Zwei große Lügen vergiften die Gesellschaft

Quelle: Flickr.com, Foto: Vladislav Litvinov CC0 1.0

Jetzt, wo alles teurer wird, wo ernsthafte Einschnitte in die Energieversorgung drohen, wo die Sorge wächst, der Krieg könne durch die Haustür kommen, hat man fast das Gefühl, die Lage wäre endlich der Stimmung angemessen. Aber die Stimmung ist schon länger katastrophal. Und auf die Lage könnte man auch mit Solidarität reagieren, mit Mut oder Besonnenheit. Man könnte seine Wut auf den Aggressor Putin fokussieren. Eigentlich doch befriedigend, einen konkreten Bösewicht ausmachen zu können. Aber die Wut bleibt diffus verteilt. Sie richtet sich auf Teilaspekte. Sie richtet sich gegen Kompromisse. Sie richtet sich gegen andere Meinungen.

Merz versagt endgültig vor dem woken Zeitgeist, weil die CDU eine Frauenquote beschließt. Die Regierung verkauft das Volk direkt an Putin, weil sie nicht schnell genug Waffen liefert. Oder an die USA, weil sie überhaupt Waffen liefert. Die Grünen haben quasi eigenhändig alle Atomkraftwerke abgeklemmt und einen bundesweiten Blackout verursacht. Die FDP verschenkt in sozialistischer Manie hart erarbeitetes Geld, ausgerechnet die! Die Linken sind Nazis. Wer jetzt noch sein Kind Indianer spielen lässt, befürwortet Völkermord. Wer gendert, will alle Werte der Aufklärung abschaffen. In jedem politischen Spektrum findet sich diese immense Bereitschaft zu Zuspitzung und vorschneller Erregung. Warum?

Es sind zwei falsche Versprechen, zwei Lügen, eine alte und eine neue, aus denen sich diese allgemeine Frustration speist. Das erste falsche Versprechen lautete, jeder könne im Konsum Glück finden. Das zweite, jeder könne im Internet Ruhm oder wenigstens Gehör finden.
Und jetzt fühlen sich die Leute hintergangen und wollen dafür jemanden brennen sehen.

Denn so partikularisiert die Ziele der Empörung sind, so gemeinsam ist die ihnen zugrunde liegende Unzufriedenheit. Wo früher ein Volk in patriotischem Rausch gegen ein anderes stand, steht jetzt jeder gegen jeden. Selbst Liberale echauffieren sich über „diese“ FDP, die – so geht regieren nun mal – Kompromisse mit ihren Koalitionspartnern schließt. Selbst Konservative empören sich über den neuen, viel konservativeren CDU-Chef, weil er immer noch nicht rechts genug ist. Linke sind sowieso schon immer zersplittert. Neu ist, dass auch vormals apolitische Menschen politisch herumstänkern. Die ehemaligen Nicht-Wähler, die erst mit dem Aufstieg der AfD, dann bei den Querdenkern, ihre unqualifizierte Stimme gefunden haben. Sie alle sind gereizt. Sie alle ärgern sich, dass „ihre“ Sicht nicht gehört wird. Sie alle scheinen es geradezu als persönlichen Affront wahrzunehmen, dass die Dinge nicht so laufen, wie sie es für richtig halten.

Werbung überall

Und dazu wurden sie über Jahrzehnte erzogen. Die erste große Lüge hatte schließlich genug Zeit die Köpfe zu erreichen. Kauf dich glücklich! Seit es Kapitalismus gibt, gibt es auch Werbung. Das wird schon in den ersten Hochkulturen der Fall gewesen sein. Aber natürlich hat die Werbung erst mit der Industrialisierung und dann in den Jahrzehnten seit Kriegsende ein Ausmaß, eine Verfeinerung und suggestive Kraft angenommen, die kulturell neu ist. Die flächendeckende Verbreitung und die Verwebung mit anderen Aspekten der Kultur (über Sponsoring, Product Placement, Cross-Marketing, Infotainment, Influencer und so weiter) wird in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zu wenig betrachtet. Man stelle sich vor, eine religiöse Gruppe oder eine politische Partei würde ihre Botschaften im gleichen Maße ungefragt verbreiten. Würde 35 Milliarden Euro investieren, um ihre Ideen in die Köpfe der Menschen zu bekommen. Das kann nicht ohne Auswirkung bleiben. (Hier könnte man einwenden, dass es ja nicht eine Partei ist, die dieses Geld gebündelt ausgibt. Aber die Botschaft jeder einzelnen Werbemaßnahme ist am Ende die gleiche, egal um welches Produkt es geht: Kaufe!)

Wenn man die Werbung in den Jahrzehnten nach dem Krieg mit der der letzten 30 Jahre vergleicht, stellt man schnell fest, wie sich der Fokus verändert hat. Damals ging es häufig um lebenspraktische Dinge. Die Wäsche wäscht sich fast von selbst. Fertiggerichte. Staubsauger. Es ging um Komfort und Sicherheit. Und ja, auch um Status, schon damals. Die braunhaarige Hausfrau kocht schlechten Kaffee und kommt schlecht bei ihren Gästen an, die Blonde hat Jacobs Krönung. Das war ganz schön plump, merkt man heute. Und tatsächlich liegt der Fokus der Werbung heute auch nicht mehr so auf dem Vergleich mit anderen. Er liegt schon lange auf der narzisstischen Aufwertung des Einzelnen. Das bin ich mir wert. Das gönne ich mir. Die Postbank hat eine ganze Kampagne gehabt, bei der immer das „Ich“ innerhalb irgendwelcher Wörter im Vordergrund stand. Dass der Computer „meine Dateien“ anbietet, empfinden wir schon als ganz normal. Aber als das neu war, klang es seltsam egozentrisch. Mein individuelles Begrüßungspaket. Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein. Mein personalisierter Mobilfunkvertrag. Meine gottverdammten individuellen Zahnputzziele, die meine Zahnbürste per Bluetooth mit meinem Handy austauscht!

Durch das Online-Shopping kommt noch viel mehr Auswahl hinzu. Warum sollte ich in einem Saturn unter acht verschiedenen Waffeleisen wählen, wenn es möglicherweise noch eines mit praktischen Status-LEDs gibt, die genau mein individuelles Waffelbedürfnis bedienen und das mir der Saturn vorenthält? Wir lernen, dass wir immer eine Wahl haben. Und dass wir unter unserem Wert bleiben, wenn wir die Wahl nicht nutzen. Wenn ich in der Apotheke “genau mein Magnesium” bekommen kann, heißt das ja, dass ich mit dem erstbesten Magnesium vielleicht nicht ganz glücklich werde.
Jeder weiß, dass das Unfug ist, wenn man ihn oder sie so fragt. Aber das bedeutet nicht, dass die Botschaft nicht unterschwellig doch ankommt. Wer von uns ist, Hand aufs Herz, frei davon? Mit der Wahl, die am Ende doch nur frustriert, kommt auch Druck. Es ist fast schon perfide, aber neben der Lüge, dass man durch Konsum glücklich werden könnte, etabliert sich auch noch die Idee, dass man, falls es nicht klappt, sogar selber Schuld wäre. Hast du vielleicht noch nicht deine individuelle Lösung gefunden? Deswegen gibt es heute auch für jede Banalität ein “Coaching”. Jemanden, der mir hilft, in mich reinzuhören und meine individuellen Ziele zu finden.

Früher hat man die Länge der Schlange an einer Kasse als höhere Gewalt hingenommen. Dann kam eine Marketing-Abteilung auf die Idee, einen Klingelknopf für die Anforderung einer zweiten Kasse anzubieten. Das erschien zu diesem Zeitpunkt außergewöhnlich kundenorientiert. Heute ist es der Normalfall, dass Menschen es als ihr Anrecht ansehen, nicht anzustehen und erkennbar empört, ja persönlich gekränkt sind, wenn sie an der Kasse warten müssen. Das ist für das Verständnis der psychischen Verfassung vieler Mitbürger ausgesprochen wichtig: Diese Leute fühlen sich in ihrer persönlichen Ehre herabgesetzt, dadurch, dass neben ihnen zu diesem Zeitpunkt viele andere Menschen gleichzeitig einkaufen oder dass eine Mitarbeiterin krank ist oder was auch immer für die lange Schlange verantwortlich ist und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts und wieder nichts mit ihnen persönlich zu tun hat. Sie denken, sie als „Kunde“ hätten ein „Recht“ auf „besseren Service“.

Das muss alles in Anführungsstriche, weil es alles Blödsinn ist. Natürlich gibt es eine gewisse rechtliche Beziehung zwischen diesen Personen als „Kunden“ mit dem Geschäft. Aber um die geht es nicht. Das kapitalistische Grundprinzip ist, dass der Kunde woanders hingehen kann, wenn er nicht zufrieden ist. Da ist es dann wahrscheinlich teurer. Die Maßnahmen wie Klingelknöpfe haben nichts mit irgendeiner persönlichen Wertschätzung zu tun, sondern sind schlichte Wahrscheinlichkeitsrechnungen, deren Kosten abgewogen werden gegen die Chance, auf diese Weise mehr Kunden zu halten. Dabei geht es um Zahlen und nicht um Personen. Wenn jemand „schlechten Service“ persönlich nimmt, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass er der Illusion unterliegt, „guter Service“ wäre ebenfalls persönlich zu nehmen. Er zeigt sich offen für eine Bauchpinselei, die in Wahrheit eine anonyme, pauschale Marketingmaßnahme ist, ein Surrogat, eine Phantom-Zuneigung. Aber dieses Phantom ist allgegenwärtig und verführerisch.

Die Qual der Wahl

Verführerisch unter anderem, weil der Markt für jeden etwas bietet. Und den alternativen, bewussten, achtsamen, kritischen Lebensstil ebenso bedient. Wer keine großen Konzerne unterstützen will, kann bei kleinen, sympathischen Betrieben kaufen. Oder solchen, die so aussehen. Wer Massentierhaltung ablehnt, kann vegane Produkte kaufen. Zum Teil von Firmen, die Massentierhaltung betreiben. Aber auch da gibt es Alternativen. Es gibt für alles eine Alternative. Es gibt für jedes Lebensgefühl die passende Produktpalette. Und so hat sich der Fokus auch beim kritischen Teil der Bevölkerung vom Anbieter auf den Konsumenten verschoben. Jeder trägt durch seine individuellen Kaufentscheidungen zu einer nachhaltigeren Welt bei. Jetzt trage ich bei der Auswahl zwischen 985 Waffeleisen also nicht nur die Verantwortung für mein persönliches Glück, sondern auch noch für das Überleben des Planeten.

Das Resultat ist einerseits eine gewaltige Anspannung, Überforderung und Frustration, andererseits aber auch eine aufgeblähte Anspruchshaltung, nach der mir immer eine Wahl zusteht. Nach der, wer mir eine individuelle Lösung verweigert, mir etwas vorenthält, mich wie zweiter Klasse behandelt. Die Standardlösung ist etwas für Leute ohne verfeinerten Geschmack. Für die plumpe Masse. Der Hausarzt will mich einfach mit dem einen Medikament abspeisen, dass er allen Patienten mit dieser Krankheit gibt. Der Heilpraktiker hingegen guckt nach meinen individuellen Energieblockaden. Dass ersteres vermutlich seine Wirksamkeit an zehntausenden von Patienten bewiesen hat, während letzteres ausgedacht ist, zieht nicht. Ich will doch nicht nur Teil einer Masse von zehntausenden Patienten sein. Wo bleibe denn da ich, ich, ich?

Das Netz

So von der Werbung narzisstisch zurechtgestutzt, trifft der moderne Mensch dann auf das Internet. Das frühe Internet begann euphorisch und hoffnungsvoll. Grenzenlose Kommunikation. Frei verfügbares Wissen. Gleichberechtigung, egal ob man in einer Computerfirma in Kalifornien oder einem schäbigen Internetcafé in Kalkutta saß. Freie Meinungsäußerung. Solidarische Communities, die nach selbstgewählten Regeln miteinander umgehen, aufeinander achten, einander voranbringen. Mir hat mal eine wildfremde Person aus einem kleinen Hifi-Forum ein Paket mit mehreren Audiogeräten geschickt, sicherlich einige hundert Euro wert, nur, damit ich mal ausprobieren kann, welches bei mir gut funktioniert. Er wollte sie nicht verkaufen, er hat sich vielmehr entschuldigt, die Geräte aber zurückhaben zu wollen, wenn ich fertig bin. Es gab keinen Hintergedanken, außer einem Mitglied des Forums helfen zu wollen. Natürlich habe ich die Sachen sorgfältig behandelt und wieder zurückgeschickt.

Auch heute noch ist das Internet meistens da ein guter Ort, wo eine überschaubare Anzahl von Personen zusammenkommt, die sich mit gemeinsamer Leidenschaft einem ganz speziellen Thema widmet. In einer Facebook-Gruppe für Overlock-Nähmaschinen einer bestimmten Marke, für Sammler von südasiatischen Briefmarken vor 1960, für Obertongesang (alle ausgedacht, aber vermutlich existent), wird ein freundlicher Ton herrschen, solange die Gruppe Spambots ausfiltert und eine gewisse Größe nicht überschreitet. Sobald es aber größer und allgemeiner wird, wird es unerträglich.

Mit dem Internet kam nicht nur die Möglichkeit, sich auszutauschen, sondern auch, sich zu präsentieren. Auch hier ist es ja zunächst einmal großartig, dass ich problemlos jemanden finden kann, der mir bei Youtube zeigt, wie ich den Faden in eine Overlock-Nähmaschine einer bestimmten Marke einfädele. Dass ich mir das Klaviervorspiel meiner entfernten Cousine in Kanada anschauen kann. Auch, dass ich meine Follower auf Social Media mit einem Witz erfreuen kann, eine politische Einsicht zur Diskussion stellen kann, dass ich meinen Bekannten ein Foto von meinem Urlaubsort zeigen kann. Menschen, die früher zu einem Dia-Abend eingeladen worden wären, können so von zuhause aus das Tempo selber bestimmen, in dem sie die Fotos weiterwischen (wahrscheinlich sehr viel schneller, als das Dia weitergeschaltet worden wäre).
Aber das Netz ist so groß wie die Welt. Und es hat auch gar nicht jeder eine Leidenschaft, die er mit anderen teilen könnte. Und es hat auch nicht jeder was zu sagen.

Es gibt kein „fertig“

Die Mechanismen des Netzes sind darauf ausgelegt, Menschen hineinzusaugen. Eine kleine, vertraute Umgebung wäre inhaltlich überschaubar und in ihrer Interaktion zeitlich begrenzt. Wenn ich einfach nur zehn Familienmitgliedern folge, kann ich einmal in der Woche innerhalb einer halben Stunde schauen, was die so gepostet haben und bin fertig. Das Wort „fertig“ darf es für die Internetkonzerne aber nicht geben. Nur wer online ist, ist ein Kunde (oder besser: Ware).
Und die Netzwerke bespielen das Belohnungssystem mit fast schon krimineller Energie. Der kleine rote Kreis, der eine Benachrichtigung anzeigt, dürfte uralte Instinkte kitzeln. Rote Beeren zu finden ist ein Überlebensvorteil. In der Psychologie nennt man die Eigenschaft eines Objekts, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen „Salienz“. Wir sind evolutionär darauf getrimmt, solche kleinen bunten Dinger zu beachten. Die Benachrichtigungen sind keine versteckte die Funktion, die man bei Bedarf aufrufen kann. Sie sind eine süß-leuchtende Frucht mit hoher Salienz, die nicht anzuklicken einen bewussten Willensakt erfordert.
Die Netzwerke ziehen uns also hinein und spülen uns an neue Küsten, zeigen uns (manchmal erstaunlich unbeholfen) andere Dinge als die, die wir selbst gesucht haben und führen uns in eine Öffentlichkeit, die wir vielleicht gar nicht wollen. Es ist, als würde man sich mit einigen Leuten in seinem Wohnzimmer treffen wollen, aber es öffnen sich permanent die Wände zum Markplatz hin, Fremde strömen herein, nehmen sich Kekse oder lassen ihren Müll fallen. Bloß: Wenn die Freunde nicht ausreichen, um genug rote Beeren zu generieren, sind Fremde auch ein wenig willkommen. Erstmal von Reaktionen, Likes, Kommentaren abhängig gemacht, sucht der Internetnutzer auch von selbst nach weiterem Stoff.

Und dass die Leute abhängig sind, steht außer Frage. Man muss nur mal seine Umgebung im Straßenverkehr beobachten. Jemand, der an der roten Ampel sein Handy hervorholt, ist ja nicht erwähnenswert. Sie tun es auch im Stau auf der Autobahn. Sie tun es aber sogar dann auf der Autobahn, wenn der Verkehr nur etwas stockender wird. Nicht im Stop-And-Go-Verkehr, sondern, wenn es mit 80 km/h etwas zäher fließt. Das lässt sich kaum damit erklären, dass sie wirklich in diesem Moment eine Nachricht erwarten, die dringend genug ist, einen Unfall zu riskieren. Sie halten einfach diesen minimalen Abfall der Stimulation nicht aus.

Dauerstimulation

Denn der gegenwärtige Modus ist die ununterbrochene Stimulation. Zyklen von Arbeit, Langeweile und Aufregung sind durch das Smartphone obsolet geworden. Dazu passt auch das Binge Watching von Serien. Man schaut eben nicht mehr einen Film und hat damit einen zeitlich begrenzten Höhepunkt des Abends. Stattdessen gibt man sich einer nahezu unendlichen Abfolge von kleinen Höhepunkten hin. Es wird nie fertig.
Das unterscheidet die moderne Mediensucht auch von nahezu allen anderen Süchten. Wenn man Alkohol oder Drogen konsumiert, erreicht man irgendwann den Blackout, hat sich erfolgreich „abgeschossen“. Glücksspielsüchtige haben irgendwann ihr Geld ausgegeben. Sportler sind erschöpft oder im Ziel eingelaufen. Aber das Medium, sei es Online-Spiel, Netflix-Serie oder Instagram-Feed, geht immer weiter.

Soziale Erfahrungen werden zu messbaren Größen in Form von Likes und Followern transformiert. Natürlich sind wir dafür empfänglich. Natürlich schenken wir dem Aufmerksamkeit, wenn wir für einen Beitrag messbar, schwarz auf weiß, eine bestimmte Resonanz erhalten. Auf einer Party würde man den Witz erzählen und ein Gefühl dafür bekommen, wieviele Menschen darüber lachen. Nur ein grobes Gefühl. Im sozialen Netzwerk wird uns eine Zahl präsentiert. Dem können wir uns nicht entziehen. Und selbstverständlich fängt man an zu vergleichen. Sieht, was Freunde erhalten, was Influencer erhalten. Keiner wird es für richtig halten, aber es wird sich auch keiner davon frei machen können, sich in diesen Kennzahlen einzuordnen und sie irgendwie als Aussage über die eigene Beliebtheit, Berühmtheit, den eigenen sozialen Erfolg zu werten.

Das Phänomen der Influencer ist die Perversion des oben dargestellten solidarischen, hierarchiefreien, selbstgemachten Ur-Internets. Die Influencer mit Millionen Followern sind eben längst keine Privatpersonen mehr und was einst nach Transparenz und Authentizität aussah, ist zu einem Schleier geworden, der alle vormals gültigen Grenzen zwischen Schleichwerbung und Information, Öffentlichem und Privatem, Kunst und Kommerz verschwimmen lässt.

Jeder kann ein Influencer sein – theoretisch

Der Influencer ist das falsche Versprechen, dass jeder, der sich im Internet darstellt, auf Interesse stoßen könnte – auch und gerade als Laie und Privatperson. Es gibt keine Hürde mehr, wie „TV-Auftritt“ oder „Bühne“, die eine öffentliche von einer privaten Person unterscheiden würde. Selbst wenn es nur die Bühne im Jugendzentrum um die Ecke war, musste man einst ein gewisses Maß an Vorleistung mitbringen, musste wenigstens eine Band haben, ein Programm oder was auch immer. Jetzt ist ein Selfie der (potentielle) Startpunkt einer Karriere für die scheinbar nur noch die Beliebtheit fehlt. Denn viel mehr macht der Influencer ja auch nicht. (Scheinbar, denn natürlich steckt ein professionelles Geschäft dahinter. Im Übrigen gibt es auch Influencer, die für ihr Können z.B. an einem Instrument, berühmt sind. Aber die erreichen immer nur einen spezialisierten Teil des Publikums. Die ganz großen Namen sind einfach nur für ihr Berühmtsein berühmt.)

Und, um den Bogen zu spannen, auch in politischen Fragen gibt es natürlich Influencer. Leute, deren Beiträge tausendfach geteilt werden, obwohl sie keine Politiker oder Journalisten sind. Leute, die das sagen, was man selber auch sagen würde, aber dafür Applaus kriegen. Für eher Linke ist das vielleicht „El Hotzo“, für eher Rechte vielleicht „Dr. Rainer Zitelmann“ (natürlich machen diese Menschen auch etwas beruflich, wofür sie bekannt sind, aber ich wette, die meisten kennen sie zuvorderst als Protagonisten bei Twitter&Co.). Ihre Leistung ist nicht, besonders neue Ideen zu formulieren, sondern bekannt zu sein. Sie sind Sprachrohr für das, was ihre Anhänger sowieso denken.

Das Gift

So entsteht, in Kombination mit dem werbe-gepamperten Anspruchsdenken, die Erwartung, für vergleichbare Gemeinplätze ebenfalls Applaus zu verdienen. Und jedes einzelne Like, das man von Tante Erna fürs eigene Gepöbel erhält, ist eine kleine rote Frucht auf dem Weg zur Sucht. Es unterscheidet sich von El Hotzo oder Zitelmann nur quantitativ, nicht qualitativ. Zuspitzung hat eine hohe Salienz, verspricht mehr Reaktionen, ist daher verführerisch. Also formuliert man lieber etwas provokanter als etwas zurückhaltend. Andererseits führt die Zuspitzung zu mehr Widerspruch. Den die verwöhnte Seele schwer erträgt. Wer meint, sofort eine eigene Kasse zu verdienen, wenn sich mal eine Schlange bildet und wer erwartet, für jedes Selfie und jeden Spruch gefeiert zu werden wie Dagi, reagiert besonders gekränkt auf Kritik. Das verhärtet die Fronten und führt in eine Spirale. Zumal die Kritik zwar wütend macht, aber doch immerhin eine rote Benachrichtigung herbeizaubert.

So kommt es, dass in jeder Diskussion jemand auftaucht, der sich für sein kleines Publikum besonders hervortun will, der der Wortführer für die richtige Seite sein will. Jemand, der übertreibt und für diese Übertreibung nach rechtfertigender Zustimmung sucht. Die schiere Größe des Netzes macht, dass sich immer jemand findet, der zustimmt. Das betretene Schweigen der gemäßigten Mehrheit tritt nicht in Erscheinung.

Notfalls werfe ich die Netze weiter aus, werde öffentlicher, nutze Kommentarspalten von Zeitungen und streite mich mit Leuten, von denen längst niemand mehr irgendeine Beziehung zu mir hat. Am Ende bin ich süchtig nach Streit mit Fremden und nach der Anerkennung von Fremden und jeden Tag ein Stück frustrierter. Ich erwarte, dass ich die Wahl habe, als Kunde dieser Realität und dass sich die Öffentlichkeit gefälligst für meine Wahl zu interessieren habe.
"
Und darum sind fast alle Debatten im Internet giftig. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass das, was man da liest, vielleicht gar nicht repräsentativ ist. Das Gift hat eine starke Salienz. Aber es muss nicht die Mehrheit befallen.

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berthold@grabe-web.de
berthold@grabe-web.de
1 Jahr zuvor

Die Mechanismen die hier beschreiben werden sind alle richtig, doch sie sind nur der oberflächlichste Teil des Problems.
Es gibt die Hedonisten, die tatsächlich vor allem vom Konsum geprägt sind, aber diejenigen die sich diesen Konsum ohnehin nur eingeschränkt leisten können sind von anderen Faktoren geprägt.
Als da sind soziale Absicherung, Verlässlichkeit und Sicherheit und auskömmliche Löhne.
in allen Fällen hat Deutschland in den letzten 20 Jahren eine Erosion erfahren die ihres Gleichen sucht, ein Absturz sondergleichen im europäischen Vergleich, dem wir damit haushoch mal überlegen waren und eine der wichtigsten Grundlagen für die Breite des deutschen Wohlstandes gewesen ist. Ab der Jahrtausendwende gab es einen spürbaren Schnitt in der Geschäftswelt, seit dem verlieren wir ständig an kollektiven Wohlstand.
Ob es darum geht, das Versicherungen bei Schaden auch zahlen oder nur das ein Produkt wirklich verlässlich funktioniert.
Das die Organisation an Schulen, Universitäten und auf dem Amt tatsächlich funktioniert oder regelmäßig im Nirwana versumpft jenseits der automatisierten Standardaufgaben.
Das die Bahn unfähig verlässlich zu funktionieren, ebenso wie das Heer oder die Polizei die regelmäßig Täter laufen lässt weil den Staat die Bestrafung zu teuer ist.
Das Mietnomaden Niedrigverdienern die Chancen schmälert preiswerten Wohnraum zu bekommen, weil das Recht eher diese Betrüger schützt etc.
die Liste ist ebenso episch wie die Tatsache das Bildungsstatus mehr zählt als Leistung.

Matthias
Matthias
1 Jahr zuvor

Neben den beiden genannten Gründen — Konsumglücksversprechen und barrierefreie Meinungsäußerung vor großem Publikum — könnte ein weiterer sein, dass es tatsächlich echte Erosionsprozesse in dieser Gesellschaft gibt. Und die führen zu Polarisierung.

Und: Jahrzehntelang Hiobsbotschaften ausgesetzt zu sein, mögen sie noch so gerechtfertigt sein, modifiziert die Psyche. Meine jedenfalls.

(Edit: Habe meinen gestrigen Facebook-Kommentar hierhin kopiert und sehe gerade, dass mein Vorredner hier ebenfalls von Erosion spricht.)

Last edited 1 Jahr zuvor by Matthias
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