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Auf zum Griechenriechen – Tourismusknaller im nördlichen Revier

Das Schicksal spielt der Stadt Herten übel mit. Erst wird man nicht „InnovationCity Ruhr“, verliert gegen Bottrop. Das ist schlimmer als im Wettbewerb „Welche Stadt ist fast so scheiße wie Gladbeck?“ wieder nur den zweiten Platz gewonnen zu haben, weil seit Jahren Gladbeck selbst unter falschem Namen siegt.

Jetzt der nächste Schlag: die 90 Sozialwissenschaftler kommen im Herbst 2011 auch nicht. Sie werden nicht mit dem Segway die Halde runter brettern, keine Radtour im Schlosspark unternehmen und das Dorf Westerholt wäre ihnen auch egal. Wäre, wenn es sie gäbe. Allein, sie sind ebenso wie ihre Tagung in der Recklinghäuser Justizakademie reine Erfindung von mir. Irgendwas musste ich doch erzählen am Samstag im örtlichen Tourismusbüro, um die Qualität der Einrichtung zu testen. Die ist gut. Nur leider merkt es niemand. Wahrscheinlich, weil trotz vergeblicher Innovation und ausplätschernder Hauptkultur.2010 kein Mensch freiwillig nach Herten kommt.

Die Stadt hat es nicht leicht. Früher war sie mal angeblich die „größte Bergbaustadt Europas“, ein Titel, der in den letzten 20 Jahren mit jeder Zechenschließung im Ruhrgebiet weiter gereicht wurde. Den hätte man sich noch auf die Ortschilder pinseln können. Jetzt ist Herten „die größte Stadt Festlandeuropas ohne eigenen Bahnhof“. Zum Kontinentalsieg hat es nicht gereicht, Reykjavik ist größer und ebenfalls bahnhofslos. Sowas pinselt sich niemand freiwillig auf die Ortsschilder. Auch wenn ein paar Kilometer weiter nördlich aus Haltern offiziell ein Haltern am See wurde, nur damit man sich anschließend mit grausamen Wortspielen blamieren kann. Milde Sympathie für dieses Städtchen schlägt in blanken Hass um, wenn man am Ortseingang begrüßt wird von einem Schild mit dem Spruch: „Schön Sie zu Seen“ und folglich, nach Vollbremsung und Kehrtwendung diesem Vergehen gegen das Sprachgesetzbuch entfliehend, auf der Rückseite eben dieses Schildes konsequent weiter verhöhnt wird mit der Wendung: „Auf WiederSeen“.

So fies ist Herten nicht. Herten ist freundlich, leistet sich ein Tourismusbüro auf Zeche Ewald –  kurz vor Wanne-Eickel, dicht bei der Müllverbrennung, dem schön getauften Rohstoffrückgewinnungszentrum der AGR, unweit der Zentraldeponie Emscherbruch, aber die ist schon Gelsenkirchen – an einer Stelle also, an der selbst Herten längst den Versuch aufgegeben hat Urbanität vorzutäuschen. Das Tourismusbüro ist eigentlich schnuckelig, vielleicht etwas kühl jetzt im Herbst. Jedenfalls hat die kurz nach Öffnung aufgeschreckte Mitarbeiterin einen kalten Händedruck und eine verschnupfte Nase. Sie beruhigt, im Backoffice laufe die Heizung. Immerhin. Sie sucht mir den einen Stadtprospekt heraus, 16-seitig, fein gestrichenes Papier, die drei Miniatur-Leporellos zu Spezialthemen und die schöne Schrift zum Schlosspark. Die Clubzeitung des Hertener Tennis  Clubs e.V. greife ich auch noch ab, 76 Seiten, vierfarbig.

Die Dame bemüht sich um meine 90 Sozialwissenschaftler, auch noch als ich fantasiere, dass man sich am Freitagnachmittag in Gruppen aufteilen, verschiedene Orte besuchen wolle. Sie empfiehlt die Mitbewerber, Zeche Zollverein und den Gasometer, da gäbe es 2011 auch wieder eine schöne Ausstellung. Sie bedauert, dass das Hertener Horizontobservatorium auf der Halde nebenan wohl noch länger gesperrt bleibe, gefährliche Risse in der Metallkonstruktion. Und die Wasserstoffräder führen auch nicht mehr, Probleme mit den Kartuschen. Aber mit Citybikes sei man dabei, ich solle doch unbedingt die Fahrradstation im Keller besuchen. Auf dem Weg dahin betrete ich den Lichthof der Lohnhalle und erblicke Schemen einer wahrscheinlich wunderbaren Ausstellung. Mehr ist nicht zu erkennen, der Lichthof liegt Anfang November im Dunklen. Bei 438 000 Euro an europäischen Fördergeldern in drei Jahren muss an der Beleuchtung gespart werden.

Der Fahrradkeller sieht aus wie ein Projekt der Diakonie, bei dem die Wiedereingliederung arbeitsloser Aussiedler gescheitert ist. Dafür kann der nette Mitarbeiter nichts. Ganze zwei Citybikes stehen dort und einige andere mehr oder minder fahrtüchtige Räder. Ich stelle mir die enttäuschten Gesichter meiner Sozialwissenschaftlerhorde vor und verlasse die Tourismuszentrale. Ich entschließe mich zur unbeteiligten Beobachtung vom Parkplatz aus.

11:15 Uhr. Fünf Menschen in Outdoor-Kleidung von links nach rechts, am Tourismusbüro vorbei.

11:22 Uhr. Vier Mountainbiker auf dem Weg zur Halde, ohne Beachtung der Einrichtung.

11:33 Uhr. Schwarzer Kastenwagen des Wachschutzes dreht seine Runde. Fahrer beobachtet mich.

11:40 Uhr. Mann in mehrfarbiger Sportkleidung, begleitet von drei Hunden (Mischlinge?) von rechts nach links.

12:00 Uhr. In der gegenüber liegenden Kochschule tut sich was. Köchin holt etwas aus dem Auto, verschwindet wieder in der Schule.

12:05 Uhr. Die Sonne kommt hervor.

12.27 Uhr. Ein schwarzer Golf rast heran, stoppt vor dem Büro. Mann mit Schnäuzer, Bürstenfrisur, in Tarnklamotten springt heraus. Reißt der Beifahrerin die Tür auf, küsst sie. Frau verschwindet mit Staubsauger und Eimer im Büro.

12:28 Uhr. Der Golf verschwindet. Das Geschehen beruhigt sich. Lektüre der „Hertener Allgemeinen“.  Erste Lokalseite: „Leiche wird mitten auf der Kreuzung umgeladen“. Unfall mit einem Leichenwagen. „Die Unfallfahrzeuge standen ungesichert auf der viel befahrenen Kreuzung, während es draußen dunkler wurde.“

12:37 Uhr. Radfahrer von rechts nach links.

12:38 Uhr. WDR2 berichtet von der Soester Kirmes. Besuchermassen trotz Dauerregens.

12:41 Uhr. Außenrecherche. Im Straßenbegleitgrün ein vermoderndes Werbeschild. „Eiskiste Glück auf. Ab sofort auf Zeche Ewald. 16 leckere Milchspeiseeis Sorten!!!“ Eiskiste trotz intensiver Suche unauffindbar. „Milchspeiseeis“ ergibt ein schönes Schriftbild.

12:51 Uhr. Frau aus dem Golf verlässt das Zechengebäude, geht in die Fahrradstation im Souterrain.

12:55 Uhr. Golf-Frau zurück aus dem Souterrain, mit Wischmopp.

12:59 Uhr. „Hertener Allgemeine“, Umfrage zu den örtlichen Männertagen. „Maurice W. (24) ist Choreographie-Tänzer und dem Programm gegenüber schon deshalb nicht abgeneigt.“ Ein Problem hat er mit den Männertagen: „Da gibt es dann ja gar keine Frauen.“

13:00 Uhr. Tourismusexpertin holt Besen aus der Fahrradstation. Beginnt mit Fegen des Eingangsbereichs. Schaut aufmerksam in meine Richtung. Verstecke mich hinter spannender Lektüre, „The Emscher Landscape Park“.

13:06 Uhr. Fegen beendet. Tourismusexpertin bringt Besen zurück.

13:09 Uhr. Ältere Dame, begleitet von noch älterer Dame (ihre Mutter?) von rechts nach links. „Hertener Allgemeine“, Tagestipp: „50 Jahre Griechen in Herten, 16 Uhr: Schnupperkurs“. Wollte schon immer wissen, wie Griechen riechen.

13:17 Uhr. Ereignisse überschlagen sich. Schwarzer Smart hält vor dem Gebäude. Bekannte ältere und noch ältere Dame von links nach rechts. Die weniger Ältere hat zwei Wanderkarten in der Hand. Wegen Ablenkung durch Zeitungslektüre verpasster Besucher-Peak! Ich lande nie beim Spiegel. Hans Leyendecker würde mich verachten.

13:19 Uhr. Smart-Fahrerin verschwindet mit Pappkarton in der Kochschule.

13:30 Uhr. Abbruch der Beobachtung. Beschämt von meiner Sozialwissenschaftlerlüge und frustriert vom Recherche-GAU.

Bilanz eines Milchmädchen-Sohnes: Das Projekt Tourismusbüro Herten kostet in drei Jahren 438 000 Euro, das sind pro Öffnungstag etwa 480 Euro. Das sind in dreieinhalb Recherchestunden am letzten Samstag 336 Euro.

Wenn in Herten Besucher annähernd so abgerechnet werden wie in vergleichbaren öffentlichen Einrichtungen, habe ich erlebt: Intensives Beratungsgespräch mit Einzelgast, Vermittlung diverser Broschüren, Konzipieren eines Gesamtpaketes für eine Großgruppe, Zusammenstellen eines Rundumpaketes für verschiedene Gruppen, Beratung eines Tourismus-Managers, Ausarbeiten je einer geführten Radtour rund um Herten, auf die Halde, durch den Schlosspark, in die City und nach Westerholt. Aktive Kooperation mit Anbietern in Oberhausen, Essen und anderen Städten, Bildung eines sozialwissenschaftlichen Netzwerkes.

Implementierung eines Mehrgenerationenprojektes unter Berücksichtigung des Gender Mainstreamings, Ausarbeiten verschiedener Wanderrouten, Beratung von Familientouristen, Kooperation mit der Fahrradstation, Konzipierung und Ausführung einer praktischen Einheit zur Erstellung eines Facility-Management-Master-Plans. Hintergrundgespräch mit Journalisten.

Das Tourismusbüro Herten ist also ein Erfolg. Der Besuch der bahnhoflosen Stadt kann nur dringend empfohlen werden, nicht nur zum Griechenriechen.

Tourismusbüro Herten. http://www.tourismusbuero-herten.de/

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Dieter Carstensen
13 Jahre zuvor

Ich gehe nie „Griechen riechen“ nur beim Griechen „Ouzo riechen“ und so …

sowie an der süssen, schnuckeligen, jungen, bildschönen griechischen Bedienung meines Stammgriechenlokals „schnuppern“, aber mehr nicht. Würde ich an ihr „riechen“ hätte ich ein Problem mit ihrem eifersüchtigen Freund Jannis und meiner eifersüchtigen Partnerin Jessi.

Aber an dem Wirt, meinem Freund Apostolis, würde ich sowieso nie „riechen“ wollen, sonst bekäme ich Ärger mit seiner Frau Chrissoula und sie würden mich auch noch für schwul halten, ausserdem stinkt Apostolis immer nach seinen griechischen „Karelia“ Zigaretten, da fallen sogar die Fliegen von den Wänden, wenn er vprbeiläuft, ROFL

BOTTROP scheint nicht einer Reise wert zu sein, wenn die da an „Griechen riechen“ – lauter Perverse scheinbar … RUHRPOTT halt, ggg

Eva
Eva
13 Jahre zuvor

Martin, Du bist ein Wiederholungstäter. Nach Marl muss jetzt Herten dran glauben. Noch mal: Es bringt nichts, wenn das zentrale Ruhrgebiet auf das nördliche Ruhrgebiet herabschaut. Dortmund, Bochum und Essen geht es nur geringfügig besser als Marl, Gladbeck und Herten; im Kern haben alle diese Städte die gleichen strukturellen Probleme. Also bitte nicht diese unangemessene Arroganz.

lebowski
13 Jahre zuvor

@Kaysh
Ihr Ruhrgebietsbashing ist herzallerliebst. Man sollte anderen Leuten eben nicht Cindy aus Marzahn als junge Claudia Cardinale verkaufen.

DEH
DEH
13 Jahre zuvor

@#2, #3: Der Text ist kein Bashing, vielmehr eine Woody-Allen-hafte Liebeserklärung an die tristen Millionenstädte links und rechts der Emscher, einer Haltung folgend, wie sich das der Arnold hier immer wünscht.

Abnick Grabotki
Abnick Grabotki
13 Jahre zuvor

Na ja solange sich die Mitarbeiter nicht beim Surfen im Internet gestört fühlen, wie ich als Tourist es schon erlebt habe, ist ja alles heimelig.

Manfred Michael Schwirske
Manfred Michael Schwirske
13 Jahre zuvor

@2 Richtig, sage ich als Hertener. Das hat nichts von bashing. Schon darum nicht, weil der Reporter ganz nahe ans total Normale ran tritt. Ohne drauf zu trampeln.

So ist das, da tut nix weh.

trackback

[…] Auf zum Griechenriechen – Tourismusknaller im nördlichen Revier (Ruhrbarone) – […]

Arnold Voss
13 Jahre zuvor

@ Lebowski #3

Cindy aus Marzahn ist (mittlerweile) überall. Deswegen hat sie ja im Fernsehen auch eine eigene Sendung bekommen. Die junge Claudia Cardinale dagegen ist selbst in Berlin eine Seltenheit.

Herten ist aber nicht nur Cindy. Herten bietet gerade Familien eine größere Lebensqualität als viele Großstädte des Reviers und zum Alto Theater in Essen oder zum Bermudadreieck in Bochum oder zum U in Dortmund ist es mit dem Auto ein Katzensprung.

@ Eva
Grundsätzlich hast du recht. Aber deswegen ist das was Martin hier mit seiner wunderbar lockeren und zugleich bissigen Schreibe macht noch lange kein Bashing. Ich glaube selbst Lewbowski sieht das so, wenn ich das Wort herzallerliebst richtig interpretiere.

@ DEH

Ja, es gibt diese antiurbane Tristess des Ruhrgebietes. Nicht nur, aber auch und das flächendeckend. Wenn man allerdings hinter sie schaut, wenn man den Blick auf die Menschen und ihre genauen Umstände wirft, dann eröffnen sich Geschichten, die spannender nicht sein können. Schade, dass es in dieser riesigen Stadt so wenige Leute gibt, die sie schreiben können.

lebowski
13 Jahre zuvor

@voss
„Ich glaube selbst Lewbowski sieht das so, wenn ich das Wort herzallerliebst richtig interpretiere.“

Sie interpretieren richtig! Mit dem Bashing meinte ich auch eher seine Verachtung für den ganzen Marketingquatsch, der von interessierter Seite aufgezogen wird.

Martin Schmitz
Martin Schmitz
13 Jahre zuvor

Wer Martin Kaysh kennt, weiß, dass er kein Bashing des Ruhrgebiets betreibt. Ich sehe in dem Artikel eher eine Kritik an dem Kirchturmdenken der Städte im Ruhrgebiet und einer fehlenden gemeinsamen Strategie des gesamten Ruhrgebiets. Es ist schon traurig, in welcher Weise Fördergelder verschwendet werden, ohne dass es eine vernünftige Wirkung gibt.

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