
Vor Wochen wurde Iris Stalzer zur Bürgermeisterin der Ruhrgebietsstadt Herdecke gewählt. In die internationale Presse kam die 57 Jährige Sozialdemokratein vorgestern – als Opfer eines Attentats.
Es sollte nicht lange dauern, bis sich auch die Social Media Welt überschlug. Natürlich müsse man jetzt Ermittungsergebnisse abwarten, man wolle keine voreiligen Schlüsse ziehen und überhaupt gehe es ja nur darum, das eigene Entsetzen zu bekunden und der Betroffenen gute Besserung zu wünschen. Zeitgleich müsse man aber natürlich erwähnen, dass der Täter:
- ein AfDler war, sicher aber ein Rechtsextremer;
- ein Flüchting war, wenigstens ein Ausländer, fraglos aber ein Muslim;
- einer von der Antifa war, Linksextreme gewiss;
- ein Jude war;
- ein toxischer Mann war, ein Femizid!
- überhaupt durch die aufgehitzte Situation in unserem Land motiviert und ein politisches Motiv fraglos zu erörtern sei.
Überhaupt war klar, dass der Täter in jedem Fall dem eigenen, individuellen Feindbild entspringt.

Einen Tag später trat heute die Kripo Hagen vor die Presse: Der Täter ist gefunden, eine Täterin genau genommen. Für das feixende (besorgte!) Online-Empörikum trat der Super-GAU ein. Zunächst besaß Stalzer die Frechheit die Tat zu überleben, und dann ist die Täterin auch noch die eigene, minderjährige Tochter. Ein Familiendrama – im wahrsten Sinne des Wortes, doch dazu später mehr.
Das gerade noch gespielt entsetzte Interesse an der Tat ebbte in ungekannter Rekordzeit ab. Keine Leiche und keine Tat, die man natürlich völlig selbstlos und rein aus Entsetzen über die Tat niemandem, um den eigenen Narzissmus und die eigene Sensationsgeilheit zu befriedigen, in die Schuhe schieben konnte.
Es ist ein bekanntes Phänomen: Keinen Menschen interessieren die Opfer und noch weniger deren Leid. Interessant ist nur, ob man die Opfer politisch ausschlachten kann. Und das geht besser, je toter das Opfer ist und je wunderbarer der Täter die eigene Ideologie bestätigt.
Stille im Netz.
An dieser Stelle: Betrachten wir einmal die Situation der Betroffenen und die tatsächliche Stille. Ohne Frau Stalzer zu kennen würde ich vermuten: Jeder der zuvor genannten Täter wäre für Frau Stalzer vermutlich leichter zu verarbeiten, als ein Angriff durch die eigene Tochter, im eigenen Safe Space. Wir alle tragen Rüstungen, jeden Tag. Rüstungen, die uns vor Angriffen durch Kollegen oder Vorgesetzte schützen, Frechheiten von Kunden, vor der alltäglichen, mangenden Fairness, Journalisten vor persönlichen Angriffen immunisieren, vor Morddrohungen, Diffamierungen und offener Gewalt.
Und dem gegenüber steht die Familie, ein Raum, in dem der Mensch gemeinhin ungeschützt ist. Und als Vater könnte ich mir kaum etwas schlimmeres vorstellen, als einen ernsthaften, auf mein Leben ausgerichteten Angriff durch meine eigenen Kinder. Jene Menschen, vor die man sich, auch gegen alle Rationalität, als Eltern mit letzter Konsequenz schützend stellt.
Die Tat ist ein Familiendrama, es ist eine persönliche Katastrophe für Frau Stalzer, die für Außenstehende nur viel schlechter zu fassen sein kann, als ein beliebiger Angriff durch einen beliebigen Dritten. Und ginge es tatsächlich um das Opfer, dann würde die Diskussion genau jetzt entbrennen – aber sicher nicht abflachen.

Was soll man sagen, der Nagel ist genau auf den Kopf getroffen.
Wie wäre es denn mit „Wie ärgerlich, dass es die Tochter und kein Rechter war“?
@ Nora Brinker:
Erstens mal hat der Autor ja, wie von Ihnen gewünscht, zwar nicht in der Überschrift, aber im Text, in allerschönster und ausgewogenster Äquidistanz alle möglichen Gruppen genannt, die auch ohne genaues Wissen angeblich für die Tat verantwortlich gemacht würden.
Zweitens ist aber eben diese Äquidistanz mE ziemlich unangebracht. Denn typischerweise und meiner Beobachtung nach auch in diesem Fall sind entsprechende Vorverurteilungen eben nicht gleichmäßig verteilt, sondern rassistisch: In der rechten Szene sind immer sofort Migrant:innen schuld, auch wenn sie es nicht sind, und das weit mehr als aus anderen Szenen Vorurteile kommen; was dadurch unterstützt wird, dass auch in der Medien-Berichterstattung tendenziell länger und intensiver über eine Tat berichtet wird, wenn der Täter Migrant ist. (Wobei natürlich auch andere Aspekte eine Rolle spielen.)
Denn, drittens, diese Beschuldigung in Richtung Migranten hört ja nicht einmal jetzt auf, wo bekannt ist, dass die Tochter tatverdächtig ist; da die Kinder adoptiert sind, wird jetzt einfach behauptet, dass diese eben zugewandert seien oder sonstwie mit Migrationshintergrund oder gar unbegleitete Flüchtlinge etc.pp., ohne dass es (soweit ich weiß) irgendwelche Hinweise in dieser Richtung gibt oder das relevant sein könnte.
Wie kann man so einen Mist schreiben?
Soweit ich den bedauerlichen Vorfall kenne, suchte Frau Stalzer bereits am Tag vor der Tat Hilfe bei der Polizei, da sie sich von ihrer 17-jährigen Adoptivtochter bedroht fühlte.
Leider vergeblich.
@paule t. Erstens: ich finde es unfassbar, menschenverachtend und beschämend, wie dem Opfer Frau Stalzer jetzt nicht nur eine Mitschuld für ihr Schicksal in die Schuhe geschoben wird, sondern ihr deswegen sogar mit Schadenfreude bis hin zu Todeswünschen begegnet wird.
Zweitens: Sie sagen: „…diese Beschuldigung in Richtung Migranten hört ja nicht einmal jetzt auf, wo bekannt ist, dass die Tochter tatverdächtig ist; da die Kinder adoptiert sind, wird jetzt einfach behauptet, dass diese eben zugewandert seien oder sonstwie mit Migrationshintergrund oder gar unbegleitete Flüchtlinge etc.pp., ohne dass es (soweit ich weiß) irgendwelche Hinweise in dieser Richtung gibt oder das relevant sein könnte.“ Ich stimme Ihnen zu, dass die Diskussion um diesen traurigen Fall beweist, dass der durchschnittliche IQ von 100 in der Praxis „leicht schwachsinnig“ entspricht. Allerdings haben Sie, warum auch immer, übersehen, dass die Tochter von Frau Stalzer TATSÄCHLICH das hat, was man einen „Migrationshintergrund“ nennt. Steigen Sie von Ihrem Elfenbeinturm herunter. Ob und wie viel das zu der Tat beigetragen haben mag, ist eine ganz andere Frage.
@Nora Brinker:
Dass die Kinder tatsächlich aus dem Ausland adoptiert wurden, habe ich inzwischen auch gelesen. Das konnten die Internetuser, deren entsprechende Kommentare ich meinte, aber zu dem Zeitpunkt m.E. noch nicht wissen, was man auch daran sah, dass damit zT sachlich unmögliche Spekulationen verbunden wurden.
Vor allem aber fehlt mir die sachliche Relevanz dieser Tatsache. Für relevant halten kann man das nur, wenn man – klassisch rassistisch – davon ausgeht, dass Leute mit bestimmter Herkunft „von Natur aus“ stärker gewaltgeneigt wären, denn aufgewachsen sind die Kinder ja nun mal in dieser Familie. Was natürlich möglich ist, dass frühkindliche Traumatisierungen, Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Adoption u.Ä. eine Rolle spielen – dafür dürfte aber die Herkunft im Sinne rassistischer Kriterien keine Rolle spielen. Genau darauf heben rechte Kommentatoren aber ab.