist im März 2022 gescheitert. Es sind ad hoc Beschlüsse, die der Kriegssituation und der politischen Lage folgen, wobei die letztere für Russland erheblich besser ist, als die des Schlachtfeldes. Wer in Moskau mitreden kann, wissen wir nicht, aber es sollte wahrscheinlich sein, dass irrationale Gefühlsentscheidungen durchaus nicht auszuschließen sind.

Was tun? Unsere Möglichkeiten sind eingeschränkt, Moskau allein entscheidet, was es tun wird. Und nur in Moskau weiß man wirklich, ob und wie ernst die eigene Lage ist, wir können nur spekulieren. Abschreckung hat sich in der Vergangenheit als das einzig wirkungsvolle Konzept erwiesen. Konsequente Haltung der europäischen Staaten gehört dazu. Waffen für die Ukrainer zur Bindung der russischen Kräfte auch. Unser einziger Vorteil ist der, dass Russlands verbrecherische Führung kein monolithischer Block ist. Putin ist von allen der Einzige, der sicher sein Leben verlieren würde, wenn er seinem Volk die Verluste bei den geringen Gewinnen präsentieren müsste. Alle anderen könnten auf ihn zeigen und alle anderen, korrupte, steinreich gewordene Kleptokraten, würden vermutlich eher ungern im Atompilz verglühen, der immerhin auch aus England und Frankreich nach Moskau und Petersburg geschickt werden könnte. Auch dies ist ein Grund, der dafür spricht, dass bei allem Wahnsinn im Kreml, die Abschreckung durchaus den größten Wert für unser Überleben hätte.

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