Werbung

Ein Abend mit Degenhardt. Teil 3: Sickboy

Badezimmer
Bild: Jennifer Apolinario-Hagen

In Teil 3 berichtet Degenhardt von der „long hard road out of hell“.

Ich frage Degenhardt nach dem altgedienten Klischee von Genie und Wahnsinn. „Ich bin sehr sensibel, alle Künstlertypen sind sensibel und gehen irgendwann kaputt. Nimm dir den klassischen Handwerker, der abends seine zwanzig Bier trinkt.“ beginnt er, nachdem ich den Aufnahmeknopf des Mikrofons betätigt habe. Es ist spät geworden. „Der könnte wahrscheinlich auch auf LSD und Ecstasy klarkommen. Der wird vielleicht noch nicht einmal drei Gedankengänge mehr davon haben.“ Im letzten Teil des Interviews will ich mit ihm die Geschichte seines (laienhaft gesprochen) Wahnsinns aufbereiten. „Das ist wie bei einem Scheiß-Autoradio. Bei einem Autoradio mit 200 Funktionen kann auch mehr kaputt gehen als bei einem mit drei Funktionen – da kann ich Benzin drüber kippen und vielleicht funktioniert es noch. Bei 200 Funktionen können mindestens 150 kaputtgehen. Ich hoffe, das wirkt jetzt nicht zu elitär. Ich glaube, das ist in gewisser Hinsicht sogar fair. Du bist halt sensibler in anderer Instanz, kannst ein wunderschönes Gedicht über eine Schwalbe schreiben. Anderseits können eine Pille oder ein Pilz dich ficken. Und so war es dann ja auch.

Derivate des Irrsinns spiegeln sich auf unterschiedlichen Ebenen in Degenhardts Texten wider. So lässt er beispielsweise in Sickboy bildstark jene verlorenen Seelen aus „der Geschlossenen“ auftreten, die aus der Warte des Alltagsmenschen unwirklich erscheinen und doch auf ganz realen Begegnungen beruhen. Die drastische Sprache vermittelt dabei den Eindruck eines unheimlichen Echos aus der Talsohle des Abgrunds. Für einen volltätowierten Typen mit Maske, der sich in dem Video zu Sickboy in einer blutgefüllten Badewanne inszeniert oder in Lovers Weepers neben kopulierenden Menschen mit Puppen und Stofftieren spielt, wirkt Degenhardt im direkten Gespräch erschreckend zurechnungsfähig.

Dieser Dissonanz will ich auf den Grund gehen. Anhand der Texte von Sickboy und Betty F. und Christiane Ford lassen sich zumindest ein paar Stationen seines Lebens rekonstruieren: Degenhardt arbeitete in einer Psychiatrie, verwahrloste anschließend aufgrund einer Psychose, worauf eine längere „Reha“ folgte. Dass jemand in der Psychiatrie arbeitete, um anschließend selbst im Wahn zu enden, geht jedenfalls als ein besonders perfider Scherz des Schicksals durch. Wir beginnen chronologisch.

Flüssiges Papier und Feuerzeuge

Johnny Jugend Teddy

Die Ausbildung in der Psychiatrie begann Degenhardt, nachdem er während des Zivildienstes im Umgang mit den oft unerwünschten, vereinsamten und ausgestoßenen Bewohnern eines Altenheims den Wert der caritativen Liebe entdeckte. Erstmals in seinem Leben gewann er das Gefühl, zu etwas Sinnvollem fähig zu sein. „Das war in meiner übelsten Punk/Oi-Phase– ich bin wie ein Vollspasti mit Springerstiefeln bis zu den Knien, Lonsdale-Pulli, langen, roten Haaren und Slime-Buttons an der Jacke bei den Omis aufgeschlagen und habe für sie eingekauft, geputzt, mich mit ihnen unterhalten.  Ich fühlte mich wie ein Ausgestoßener. Aber dort wurde ich trotzdem geliebt.“ Nach einer Zeit als Pflegehelfer begann er eine Ausbildung als Krankenpfleger in der psychiatrischen Klinik, die Düsseldorfern als „Grafenberg“ oder „Ballaburg“ bekannt ist.

Zeitgleich begann Degenhardt, mit Amphetaminen, Ecstasy und LSD zu experimentieren. Daneben konsumierte er täglich Cannabis. „Ich bin halt so ein Typ, der nicht aufhören kann, der Drogen nimmt und sich denkt: Ich will das fühlen, ich will diese Leidenschaft. Ich brauche diesen Exzess, diesen Orgasmus. Ich kann nicht einmal mit Süßigkeiten umgehen. Ich habe alles in mich hineingestopft. Daher auch die Zucker-Motive in meinen Liedern. Zucker bedeutet Junkieness.“  Während ein paar Meter entfernt Süchtige einen kalten Heroinentzug durchlebten, hockte er neben dem Schwesternheim der Klinik und inhalierte mit geröteten Augen den Rauch aus seiner Pfeife.

Die weitläufige Klinik ist weitgehend begrünt und erinnert mit ihren Parks, dem Friedhof und einem Ententeich zwischen den grauen Siebzigerjahre-Bauten und den Ziegelhäusern des alten Sanatoriums an ein unheimliches Naherholungsgebiet. Die Auszubildenden nutzten das Gelände in der Nacht als großen Spielplatz. „Die ganze Klapse ist komplett unterkellert. Neben dem Personalhaus 2 gibt es einen Gulli unter einem Gebüsch, über den man die Kellergewölbe der Klinik betreten konnte. Irgendwann bin ich im Vollsuff in dieses Gebüsch gefallen. Dort habe ich durch den Gulli das Licht eines leuchtenden Notausgangsschildes gesehen. Wir haben den Gulli mit Verstärkung hochgehoben. Ich bin mit einem Stuhl runter geklettert. Wir sind dann völlig stoned durch das Kellergewölbe gelaufen. Alle Räume sind komplett rechteckig angelegt, die Gänge sind schmal und an der Decke verlaufen Heizungsrohre. Es gibt dort kleine Räume mit kniehohen Schwimmbecken und Stufen zum Reingehen. Ich weiß nicht, wozu diese Anlagen genutzt wurden. Wir entdeckten komische Fächer, Schlafplätze. Die Türen zu den oberen Ebenen waren verschlossen. Wir sind wirklich sehr weit gelaufen, haben uns im Untergrund fast verlaufen. Weiter oben im Wald auf dem Gelände sind auch bis zur Hälfte zugemauerte Zugänge, kleine Tore, man kann die Leiter nach unten sehen. Ich habe keine Ahnung, was da unten los war. Ich habe mich vorsichtig bei den Schwestern erkundigt. Sie gaben vor, nichts darüber zu wissen…“

In Erinnerung bleibt Degenhardt insbesondere die Arbeit in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Dort kiffte er mit einem Patienten, der behauptete, flüssiges Papier geraucht zu haben und rasierte ihm den Schädel. Ein anderer Patient wies sich als Mönch aus Dresden aus. „Er hat Feuerzeuge gefressen und komplett ausgeschissen. Der Darmtrakt sah dementsprechend aus. Während ich ihn an einem Abend badete, schlief ich mit den Füßen an der Wand ein. Als ich mit üblem Rest-Stoned-Kater erwachte, saß der Typ in der Badewanne. Sie war gefüllt mit Scheiße und Feuerzeugen. Ich dachte: ‚Fuck, wo bin hier gelandet?‘ und ahnte nicht, dass sich bei mir selbst etwas anbahnt.

Plastikhaut und Katzenurin

Obwohl ihm die Folgen exzessiven Drogenkonsums während der Arbeit vor Augen geführt wurden, entwickelte Degenhardt selbst ein Suchtverhalten, das die Grenze zwischen Patient und Behandler allmählich zersetze. „Ich habe gewusst, dass es irgendwann einen Knall geben muss in meinem Kopf. Aber ich war gut drauf, habe Mucke gehört, geraucht und diesen Lebensstil zelebriert, geliebt und genossen. Damals wunderte ich mich, dass es nicht einfach ‚Peng!‘ macht. Ich habe mich immer als Spießer gefühlt, war innerlich ein biederer und verklemmter Mensch. Ich war nie einer der coolen Typen. Aber ich dachte, dass ich da etwas total Krasses mache, ohne dass es Konsequenzen gibt.“ Irgendwann passierte es doch. Degenhardt verlor sich im Rausch und brach die Ausbildung in der Psychiatrie ab. Als er bei der Arbeit erschien, um sich krank zu melden, brach er vor dem Personal zusammen.

Die erste Psychose äußerte sich zunächst dadurch, dass der „Shit“ nicht mehr den gewohnten Rauschzustand, sondern Hektik hervorrief. „Angefangen hat es mit einem Pepp-Wochenende [Anm.: Pepp = ugs. für Amphetamine]. Wir haben durchgemacht und ich habe gemerkt: Da ist irgendwas scheiße. Ich bin nicht mehr vernünftig runtergekommen, konnte mich nicht mehr entspannen. Ich bin nach Hause gegangen, war angespannt, kribbelig, unangenehm überdreht, habe zum Runterkommen gekifft. Bei jedem Kopf hat sich das Gefühl verschlimmert. Ich bin nicht entspannter geworden. Es ist immer wieder aufgeblüht. Ich war permanent ‚auf Sendung‘.“

Im Behandlungszimmer seines Hausarztes reagierte er mit einem Wut- und Heulanfall auf die Mitteilung, er habe kein körperliches, sondern ein psychisches Problem. In der Folgezeit schlug sich Degenhardt mit wechselnden Jobs durch. Er arbeitete in verschiedenen Videotheken in Düsseldorf und verliebte sich dort „ossimäßig“ in die überfüllten VHS-Regale. „Meine Mutti brachte mir Baldrian auf die Arbeit, damit ich ruhiger werde. Sie verstand genauso wenig wie ich, was mit mir passierte. Langsam bin ich zwar wieder ein bisschen klargekommen, es ist aber nicht mehr ganz weggegangen. Dass es meine Psyche war, habe ich damals nicht gerafft.“ Später schraubte er Kugelschreiber zusammen. Zwischenzeitlich patrouillierte er mit einem Wachhund an der Leine als Security auf Flughafenparkplätzen. Er verkaufte im Anzug und mit nass rasierter Glatze dubiose Finanzprodukte. Zeitweise teilte er als Postbote Briefe aus. Wenn er in seine zunehmend verwahrloste Wohnung zurückkehrte, kiffte er weiter. „Ich hatte zwei Katzen in meiner Wohnung. Sie waren im Flur eingesperrt, weil ich sie nicht mehr in das Wohnzimmer lassen wollte. Sie zerkratzten den Teppich und alle Einrichtungsgegenstände. Sie haben den Flur vollkommen zugeschissen.“ Der Geruch von Katzenurin und Bongwasser vermischten sich in der vermüllten Wohnung.

Bald folgte die nächste Psychose, der finale Knall. „Ich habe einen Kopf geraucht und noch beim Inhalieren bemerkt: Da ist gerade irgendetwas explodiert in deinem Kopf.“ Seine Beine begannen in diesem Moment zu zittern. Die Panikattacke, die er erlitt, stellte sich nicht wieder ein. „Ich berührte die Haut auf meinen Armen. Sie fühlte sich an wie kalter Plastik. Ich konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr denken, nicht mehr zur Ruhe kommen. Wenn ich doch mal einschlafen konnte, wachte ich kurz darauf wieder auf, war eine Sekunde bei Bewusstsein, dann kehrte das Gefühl zurück, als hätte der Teufel einen Schalter in mir umgelegt.“

Die Situation war so unerträglich, dass der Anblick der Bahngleise des Düsseldorfer U-Bahnsystems so verführerisch auf ihn wirkte wie der Notausgang im Treppenhaus eines brennenden Gebäudes. Mehrfach stand er vor der Notaufnahme der Rheinischen Kliniken in Düsseldorf Grafenberg und haderte mit dem Gedanken, sich einweisen zu lasen. „Aber ich erinnerte mich daran, dass die Patienten dort nur zugeballert werden. Ich hatte ja vorher in genau dieser Klapse gearbeitet. Ich kannte die Zustände in der Geschlossenen und wusste, dass dort therapiemäßig gar nichts läuft. Vielleicht hätte man mir dort geholfen. Das lässt sich im Nachhinein schwer sagen.

Lackgeruch und Abstinenz

DegenhardtBild

Degenhardt verließ seine verwahrloste Wohnung, zog bei seiner Freundin ein und begann eine Therapie. Sechs Jahre, sagt er, habe es gedauert, bevor er in einen Gefühlszustand zurückkehrte, der als annehmbar bezeichnet werden kann. Erträglich wurden seine fortdauernden Panikattacken nur, wenn die Freundin auf ihrem Bett saß und er sich in Embryonalstellung um sie wickelte. Um zu genesen, kehrte er allen problematischen Gewohnheiten den Rücken zu. „Ich habe fünf Jahre lang keinen Zucker, keinen Kaffee, keine Süßigkeiten zu mir genommen. Ich habe keinen Alkohol getrunken, mit dem Rauchen aufgehört. Gar nichts. Straight Edge ohne das Scheißsystem dahinter. Weil ich nicht anders konnte. Erst nach sieben Jahren habe ich wieder das erste Bier getrunken.

Es dauerte mehrere Jahre, bis Degenhardt überhaupt artikulieren konnte, was er während der psychotischen Schübe empfand. Schon wenn er andeutete, was er im Wahn wahrnahm, plagte er sich tagelang mit Schuldgefühlen und Angstattacken. „Bei meiner Therapeutin hat mich gewundert, dass sie zuerst fragte, wie es in meiner Familie aussieht. Ich war aber in meinem Reha-Prozess fokussiert auf meine eigene Schuld. Später wurde mir klar, dass viele meiner Verwandten väterlicherseits große Lebemänner mit starkem Suchtpotenzial waren. Ich dachte dann: Okay, ich bin also vielleicht doch nicht an allem schuld. Aber das entlastet mich nicht.

Der Alltag enthielt vielfach Trigger, die unvermittelt Erinnerungen an seine Wahnvorstellungen hervorriefen. Chemiegerüche, aber auch manche Bilder und Geschmäcker lösten Flashbacks aus, ließen die Panik und das Gedankenrasen wiederaufleben. „Wenn ich auf der Straße an einem Fenster vorbeiging, aus dem der Geruch von Lack oder Gras strömte, musste ich sofort nach Hause gehen und meine Kleidung waschen, mich selbst heiß baden, meine Kleidung in einer Tüte verstauen. Aber es ist besser geworden. Ich könnte mich nun sogar wieder in einem Raum aufhalten, in dem gekifft wird- was nicht heißt, dass ich Lust darauf hätte.

Es bleibt die Frage, wie es gegenwärtig um Degenhardts geistige Verfassung steht. Wer einen gebrochenen Mann erwartet, der mit verstohlener Sentimentalität Geschichten von einer wilden Jugend aufwärmt, wird enttäuscht. Degenhardt ist glücklicherweise auch nicht zu einem jener unterwürfigen und reuigen Sünder mutiert, die erhobenen Zeigefingers mit einer profanen „no drugs!“-Botschaft langweilen. „Ich fühle mich wie jemand, der einen Hubschrauberunfall überlebt hat.“ Er hat weitergelebt, studiert, arbeitet wieder im sozialen Bereich, gestaltet das Webdesign für das DDR-Zeitzeugenprojekt seines Vaters und ist nebenbei der Geheimtipp im Rap-Genre. Das klingt eigentlich nach einem gelungenen Leben. „Ich habe keine Schwierigkeiten mehr in dem Sinne, dass es meinen Alltag einschränkt. Ich habe viel gelernt, ich hatte ja auch schon vorher Macken. Rückblickend bin ich fast glücklich darüber, dass es passiert ist. Die Psychose ist ein ständiger Begleiter, ich habe manchmal noch Momente, in denen ich denke: ‚Das stresst mich jetzt-  der Geschmack einer Pizza oder einer Süßigkeit verursacht etwas in mir.‘ Dann weiß ich: Das gehört dazu. Ich habe nur immer besser gelernt, damit umzugehen. Ich bin wie ein trockener Alkoholiker, das kriege ich nie wieder weg. Ich werde nie wieder jungfräulich sein. Aber das ist auch gut so. Ich brauchte diesen Faustschlag. Ich bin ein Suchtmensch, ich wäre nie klargekommen. Ich hätte immer hart damit zu kämpfen gehabt, einem Beruf nachzugehen oder regelmäßig etwas zu unternehmen. Ich hätte mit Ach und Krach weitergemacht, mich irgendwie herumgeschlagen, ich wäre jetzt vielleicht der debile Büdchenmann von nebenan, säße im Knast oder wäre endgültig in der Klapse gelandet.“

Degenhardt hat die Tour durch den neuronalen Systemcrash unternommen und kann nun aus erster Hand aus Interzone berichten. Es erscheint beinahe als ein ungerechtes Privileg des Künstlers, zu den Wenigen zu gehören, die weit genug hinausgeschwommen sind, um mit Geschichten aus der Talsohle des Abgrunds im Handschuhfach heimzukehren.

Degenhardts Internetpräsenz findet man hier.

Teil 1 der dreiteiligen Serie widmete sich der Koexistenz von romantischem Kitsch und Perversion.

In Teil 2 der Serie erzählte Degenhardt von der Verhaftung seiner Eltern durch die Stasi und der Familienzusammenführung in einem bayrischen Asylantenheim

 

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
6 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
trackback

[…] In Teil 3 berichtet Degenhardt von der Arbeit in der Psychiatrie, seiner drogeninduzierten Psychose … […]

Roger
Roger
9 Jahre zuvor

Sehr extrem. Muss man erstmal stehen und sacken lassen, um es zu beurteilen.

trackback

[…] In Teil 3 berichtet Degenhardt von der Arbeit in der Psychiatrie, seiner drogeninduzierten Psychose … […]

vert
9 Jahre zuvor

mich würd ja noch interessieren, welch tiefere heraldische bedeutung das pfeilkreuzsymbol auf seinem rechten unterarm hat.
weil ich würd mir sehr wünschen, dass so etwas vorhanden wär.

Degenhardt
Degenhardt
9 Jahre zuvor

Das Logo ist ein altes Skateboardmotiv der 90er Jahre der Firma „H-Street“.
No Nazi. <3

vert
9 Jahre zuvor

ich weiß, aber diese antwort hatte ich mir erhofft. <3

Werbung