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Aladin El-Mafaalani: „Die feinen Unterschiede haben nichts mit Leistung zu tun“

Aladin El-Mafaalani Foto: © Raimond Spekking Lizenz: CC BY-SA 4.0

In seinem Buch „Mythos Bildung“ hat sich der Dortmunder Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani die Ungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems beschrieben. Anstatt Unterschiede aufzufangen reproduziert es die Klassenverhältnisse.

Ruhrbarone: Nach Ihrem Buch über Integration haben Sie sich nun mit dem Thema Bildung beschäftigt.

Aladin El-Mafaalani: In meinem neuen Buch „Mythos Bildung“ geht es um Bildung und Klassenunterschiede. Die Verhältnisse von Kindern, die heute in der Unterschicht aufwachsen, sind mit denen vor 20 oder 30 Jahren nicht zu vergleichen. Solidarische Strukturen in der Unterklasse sind weggebrochen, das hat indirekt auch mit HartzIV zu tun. Allerdings ist HartzIV eher Symptom als Ursache. Die Unterklasse ist abgehängt, es gibt kaum noch Hoffnung, dass es bergauf geht. Dass Kinder in so resignierten Milieus aufwachsen, hatten wir in der jüngeren Vergangenheit nicht. Darauf sind die Bildungsinstitutionen nicht vorbereitet. Viele Menschen finden keinen respektablen Platz mehr in der Gesellschaft.

Ruhrbarone: Am Geld alleine liegt es also nicht?

El-Mafaalani: Wenn man sich das wirtschaftliche Lebensniveau der Unterklasse anschaut, dann ist das nicht so dramatisch schlechter geworden. Es geht nicht darum, ob die Sozialhilfe war als HartzIV heute. Häufig ist HartzIV sogar besser. Aber es geht um die Respektabilität und die Hoffnung, dass es einem selbst und den Kindern in Zukunft besser geht.

Ruhrbarone: HartzIV ist ein Stigma.

El-Mafaalani: Ein massives Stigma. Und genauso ist es ein Stigma geworden, auf die Hauptschule zu gehen. Für einen im Vergleich zu früher kleiner gewordene Teil von Kindern hat sich die Lage extrem verschlechtert. Auf dieses Problem sind die Bildungsinstitutionen nicht vorbereitet. Ungerecht war das Bildungssystem schon immer, aber diese Kinder erwischt es jetzt doppelt und dreifach.

Ruhrbarone: Sie schreiben, dass die Ungerechtigkeit im Bildungssystem selbst angelegt sei. Die Schule, als einziger Ort in der Gesellschaft, der Ungleichheit ausgleichen könnte, lege traditionell die Grundlage für spätere Ungleichheit: Nach dem Gymnasium ging es früher zur Uni, nach der Realschule ins Büro und nach der Hauptschule in die Industrie oder ins Handwerk.

El-Mafaalani: Mit dieser Aufteilung wurden die Unterschiede gerechtfertigt und sie waren auch funktional. Aber jetzt muss man überlegen, welche positive Funktion die Hauptschule noch haben kann. Die Bildungsexpansion war eine gute Sache und hat dafür gesorgt, dass alle klüger wurden. Vor allem die Mädchen haben davon profitiert. Aber die Klassenunterschiede bestehen weiter. Das gilt übrigens auch für Migranten: Wer aus einem migrantischen Akademiker-Elternhaus kommt, hat kaum Probleme im deutschen Schulsystem. Nur für diejenigen, die jetzt noch unten stehen, hat sich die Lage verschlechtert. Heute ist das Gymnasium die Schulform, die von den meisten Kindern und Jugendlichen besucht wird. Es gibt an den Hochschulen mehr Studierende, als es Auszubildende in der dualen Ausbildung gibt. Und viele Ausbildungsplätze werden auch noch von Abiturienten belegt. Das ist für sogenannte Arbeiterkinder in zweifacher Hinsicht von Nachteil. Ohne Abitur haben sie Probleme, einen Ausbildungsplatz zu finden. Wenn sie das Abitur schaffen, stellen sie fest, dass es nicht mehr so viel wert ist. Und dann kommt es auf andere Sache an.

Ruhrbarone: Das, was Pierre Bourdieu „Die feinen Unterschiede nannte“.

El-Mafaalani: Diese feinen Unterschiede haben dann auch nichts mit Leistung zu tun. Wir sehen, dass bei Spitzenkarrieren gute Kontakte und das Wissen um das richtige Verhalten wichtiger sind als Noten und Engagement. Für diejenigen, die keine höheren Abschlüsse schaffen, die aus benachteiligten Milieus kommen, wird es jetzt ganz dramatisch. Das führt zu einer Situation, die wir so bisher nicht kannten. Dazu hat sich auch der Blick auf die Ungerechtigkeit verändert.

Ruhrbarone: Das „kollektive Schicksal“ wird nicht mehr wahrgenommen.

El-Mafaalani: Das Scheitern wird individualisiert. Früher erkannte man, dass Menschen aus einer bestimmten Schicht Probleme im Bildungssystem haben. Das galt als Ungerechtigkeit. Heute glaubt man, dass sie selbst schuld an ihrer Lage sind. Die Aufsteiger interessieren sich nicht mehr für sie und die Solidarität untereinander hat abgenommen. Dazu kommt, dass es für die, die jetzt noch unten sind, demütigend ist zu sehen, dass viele ihre ehemaligen Nachbarn ihre Situation verbessert haben, sie es selbst aber noch immer nicht geschafft hat. Dazu kommt dann immer mehr Druck. Vielen ist nicht klar, was es für Kinder bedeutet, in einem so resignierten und sich würdelos fühlenden Milieu aufzuwachsen. Ich forsche seit zwölf Jahren zum Thema Ungerechtigkeit im Bildungssystem und in dieser Zeit hat sich die Situation stark verändert. Man kann diese Entwicklung gut in einzelnen Stadtteilen sehen.

Sonnenaufgang in der Nordstadt

Ruhrbarone: Zum Beispiel in der Dortmunder Nordstadt.

El-Mafaalani: Solche Stadtteile haben fast allen Großstädte, aber am Beispiel der Nordstadt kann man sehr gut erkennen, was es bedeutet, wenn solidarische Strukturen wegbrechen. Viele Maßnahmen der Stadt, zum Beispiel Verbesserungen an den Schulen und in den Betreuungsangeboten, haben dazu geführt, dass viele aus der Nordstadt aufsteigen konnten. Die verlassen nun aber den Stadtteil. Das ist eigentlich gut, denn es zeigt, dass die Nordstadt keine Sackgasse ist. Aber für die, die bleiben, ist es bitter. Viele haben es geschafft, nur sie selbst nicht. Die Menschen resignieren. Aber die Lösung ist natürlich nicht, aus solchen Stadtteilen Sackgassen zu machen. Man muss weiter in die Köpfe investieren, aber man macht damit den Stadtteil nicht besser. Das muss den Verantwortlichen klar sein.

Ruhrbarone: Aber einzelne erhalten eine Chance.

El-Mafaalani: Klar. Armut verdeckt Talent und das Talent muss man entdecken. Für eine Schülerin, deren Mutter gestorben und deren Vater Alkoholiker ist und die sich deshalb auch um die kleineren Geschwister kümmern muss, ist es eine Riesenleistung, wenn sie in der Schule mittelmäßig ist. Ohne diese Belastungen wäre sie herausragend. So schafft sie es gerade, durch den Tag zu kommen.

Ruhrbarone: Arme können sich langfristige Ziele und Pläne nicht leisten, schreiben Sie.

El-Mafaalani: Beides ist für viele Menschen Luxus. Wer erlebt, dass die Eltern nicht wissen, ob sie die nächste Miete bezahlen können, der Kühlschrank leer ist und kein Geld für Hefte und Stifte da ist, versucht, über den Tag zu kommen. Menschen in solchen Lebenssituationen sehen sich nicht als künftigen Starchirurgen oder Physik-Nobelpreisträgerin. Dazu kommt, dass Kinder und Jugendliche aus der Mittel- und Oberschicht ein größeres Selbstbewusstsein haben. Sie wissen, dass es ein Netz gibt, das sie auffängt. Und sie werden von ihren Eltern auch mehr ermutigt. Die wissen, dass sie ihr Kind unterstützen können, und haben in ihrem Leben selbst viel geschafft.

Ruhrbarone: Sie beschreiben, dass Aufsteiger an jeder Schwelle überdurchschnittlich oft scheitern: Auf dem Weg zum Abi, im Studium, bei der Promotion und sogar, wenn es um Vorstands- oder Professorenstellen geht.

El-Mafaalani: Deshalb muss man sich die Mechanismen des Aufstiegs genau anschauen. Normalerweise würde man glauben, wer unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist, ist so robust, dass er den Rest schaffen wird. Es geht aber nicht nur um Leistung. Es geht auch um Netzwerke. Aufsteiger geben sich viel Mühe, müssen nebenbei arbeiten, können aber zum Beispiel nicht in den Tennisklub gehen, in dem man wichtige Kontakte bekommt, die einem weiterhelfen. Ich profitiere bis heute noch von einem Netzwerk, das ich während meines Studiums aufgebaut habe. Als Akademikerkind bin ich privilegiert aufgewachsen, hatte keinen Stress im Studium, Jobs habe ich angenommen, wenn sie mich interessiert haben, und konnte so wichtige Kontakte aufbauen und dabei die Kontakte meiner Eltern nutzen.

Ruhrbarone: Arbeiterkinder haben diese Chancen nicht.

El-Mafaalani: Nein. Es kommt noch etwas anderes dazu: Das Typische an Arbeitern ist, dass sie ziemlich direkt und ehrlich sind. Das führt dann dazu, dass man, wenn man jemanden nicht mag, das auch sagt oder deutlich zeigt. Im akademischen Milieu gilt das schnell als taktlos.  Was im akademischen Milieu typisch ist, ist, dass man ein loses großes Netzwerk hat. Man muss sich nicht mögen. Vielleicht schätzt man sich nur professionell, aber nicht persönlich. Da gibt es im Verhalten zwischen den Schichten große Unterschiede.

Ruhrbarone: Sie wollen keine Revolution im Bildungssystem. Was wollen Sie stattdessen?

El-Mafaalani: Ich habe in meinem Buch vier Ziele formuliert: Die Gesellschaft muss Ungerechtigkeit wieder als etwas erkennen, was beseitigt werden muss. Benachteiligte Kinder und ihre Familien müssen stärker gefördert werden. Das darf nicht auf Kosten andere Kinder gehen, aber es muss spezielle Angebote für sie geben. Lehrkräfte müssen sich wieder auf ihr Kerngeschäft, den Unterricht, konzentrieren können und von bürokratischen Aufgaben entlastet werden. Das Problem der Ungleichheit muss auch in ihrer Ausbildung Thema sein. Drittens dürfen wir von den Eltern nicht zu viel erwarten. Gerade Eltern aus der Unterklasse sind extrem durch ihren Alltag belastet – auf andere Weise stehen aber auch bildungsbürgerliche Familien heute aufgrund von Doppelkarrieren der Eltern sehr unter Durck. Und deshalb brauchen wir viertens einen qualitativen Ausbau des Ganztagssystems, denn in dessen Rahmen können die Unterschiede der Herkunft am besten aufgefangen werden. Zudem müssen die Strukturen an den Schulen und im Unterreicht klarer werden. Das Bildungssystem ist zu kompliziert.

Aladin El-Mafaalani  Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft, Köln,2020

Der Artikel erschien in einer ähnlichen Version bereits in der Jungle World

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Berthold Grabe
Berthold Grabe
4 Jahre zuvor

Als ehemaliges Arbeiterkind weis ich wovon der Autor schreibt.
Aber mir ist auch klar geworden, das das Problem nur verbessert werden kann, wenn wir unsere Einstellung zu Schule und Bildung grundlegend ändern.
Die Dreiteilung des Schulsystems in Hauptschule, Realschule und Gymnasium ist eine der grundlegenden Wurzeln für das Problem. die Volksschule als gemeinsamer Lernort mit Weiterbildung für die leistungsbesten auf Realschule und Gymnasium wäre das bessere System (Nicht die Gesamtschule), die nur Selbstbetrug darstellt) Die Grundschule separiert viel zu früh.
Aber mit Einsicht diesbezüglich wird nicht zu rechnen sein, weil es keine unmittelbare Wirkung gibt und zu dem eine, die zu viele Menschen vom Ballst der Schwächsten befreit hat!
Die ehemalige Volksschule war gesamtgesellschaftlich das bessere System. Und ohne die massiven Standesdünkel der 50ziger und 60ziger Jahre wäre es das wohl auch geblieben.
Weil nicht Leistung bestimmte, wer danach weiter in höhere Schulen ging, sondern der gesellschaftliche Status.
Der Drang den Zugang zu den höheren Schulen zu senken war mit dem Glauben verknüpft das man deshalb den gesellschaftlichen Aufstieg erreichen könnte.
Stattdessen hat man die Vorteilsnahme der oberen Gesellschaftschichten weitgehend perpetuiert, weil die Inflation der Qualifikationen letztlich nur das Leistungsprinzip ausgehebelt hat, das schon vorher durch nicht leistungsbedingte Zugangsbeschränkungen zu Gymnasium und Realschule bestand, nun aber über Netzwerke massiv fortgeführt wird.
Man wird nie den Vorteil der oberen Schichten neutralisieren können, aber man kann über konsequent durchgesetzte reale Leistungsanforderungen das erschweren.
Dazu gehört aber auch die Fähigkeit sich sozial in einer Gemeinschaftschule auch behaupten zu können. Es ist kein Zufall, das heute Gymnasiasten wieder mit Dünkel gegenüber anderen Schulformen unterwegs sind und viele Akademiker so wenig Führungsfähigkeit besitzen und eher als Fachidioten auffallen. Und somit respektierte Führungspersönlichkeiten richtig rar geworden sind.
Anzumerken bleibt auch das im Blldungsmittelbauch die Belastung durch die Schwächsten, sozial wie bildungsmäßig, als Bremswirkung auch am Stärksten ist.
Weshalb das dreigliedrige System für Aufstiegswillige und Ehrgeizige enorm attraktiv ist.
Aber ähnlich wie im sozialen Wohnungsbau, wo mit steigender Fehlbelegerabgabe am Ende nicht geholfen, sondern nur die Schwächsten separiert wurden ist es auch im Bildungssystem.
Hinzu kommt, das heute so mancher Abiturient zwar über einen Haufen Spezialwissen verfügt, aber erschreckend häufig über weniger echte Bildung als so mancher Volksschüler der 50ziger Jahre.
Der kurzfristige Vorteil der Dreigliedrigkeit wird langfristig zum Desaster.
Hinzu kommt eine Schulverwaltung, die häufig nicht in der Lage ist, den Erpressungen und Druck "erfolgreicher" Eltern bei Minderleistungen ihrer Kinder Paroli zu bieten.
Nicht Leistung sondern Herkunft ist heute wieder massgeblich, das um so mehr, wie Schule heute weder Willens noch dafür ausgerüstet ist, sozialen und andere Defiziten ausgleichend entgegenzutreten.
Weshalb heute das System schon fast wieder so undurchlässig ist, wie vor 60 Jahren nur subtiler als damals.

Paul Möllers
Paul Möllers
4 Jahre zuvor

"Die Bildungsexpansion war eine gute Sache und hat dafür gesorgt, dass alle klüger wurden. " __ "Armut verdeckt Talent und das Talent muss man entdecken. Für eine Schülerin, deren Mutter gestorben und deren Vater Alkoholiker ist und die sich deshalb auch um die kleineren Geschwister kümmern muss, ist es eine Riesenleistung, wenn sie in der Schule mittelmäßig ist. Ohne diese Belastungen wäre sie herausragend. So schafft sie es gerade, durch den Tag zu kommen." __ "Dazu kommt, dass es für die, die jetzt noch unten sind, demütigend ist zu sehen, dass viele ihre ehemaligen Nachbarn ihre Situation verbessert haben, sie es selbst aber noch immer nicht geschafft hat." __ ""Demokratische Einwanderungsländer sind Konfliktgesellschaften" __ El-Mafaalani trat auch in einer Milli-Görüs-Moschee auf. ____ Warum gibt es keine Nachfragen zu all dem?

Paul Möllers
Paul Möllers
4 Jahre zuvor

"Warum gibt es keine Nachfragen zu all dem?", war die Frage. Ein gehypeter Bildungsforscher, – gerade im Wahlkampfmodus für Laschet, seinen Förderer, der auch Ataman u.a. förderte – gibt groteske Thesen von sich: "Die Bildungsexpansion war eine gute Sache und hat dafür gesorgt, dass alle klüger wurden. " __ "Armut verdeckt Talent und das Talent muss man entdecken. Für eine Schülerin, deren Mutter gestorben und deren Vater Alkoholiker ist und die sich deshalb auch um die kleineren Geschwister kümmern muss, ist es eine Riesenleistung, wenn sie in der Schule mittelmäßig ist. Ohne diese Belastungen wäre sie herausragend. So schafft sie es gerade, durch den Tag zu kommen." __ "Dazu kommt, dass es für die, die jetzt noch unten sind, demütigend ist zu sehen, dass viele ihre ehemaligen Nachbarn ihre Situation verbessert haben, sie es selbst aber noch immer nicht geschafft hat." __ ""Demokratische Einwanderungsländer sind Konfliktgesellschaften" Hm.

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