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Zentrum für Politische Schönheit: Die Empathie des Publikums füttern

Beerdigung eines Flüchtlings durch das Zentrum für politische Schönheit, Berlin-Gatow, Deutschland Foto: Erik Marquardt Lizenz: CC BY-SA 4.0
Beerdigung eines Flüchtlings durch das Zentrum für politische Schönheit, Berlin-Gatow, Deutschland Foto: Erik Marquardt Lizenz: CC BY-SA 4.0


Sie sind die perfekte Mischung als politischem Aktivismus, Kunst und Public Relations: Das Zentrum für politische Schönheit. Dessen Gründer und Leiter Philipp Ruch hat nun mit „Wenn nicht wir, wer dann?“ ein Manifest veröffentlicht.

Er ist der Coverboy der passiven Linken und die ergötzt sich an den Aktionen seines Zentrums für Politische Schönheit: Philipp Ruch, 33, Künstler, sorgt seit Jahren mit Aktionen, die irgendwo zwischen Kunst und Politik changieren für Aufmerksamkeit. Ob das Zentrum für Politische Schönheit den Waffenhersteller Heckler & Koch unter einem Betonsarg beerdigen will, wie er über dem havarierten Teil des ukrainischen Kernkraftwerks Tschernobyl angebracht ist, im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge exhumiert und in Berlin erneut beisetzen lässt oder eine Plattform zu Rettung von Flüchtlingen vor Italien im Meer verankert: Ruch ist das Gesicht des Zentrums, setzt Themen und sorgt für Schlagzeilen. Nun hat er das Mainfest „Wenn nicht wir, wer dann“ geschrieben. Was liegt näher, als die Welt durch den Kauf eines Buches zu einem wenigstens ein wenig besseren Ort zu machen, ja, sich darüber hinaus bei jenen einzureihen, welche sich wünschen, die Zustände endlich zu verändern und mit mutigen Taten voran schreiten? Gerade in der Vorweihnachtszeit kann dies einen Kaufimpuls auslösen.

Philipp Ruch (2015) Foto: Erwin Heil - RLS Lizenz: CC BY 2.0
Philipp Ruch (2015) Foto: Erwin Heil – RLS Lizenz: CC BY 2.0

Ruchs Manifest ist getragen von Wut und Empörung und das ist erst einmal nichts schlechtes. Irgendeinen Grund muss man ja schließlich haben, um sich an den Schreibtisch zu setzen und es passt ja auch: Das Zentrum für Politische Schönheit ist so etwas wie die Artistenabteilung der Empörungsindustrie und schlägt Brücken zwischen Pop, Politik und Ästhetik. Auch hat Ruch einen guten Grund empört zu sein: Das Millionen Menschen verfolgt werden und auf der Flucht sind, dass sie bereit sind, ihr Leben zu riskieren, um ihrer erbärmlichen und bedrohten Existenz zu entfliehen, dass viele von ihnen dabei sterben, während es weiterhin sehr vielen Menschen vor allem in den Industriestaaten sehr gut geht, ist ein Grund empört zu sein. Auch wenn aus diesem Gefühl selten etwas kluges oder wirkungsvolles hervorgeht, kann man es menschlich nachvollziehen.

Was Ruch vermisst ist die Schönheit und dabei geht es ihm nicht um eine ansprechende Ästhetik. Für ihn ist die Moral schön. Es geht um eine moralisch, mentale, politische Schönheit, die den Gräuel in der Welt etwas entgegen setzt. Er ist vor allem Aktivist und nicht Künstler, kommt aus der Philosophie, und nutzt die Aktionskunst um seine Inhalte zu vermitteln. Alles geht über den Bauch. Deswegen finden diese spektakulären Aktionen statt. Die Bilder sprechen mehr als Texte, er und sein Team müssen die Empathie des Publikums füttern.

 

Seine Leser gehören zum etablierten und gebildeten sich links fühlenden Mittelstand. Extreme Lebenserfahrungen haben sie nie gemacht. Der Lebenslauf des idealen Ruch-Lesers verlief bruchlos, der Kindheit in einem der besseren Stadtquartiere schloss sich der Besuch des Gymnasiums an und nach dem erfolgreich bestandenen Abitur ging es zügig über ein geisteswissenschaftliches Studium in den Staatsdienst, wo man genügend Muße hat, sich frei von eigenen Sorgen Abends bei einem gute Glas Wein für eine Stunde den Krisen der Welt zu widmen. Wenn gleich zu Beginn Sätze wie „Wurden wir schon einmal zusammengetrieben? Hatten wir schon einmal Angst an Ort und Stelle vergewaltigt zu werden? Haben wir schon einmal unsere eigene Vernichtung gefürchtet“ fallen, wird dies deutlich: Das „Wir“, das Ruch adressiert, ist die wohlgestaltete, ein wenig links denkende, Mittelschicht. Es sind die Menschen, die mit ihren Spenden das ZPS finanzieren und in die Projekte der Politschönen gehen, die sie gemeinsam mit Stadttheatern umsetzen. Nur sie sind es offenbar wert, angesprochen zu werden und Ruch hat damit natürlich vollkommen recht. Jeder, der nur ein wenig von Marketing versteht weiß, dass die Auswahl der korrekten Zielgruppe entscheidend für den Erfolg ist. Und das Wir von Ruch sind nun einmal nicht alle Menschen, die in diesem Land leben, sondern nur diejenigen, die das ZPS unterstützen könnten. Dass in diesem Land sehr viele Menschen leben, die Erfahrungen mit Verfolgung haben, die schon einmal vernichtet werden sollten, interessiert ihn nicht. Viele sind vor Diktaturen nach Deutschland geflohen, wurden im Nationalsozialismus verfolgt oder in der DDR drangsaliert. Auch die Angst vor Vergewaltigung, die Erfahrung von Bedrohung, ist in den weniger begüterten Stadtteilen vielen Frauen nicht ganz so fremd, wo man Kriminalität und Gewalterfahrung am eigenen Leib kennen lernt und nicht nur durch die sonntägliche Betrachtung des Tatorts.

Mit der selben Mischung aus Schlichtheit und Kalkül, mit der Ruch den Kreis seiner Leser zieht, äußert er sich zu „unseren Politikern“, einer Gruppe, bei der es sich offenbar so wenig lohnt Unterscheidungen zu treffen wie bei dem „Wir“ seiner Leser: „Unseren Politikern mangelt es an Visionen, sie sind von Ratlosigkeit gezeichnet. Sie wissen nicht, was zu tun ist. Merkels Schulterzucken ist die Pathosformel einer zielentleerten und stillgestellten Zeit.“

Mal ganz davon abgesehen, dass es kaum eine unpathetischere Geste als ein Schulterzucken gibt, ist Ruchs pauschale Kritik an der Politik am Rande der Demokratiefeindlichkeit. Politik in Demokratien ist ein langwieriges Geschäft, es ist die Suche nach Mehrheiten, nicht nur im Kabinett oder im Parlament, sondern in der Gesellschaft. Wer Visionen haben will, vor allem solche, die schnell umgesetzt werden können, wird immer enttäuscht werden. Politiker in Demokratien sind Verwalter, keine Macher und das ist kein Nachteil. Demokratien bieten den Menschen den Rahmen, in dem sie ihre Visionen umsetzen können. Und so ziehen die Parteien auch eher Menschen an, die von einem Job im Öffentlichen-Dienst träumen als jene, die Ideen haben und sie umsetzen wollen. Ruch nimmt die Politiker zu wichtig wenn er schreibt, „dass Menschen nur politisch werden können, wenn Politik etwas in ihnen weckt…“

Die Bürger sind für ihn eine Masse, die von der Politik begeistert, bespaßt, ja indirekt gelenkt werden will. Es ist genau andersherum: Die Bürger entwickeln die Ideen, dann werden sie diskutiert und irgendwann wird daraus Politik. Parteien und Politiker sind keine Katalysatoren sondern eher träge Filter, die darauf achten, dass Ideen über einen breiten Konsens verfügen, wenn aus ihnen Politik wird. Und gerade bei seinem Thema Flucht gibt es Tausende, die sich freiwillig engagieren, die den Politikern im Spätsommer vorausgingen und mit ihrer Arbeit dafür sorgten, dass die Menschen die mit den „Trains of Hopes“ ankamen versorgt und vor allem freundlich begrüßt wurden.

Dumm wird es, wenn Ruch die Leidenschaftslosigkeit der Politik dafür verantwortlich macht, dass junge Menschen aus Europa in den Nahen-Osten ziehen, um sich an Kriegen auf Seiten der Islamisten zu beteiligen. Ob Al Mafalani, Mansour oder Neumann, alle Experten sind sich einig, dass die meisten der salafistischen Gotteskrieger von einem strammen Regelwerk angezogen werden, das ihnen die als Last empfundene Freiheit zur Entscheidung abnimmt.

Ruchs angeblich allmächtige Politiker sind nicht nur daran schuld, dass die Bürger angeblich unpolitisch sind oder zum Islamischen Staat wechseln, sondern auch, dass es eine Rüstungsindustrie gibt und deren Ingenieure nicht an der „Energiewende“ mitarbeiten.

Mal davon abgesehen, dass jemand, der sich darauf spezialisiert hat, Feuerleitsysteme zu entwickeln, zum Bau von Solaranlagen unter Umständen wenig beizutragen hat, unterstehen Unternehmen nicht dem Staat. Er kann nur sehr eingeschränkt Einfluss darauf nehmen, was ein Unternehmen herstellt und an wen es seine Waren verkauft. Auch das ist kein Fehler im System der Demokratie, sondern wirtschaftliche Freiheit, ohne die unserem Wohlstand die Grundlage entzogen würde. So dumm das auch ist, bei seiner Klientel ist ihm der Applaus sicher.

Leider gilt das auch für eine weitere, sehr bedenkliche Seite seines Denkens.

„Die Frage der Menschenrechte ist eine Frage des Einsatzes der eigenen Rechte zum Schutz der Rechtlosen und Entrechteten. Sonst haben wir diese Rechte nicht verdient. Die eigenen Rechte verkörpern ein überhistorisches Gewissen. Wie können wir glauben, diese Rechte zu verdienen, wenn wir nicht alles in unserer Macht Stehende tun, damit sie allen gewährt werden? Wir brauchen Widerstand im Namen der Humanität Europas. Wir müssen uns schützend vor die Untaten unserer Politiker stellen.“

Die Menschenrechte, und das macht sie ja gerade aus, verdient kein Mensch, sie werden nicht von irgend jemanden gewährt, man kann sie nicht verlieren. Die Stärke der Idee der Menschenrechte ist es ja gerade, dass jeder Mensch sie durch Geburt hat weil er ein Mensch ist. Man kann diese Idee natürlich in Zweifel ziehen und weltweit ist das, zum Beispiel in islamistischen Kreisen, auch sehr beliebt, aber dann ist man dabei, sich aus von der grundlegenden Idee einer freien Welt zu verabschieden.

Der Widerspruch, gegen jede Rüstungsindustrie zu sein, aber im Zweifelsfall „alles in unserer Macht Stehende tun“ um dafür zu sorgen, das die Menschenrechte überall durchgesetzt werden, kann weder Ruch noch seinem Lektor entgangen sein. Menschenrechte wurden bislang häufiger durch Kampf- als durch Schauspielertruppen durchgesetzt und es schaut nicht so aus, als ob sich daran bald etwas ändern wird. Begeistert zitiert Ruch Churchills Antrittsrede als Premierminister, als der 1940 die Briten auf eine Zeit mit „Blut, Schweiß und Tränen“ einstellte. Nur die Leistungsfähigkeit der britischen und später der US-Rüstungsindustrie sicherte den Sieg über die Nazis.

Genauso holzschnittartig wie sich Ruch über Politiker und seine vermeintlichen Leser äußert, schreibt er auch über Naturwissenschaftler, die angeblich „Glauben, den Menschen besser ergründen zu können als es Schriftsteller mir Romanen tun. Sie nehmen diesen ganzen „Hokuspokus“ gar nicht mehr zur Kenntnis und verklären ihn zur Methode.“ Diese kindliche Abwehrhaltung gegenüber Naturwissenschaften ist nun weder neu noch originell, was all das noch etwas peinlicher macht. Der letzte der sich in der Öffentlichkeit so gegen die Naturwissenschaften aufgeblasen hat war 1999 Dietrich Schwanitz in seinem Bestseller „Bildung – Alles was man wissen muss“. In offen zur Schau getragenen Dümmlichkeit sprach der Hamburger-Anglist allem naturwissenschaftlichen ab, zur Bildung zu gehören. Um wie viel souveräner war da der Konter des Wissenschaftsjournalisten Ernst Peter Fischer, der in seinem 2001 erschienen Buch „Die andere Bildung – Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte.“ Darauf hinwies, dass er zwar viele Naturwissenschaftler kenne, die kein Sonette von Shakespeare gelesen hätten, aber keinen, der darauf auch noch stolz gewesen wäre.

Ruch baut eine Popanz auf, der seinen Lesern gefallen wird. Das macht alles nicht klüger, aber unter Marketinggesichtspunkten ist es natürlich stimmig.

Auch von Psychologie hält Ruch nicht viel. Das Milieu und Kindheit einen Einfluss auf unsere Entwicklung haben, lehnt er ebenso ab wie biologische Erkenntnisse. Für ihn sind all das toxische Ideen, geschaffen um die Illusion einer Bedingtheit des Menschen zu erschaffen, ihm seine Freiheit und damit auch seine Verantwortung zu nehmen. Die angebliche Demütigung des Menschen durch die Wissenschaft empfindet er am eigenen Leib, was eher peinlich anzuschauen ist. Ruch tut so, als ob die wissenschaftlichen Erkenntnisse der vergangenen Jahrhunderte den Menschen unfrei gemacht hätten und verkennt, dass sie erst die Grundlage waren ihn aus der viel stärkeren Entmündigung zu befreien, die Religionen, Naturglaube und Mystizismus ihm über Jahrtausende auferlegt hatten. Wie so häufig in dem Buch sind seine Thesen zwar plakativ, aber, stellt man sie in einen geschichtlichen Zusammenhang lächerlich und oberflächlich. Entweder ist Ruch ein sehr dummer Mensch, was nicht wahrscheinlich ist, oder er spielt mit der Erwartungshaltung seiner Leser, hält ihnen die eigene Naivität wie ein Spiegel vor und erfreut sich nebenbei an den Einnahmen durch Spenden und den Verkauf des Buches und der wachsenden Bekanntheit des Zentrums für politische Schönheit.

Gegen Ende des Buches überrascht Ruch dann. Er kritisiert den postmodernen Relativismus und stellt dürfte sich damit gegen das Denken sehr großer Teile seiner Anhänger stellen. „Doch die nihilistische Auffassung von der Gleichwertigkeit aller „Kulturen“ – demokratischen wie diktatorischen – , die unserer politischen Verfassung jeglichen Wert abspricht, führt dazu, dass unser Wert relativiert wird. So manche Intellektuelle verachten die „Doktrin“ der Menschenrechte. Sie verweisen auf die lange Liste der kapitalen Missbräuche des Westens. Sie sehen keinen Unterschied darin, ob ein Staat im Namen eine Rassenideologie oder im Namen der Menschenrechte in den Krieg zieht. Die neuen Mythen werden von Denkern wie Giorgio Agamben erzählt, der so lange über „das Lager“ der Nationalsozialisten nachdenken konnte, bis für ihn nicht nur die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwanden, sondern er auf die Einsicht verfiel, dass auch die Demokratien ihre Lager eingerichtet hätten („Guantanamo“), mit denen sie sich stabilisiert hätten.“

Nach vielen Seiten oberflächlicher Wissenschaftskritik an „toxischen Ideen“ und sich immer wiederholenden Pauschalisierungen über Politiker, unsere Zeit und die ach so an Politik desinteressierten Menschen geht er hier die intellektuellen Grundlagen an, die für die weitgehend Handlungsunfähigkeit weiter Teile Linken und der Intellektuelle verantwortlich sind: „Wir sind eine Kultur unter vielen, und für einige Intellektuelle scheint es ausgemacht, das jede Kultur denselben Wert besitzt. Es gebe keine höheren und niederen Kulturen. Der amerikanische Imperialismus in Nahost und die europäische Arroganz in Südeuropa jagen einigen Intellektuelle einen solchen Schrecken ein, dass sie unsere Werte nicht länger sehen. Es erscheint zynisch, aber tatsächlich wurde das Sterben von Menschen in den letzten Jahrzehnte n mit der Begründung abgewendet, was uns den einfalle, ein Urteil über andere kulturelle Eigenheiten anderer zu fällen und uns einzumischen.“

Was hätte das für ein schönes Buch werden können, wenn Ruch seine Schlussthesen an den Anfang gestellt hätte und mit weniger Pathos und Pauschalisierung gearbeitet hätte. Hat er aber, was schade ist, denn natürlich gibt es viel an der Passivität der westlichen Gesellschaften angesichts des Elends in weiten Teilen der Welt zu kritisieren. Nur wie Ruch es in großen Teilen seines Buches gemacht hat, wirkt es eher clownesk, bestenfalls wie gutes Marketing, dass sich an eine ebenso wohlhabende wie intellektuell eher schlichte Klientel richtet.

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Arnold Voss
8 Jahre zuvor

Auf den Punkt gebracht, Stefan. Mein Kompliment für diesen Text.

philter
philter
8 Jahre zuvor

Warum so gehässig?
Wieso macht man in den weniger begüterten Stadtteilen eher Erfahrungen mit Vergewaltigung und Bedrohungen als in begüterten?
Ist nicht die politische Realität selbst die reinste Demokratiefeindlichkeit? (Das Statement vom Autor, Politik sei in Demokratien ein langwieriges Geschäft, belegt vor dem Hintergrund der schnellen Kriegsentscheidungen, die der Autor ja auch noch an anderer Stelle bejubelt, und auch anderer Entscheidungen aus dem Stehgreif plötzlich meine These der Demokratiefeindlichkeit der Realpolitik)
Beim Thema Menschenrechte wird es ziemlich lächerlich: Natürlich werden die in islamistischen Kreisen nicht beachtet, aber hier? Menschenrechte in völkerwidrigen Kriegen erkämpfen? Wie soll das gehen?
Hausaufgaben: Hannah Arendt lesen + den Unterschied zwischen „das“ und „dass“ mal endlich lernen – das ist doch echt nicht so schwierig!

philter
philter
8 Jahre zuvor

naja – die menschenrechte gelten ja gleich und unveräußerlich. sie sind quasi an das menschsein gebunden (menschsein = das recht, rechte zu haben. H. Arendt). das hat dann auch mit nationaler rechtsprechung eigentlich nichts zu tun. natürlich hast du recht, dass ein gericht in kassel seine urteile tendenziell eher an den menschenrechten orientiert als ein gericht in riad – aber das wäre dann im einzelfall zu prüfen.
auch in deutschen gerichten werden menschenrechte missachtet und manche menschen in deutschland sind eben gleicher als andere. was hannah arendt dann zu den aporien der menschenrechte bringt. und das finde ich persönlich ziemlich interessant: wir brauchen nicht von menschenrechten schwadronieren, wenn wir diese nicht V O L L U M F Ä N G L I C H umsetzen, sondern uns nur die paar rosinen rauspicken, die uns gerade in den kram passen! menschenrechte können per definitionem (unveräußerlichkeit) nicht in einem "wesentlich höheren Maße umgesetzt [werden] als überall sonst." entweder ganz oder gar nicht!
und dein statement "Menschenrechte [würden] häufig in Kriegen erkämpft" würde ich auch mal stark hinterfragen. dazu hat kant festgestellt, dass "der Krieg mehr schlechte Menschen schaffe, als er deren vernichte." (zit. n. Staguhn 2006: Warum Menschen keinen Frieden halten. S. 101 – das ist tatsächlich ein Jugendbuch!)
also: ich weiß, dass du hier deine bedenken (um das mal vorsichtig auszudrücken) mit der friedensbewegung hast – und die kann ich auch nachvollziehen (und in teilen sogar teilen), aber die frage, ob kriege menschenrechte bringen (können) oder etwas ähnlich erstrebenswertes (wahlweise: frieden, demokratie oder freiheit etc.) halte ich für nicht so eindeutig beantwortbar 🙂

es lebe die debatte – eines von vielen menschenrechten, das tatsächlich umgesetzt wird – denn tatsächlich sind einzelne menschenrechte umgesetzt (was dich dann zu dem statement mit dem höheren maße bringt), aber DIE menschenrechte eben nicht!

philter
philter
8 Jahre zuvor

nein: ich verkenne die prozesshaftigkeit nicht. ich bin mir durchaus bewusst, dass allein die verkündung der menschenrechte ein exorbitanter fortschritt gegenüber den jahrzehnten bis jahrhunderten (evtl. sogar zu der ewigkeit) zuvor darstellen, in denen hier so in ungefähr die barbarei herrschte, die du in riad wähnst (ich habe keine ahnung von den genauen zuständen, übernehme das jetzt einfach ungeprüft).
der anspruch sollte aber nicht sein sich mit barbaren zu vergleichen, um sagen zu können: "guck mal wie toll wir hier die menschenrechte umsetzen – bis auf die paar kinkerlitzchen!" sondern zu sagen: "leute! wir schaffen das! (mit diesem vielbemühten merkel-zitat will ich einfach konstatieren, dass ich nicht in das im artikel kritisierte "politiker-bashing" einstimmen will) wir sind auf nem guten weg, haben schon einiges geschafft, aber wir haben ein ziel!" ich glaube nämlich, mensch (ich nutze das jetzt nicht aus gender-gerechtigkeitsgründen, sondern weils hier einfach besser passt) braucht solche utopien, um weiter zu kommen.
wir hampeln jetzt lange genug rum, indem wir auf "den islamismus" schimpfen und das als grund benutzen menschenrechte (auch im innern) einzuschränken und die menschenrechte von "den islamisten" (oder auch nur "den muslimen") wegzubomben oder das MENSCHENRECHT auf asyl mal eben auszuhöhlen, weil die die realität das gerade nicht mehr so angenehm macht, es umzusetzen. aber das ist nicht die idee von menschenrechten!
also: "irgendein Wahabiten-Zauselbart" (totum pro parte?!) geht mir ziemlich am popo vorbei! finde ich ziemlich schlecht, was der macht, wenn er irgendwie scharia-recht spricht und z. b. frauen steinigen lässt (warum auch immer) oder journalisten wegsperrt und auspeitschen lässt. aber das ist irgendwie nicht meine baustelle.
was können wir machen, um seine barbarei zu beenden? ihn einsperren und auspeitschen lassen? ihn mit bomben oder gewehrpatronen steinigen? ich glaube nicht! ich glaube, wir können versuchen weiterhin konsequent menschenrechte umzusetzen. meinetwegen eines nach dem anderen und nicht alle auf einmal. aber ich halte das für einen guten plan!

ich habe mir das buch, um das es eigentlich geht, jetzt übrigens bestellt. beim freien buchhändler um die ecke, weil ich mich "zum etablierten und gebildeten sich links fühlenden Mittelstand [zähle]. Extreme Lebenserfahrungen haben [ich] nie gemacht. [Mein] Lebenslauf […] verlief bruchlos, der Kindheit in einem der besseren Stadtquartiere schloss sich der Besuch des Gymnasiums an und nach dem erfolgreich bestandenen Abitur ging es zügig über ein geisteswissenschaftliches Studium in den Staatsdienst, wo [ich] genügend Muße ha[be], [m]ich frei von eigenen Sorgen Abends bei eine[r] gute[n] [Flasche Bier] für eine Stunde den Krisen der Welt zu widmen." und mich damit total geil finde 😀

kE
kE
8 Jahre zuvor

@5:
Und wie soll man jetzt ihrer Meinung nach konkret mit Menschen umgehen, die Gewalt als Konfliktlösungsstrategie haben? Insbesondere, wenn sie in einer Region (Staat, Region, Stadtviertel) das System darstellen?

philter
philter
8 Jahre zuvor

stefan: JA! genau! und ich hoffe das beantwortet auch kE (#8) seine/ihre frage.
das problem ist nur: das passiert ja nicht! es werden ja geschäfte mit dem zauselbart gemacht. es wird ihm nicht nur sein öl abgekauft, er wird sogar mit waffen bezahlt! er wird hofiert! er genießt all die freiheiten, die er seinen untertanen versagt (um mal das pars pro toto* aufzulösen: es geht hier beim wahabiten-zauselbart aus riad doch auch um das saudische königshaus oder?!). die kugeln fallen also nicht am ende und schon gar nicht, wo sie hingehören (wenn sie denn überhaupt fallen sollen/müssen)!
ich habe versucht einen anderen, dritten weg zu skizzieren. dieser soll weder die gleichgültigkeit noch die bevormundung (und damit verbundene ausbombung sein), sondern sich an dem selbsbestimmungsrecht der völker orientieren. mir ist bewusst, dass das ein ziemlich schmaler grat ist. denn die beachtung dieses selbstbestimmungsrecht könnte ja auch bedeuten: "tja – ihr habt euch diese scharia selbst gegeben: also selbst schuld, dass frauen gesteinigt werden." das ist damit aber ausdrücklich NICHT gemeint. im gegenteil ist diese aussage eher der gleichgültigkeit zuzurechnen, denn hier sind es eher die herrschenden (wie auch immer sie an die herrschaft gekommen sind und daran bleiben), die über das "volk" bestimmen. nein: es geht darum mit vollster überzeugung die menschenrechte zu vertreten und dazu gehört eben auch sie vollumfänglich und für alles und jeden – also ausnahmslos – umzusetzen. das würde nämlich einer relativierung vorschub leisten und die position des anklägers von menschenrechtsverstößen eine ungemeine stärke verleihen. wenn dann "am Ende Kugeln fallen müssen[,] ist das nun einmal so." da din ich d'accord! aber ich bezweifle, dass das wirklich sein muss!
es ist ziemlich wichtig, die unterdrückten teile einer region zu unterstützen, auch wenn das heißt sie aufzunehmen. da haben die menschenrechte ja das recht auf asyl für. aber diese unterstützung darf meiner meinung nach nicht "waffenlieferung" heißen.

*ich schrieb in #7 von totum pro parte: dabei meinte ich, dass nicht alle wahabiten mit zauselbart einem richter in kassel diametral gegenüberstehen. also die ganzheit von wahabiten mit zauselbart hier in sippenhaft genommen werden, weil einige (vllt. sogar die mehrheit kA) scheiße bauen. jetzt schreib ich von pars pro toto, weil der wahabit mit zauselbart ja offensichtlich auf für eine größere einheit steht (saudi-arabien) – hab ich das richtig erkannt?!

kE
kE
8 Jahre zuvor

Der Graubereich ist der interessante Bereich.

Wann wird eingeschritten, wenn eine Gruppe gegen grundlegende Regeln verstößt?
Wer soll das machen?

Dies Rolle hatte mal die UN, die aktuell weder bei Menschenrechten noch bei Flüchtlingsproblemen eine relevante Rolle spielt. Naja, für Menschenrechte sind meistens Länder zuständig, die viel Nachholbedarf haben. Aber nicht jeder Staat hat unser Maßstäbe.

Das Recht auf Asyl ist die eine Seite, die in den Grundlagen sehr restriktiv ist und nach meinem Wissen eher für Einzelpositionen/kleine Gruppen gedacht war.
Wie sieht es mit der freien Wahl des Wohnorts für jeden Bewohner des Planeten aus? Auch wenn er sich nicht selber versorgen kann.

Muss der Rest der Republik bspw. unser Ruhrgebiet weiter subventionieren und nur weil wir nicht wirtschaften können? Wir haben unser System selber gewählt. Seit Jahren.
Wie weit geht Solidarität und wo endet sie?

Bei endlichen Ressourcen wird es Entscheidungen geben müssen, welche Hilfe möglich ist und wo sie sinnvoll ist. Soll Entwicklungshilfe im Land (so etwas wie Imperialismus) durchgeführt werden oder wollen wir Menschen, die es wollen, in unsere Gesellschaft integrieren?

Beispiel:
Ich möchte nicht als Soldat in Afghanistan Polizeiaufgaben ausführen, während bspw. junge Menschen, die selber diese Aufgabe durchführen können, das Land verlassen und hier einen Lebensmittelpunkt haben wollen. Erst diese Woche sind wieder einige NATO-Soldaten gestorben.

Ich sehe auch die Bevölkerung im Ruhrgebiet wie die Bevölkerung in Afrika in der Verantwortung, selber effiziente Strukturen zu schaffen. Notfalls kann das auch bedeuten, dass der Wohlstand sinkt, damit Konsequenzen sichtbar sind und Menschen selber handeln. Hand aufhalten bzw. Regionen verlassen ist zu einfach. Es beseitigt die Probleme auch nicht.

Christian W.
Christian W.
8 Jahre zuvor

Hallo! Hier ist eine interessante Stellungnahme des Kritisierten, heute in der ZEIT erschienen. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber wenn das stimmt, ist dieser Blogpost etwas zu gehässig!

http://www.zeit.de/2015/52/zentrum-fuer-politische-schoenheit-philipp-ruch/komplettansicht

kE
kE
8 Jahre zuvor

@12: Für mich haben der angesprochene Link und insbesondere auch die Zitate aus anderen Kommentaren gezeigt, dass Herr Laurin mit seinem Text ein sehr gutes Werk gelungen ist.


Der Verweis auf das Fordern nach einem humanen Handeln des Einzelnen ist erstrebenswert. Viele, die schon Angst beim Trinken konventionell erzeugter Milch haben, werden mit Sicherheit auch ein Verlangen haben, für ihr eigenes "Fehlverhalten" in irgendeiner Weise Kompensation zu leisten. D.h., ich gehe davon aus, dass es viele Menschen gibt, die förmlich nach Hilfe bei der Wahl ihres Engagement für etwas Gutes lechzen. Früher hat man einfach der Kirche etwas gespendet.

Man kann sich bspw. für Menschen, die Hilfe benötigen in seinem Ort einsetzen. Das ist die gute alte Nachbarschaft, die es heute so nicht mehr gibt.
Schwierig wird es, wenn global gedacht wird. Hier geht es mir immer zu sehr in die Richtung, dass Deutschland und damit wir für etwas verantwortlich sind, das am anderen Ende der Welt durch Menschen, die eine Entscheidungsfreiheit haben, ausgelöst wird.

Ja, es gibt Tote beim Versuch in die EU zu flüchten. Diese Toten werden immer wieder in den Vordergrund gestellt, während bspw. die Toten Nato-Soldaten, die in anderen Ländern sind, kaum erwähnt werden. Die Militärs werden nur in die Schlagzeilen kommen, wenn die falschen Ziele getroffen wurden.
Es sind aber Entscheidungen der jeweiligen Menschen, die sie Überfahrt mit diesem Gefährt durchzuführen. Jeder Weg hat ein Risiko, das ich im Regelfall nur eingehe, wenn ich große Chancen sehe. Das war bei unseren Vorfahren, die in "Nußschalen " in die neue Welt ausgewandert/geflüchtet sind.

Das Leben hat Risiken, und es gibt viel Elend auf der Welt. Ebenso ist die Welt chaotisch, d.h. die einfachen Erklärungen aus einem humanistischen Weltbild sind im Einzelfall edel. Sie entsprechen auch dem christlichen Verhalten. Sie zeigen uns aber auch, dass wir nicht in der Lage sind, das globale Elend zu erfassen. Denn dann würden wir andere Strategien wählen. Wer einen Slum in Asien, Südamerika,… gesehen hat, kommt eher nicht auf die Idee alle Menschen einzuladen, nach Deutschland zu kommen, sondern er fängt an, in der Region zu helfen. Dass das schwierig ist, sehen wir im Ruhrgebiet.

Eine spannende Frage ist ja auch, welche Summen die Menschheit ausgeben sollte, um möglicherweise einen Astronauten, der auf einem Planeten zurückgelassen wurde, zu retten. Jeder Dollar fehlt an einer anderen Stelle und könnte deutlich mehr Menschen retten.

Die typischen Entscheidungs-Dilemmas zeigen, wie man selber denkt und handeln würde.

Die Aktionen der Künstler sind für mich sehr medienwirksam, sie konzentrieren sich auf Einzelschicksale. Also gibt es eine klassische Strategie. Mir fehlt einfach die Tiefe und eine wirkliche Lösungsstratgie für gesellschaftliche Herausforderungen, die den ganzen Planeten betreffen.

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