Der Hauptbahnhof – Drehkreuz, Treffpunkt und Zuhause

Bochum Hauptbahnhof – Nordfassade Foto: MichaelXXLF Lizenz: CC BY 2.5

Von unserem Gastautor Lutz Nickel

Viel zu selten nehmen wir uns die Zeit uns umzuschauen. Wir hetzen von A nach B, überlegen ständig wie wir möglichst effizient handeln können. Nicht selten kommt es vor, dass wir die Verbindungen für den öffentlichen Nahverkehr eher zwei- als einmal checken, damit wir auch ja pünktlich ankommen und bloß nicht zu früh losfahren müssen. Dann regen wir uns auf, wenn die Bahn oder der Bus Verspätung hat. Wir prüfen die schnellste Verbindung, wenn wir mit dem Auto eine längere Strecke vor uns haben – natürlich sichern wir uns vorher ab, ob die geplante Strecke, zu bestimmten Zeiten, mehr oder weniger stauanfällig ist. Hauptsache: schnell und ohne unnötige, verzögernde Vorkommnisse.

Doch verpassen wir Wesentliches: Das Leben. Dieses findet nämlich gerade dann statt, wenn wir nicht planen.

Achtsam durch den Tag gehen, die Gegenwart wahrnehmen. Was sich nach esoterischem Gelaber anhört und meist von psychologischen Ratgebern empfohlen wird, ist gar nicht so einfach. Geschärfte Wahrnehmung erfordert hartes Training. Sich einfach mal die Zeit nehmen und sein Umfeld beobachten – ich habe es versucht. Eine halbe Stunde am Bochumer Hauptbahnhof und ich hätte Schreib-Stoff für ein ganzes Buch.

Ein düsterer, leicht nebeliger Tag. Es ist nass und kalt. Schätzungsweise 8 Grad und mäßiger Wind aus Richtung Osten. Es herrscht sicher keine Wohlfühlatmosphäre auf den Straßen. Die Menschen harren den Sekunden, die auf der Fußgängerampel, in roten Ziffern, langsamer als sonst ablaufen. Beim Warten auf die Grüne Ampel wird der Sprühnebel des Wassers durch die schnell vorbeifahrenden Autos noch dichter – noch kälter.

Die meisten, die vor der der großen Fußgängerampel warten und in Richtung des geschlossenen Beate Uhse Shops blicken, kommen gerade aus dem Bochumer Hauptbahnhof.

Während ich neben dem Haupteingang meine Zigarette aufrauche und einen Stromkasten als Kaffeetisch nutze, beobachte ich das bunte Treiben auf dem Bahnhofsvorplatz. Rechts neben den Ampeln, zwischen Vorplatz und Bushaltestelle, steht ein Schaukasten. Ein junge im Jogginganzug, der sicher noch nicht rauchen dürfte, lehnt sich daran an und zieht an seiner Zigarette. Im selben Blickfeld pafft ein alter Mann mit Hornbrille, Krückstock und Kapuzenpulli seine filterlose Kippe. Rauchen sollte er definitiv auch nicht, da er sich jeden Zug aufs Neue zwischen Husten und Inhalieren entscheiden muss.

 

Im Bahnhof selbst erwartet mich dann aber eine völlig andere Welt. Hier treffen sich alle Milieus. Hier rempelt der Student den Professor an und der Urlauber unterhält sich mit dem Fußballfan. Alles ist kurzweiliger, das Leben läuft schneller. Wenn gerade ein Zug einfährt füllt sicher der Bahnhof für einen kurzen Moment. Viele der Passagiere gehen schnell und gezielt zu den Ausgängen. Andere holen sich noch einen Kaffee bevor sie in den nächsten Zug steigen. Der Bahnhof ist kein Platz zum Verweilen. Er ist Mittel zum Zweck. Drehkreuz.

Für Jeden? Sicher nicht.

Es gibt eben auch Solche, für die ist der Bahnhof mehr als eine Transitfläche, die man lieber früher als später verlässt. Menschen leben hier. Sie treffen sich gezielt im Bahnhof und verbringen hier Stunden oder auch ganze Tage.

Eine Mutter begrüßt ihre Tochter: „wie siehst du denn aus, hast du gesoffen?“.

„Ja, n´ bisschen“, antwortet das Mädchen. Für die Mutter scheint dies nichts Besonderes zu sein: „Man ey, immer nur am saufen – hier ich habe noch ne Aspirin“. Die Tochter nimmt die Tablette dankend an.

Ich verliere meinen Fokus der Tochter-Mutter-Debatte, welche sich auf mögliche Weihnachtsgeschenke ausgedehnt hat, weil mich von hinten ein junger Mann auf englisch anspricht.

„Do you listen to rock-music?“. Wie aus der Pistole, ohne zu wissen wer mich überhaupt fragt, antworte ich: „no, i like reggae-music“.

„But, you are open for new sounds?“, fragte er mich erneut.

Noch bin ich mir nicht sicher, ob er mir einen Flyer für ein Konzert geben, oder mir etwas verkaufen möchte. Er käme aus Estland und spiele nächstes Jahr diverse Festivals. Aktuell sei seine Band „Illumenium“ (oder so ähnlich) aber auf Promo-Tour in Deutschland – ich könne aber eine CD vom neuen Album kaufen.

Dankend lehne ich ab, verweise aber auf einige Pubs, in denen er mit seiner Band doch spielen könne. Das lehnt er dann aber ab, da man nur noch große Festivals spiele und keine kleinen Konzerte mehr gebe. Ziemlich optimistisch, dachte ich, versucht er mir doch gerad sein schlecht gebranntes, neues Album für 10 Euro in einem Hauptbahnhof anzudrehen.

Direkt im nächsten Moment poltert es hinter mir wiederholte Male. Ein alter und kleiner Mann, nicht größer als 1,60m, mit einer äußerst dicken Knollennase, schlägt mit seinen Krücken auf den Boden: „lassen Sie mich mal durch ja“, bellte er mir zu – bevor er sich dann aber höflich bedankt, als ich ihn durchlasse.

Ständig muss ich ausweichen oder werde darauf hingewiesen, dass ich im Weg stehe. Anders als die vielen jungen Leute, die auf ihr Handy vertieft – quasi blind, durch den Bahnhof rennen, scheine ich nicht kompatibel zu sein.

Auf dem Weg zum Hinterausgang kommt mir ein Pfandsammler entgegen. Er trägt eine schwarze Mütze mit einem Weed-Symbol in der Mitte, welche es aber nicht schafft sein graues langes Haar komplett zu verdecken. Zwei volle Taschen mit Leergut hat er bereits in seinen Händen und schaut trotzdem in den Mülleimer nach noch mehr Flaschen.  Ein Mann im Anzug mit Rollkoffer wartet sichtlich genervt, bis der alte Mann fündig wird, damit er seinen Kaffeebecher wegwerfen kann.

Der Kontrast zwischen den beiden Männern, die in einem Alter sein müssen, wirkt bei mir noch nach. Wieso muss der eine nach Pfand suchen, während der andere im Designeranzug seinen, mehrere hundert Euro teuren, Samsonite-Rollkoffer hinter sich herzieht?

Komische Welt, denke ich.

In der Ferne sehe ich nun mein Ziel dieser gefühlten ethnologischen Feldforschung: Den Hinterausgang. Als Dorfkind überfordern mich die vielen Eindrücke im Bahnhof einer Großstadt. Der Ausgang in Richtung Wochenmarkt wirkt für mich wie das Licht am Ende eines Tunnels.

Doch bevor ich rausgehe, drehe ich mich noch einmal um.  In meiner Nase schon die verschiedenen Düfte des Marktes, ist der Schritt über die Schwelle des Bahnhofs plötzlich gar nicht mehr so leicht. Ich möchte mich verabschieden, von irgendjemandem. Wenn ich irgendwo zu Gast bin, tu ich das auch… Für viele ist der Bahnhof eben mehr als nur ein Drehkreuz, für einige ist dieser sogar ein Zuhause.

Infobox:

Der Bochumer Hauptbahnhof befördert über 100.000 Fahrgäste täglich. Das macht den 1957 eröffneten Bahnhof zu einem der meist genutzt Bahnhöfe Deutschlands. Seine 8 Gleise verbinden das Ruhrgebiet mit  Metropolen wie Berlin oder München.

Die Stadt Bochum hat über 360.000 Einwohner. Damit ist sie die 6. größte Stadt NRW´s und die 4. größte Stadt des Ruhrgebietes. Die Ruhr-Universität ist mit über 40.000 Studierenden eine der größten Hochschulen in NRW. Mit den weiteren 12 Tausend Studierenden der anderen Fach-Hochschulen in Bochum, studieren weit über 50.000 Menschen in Bochum. Allein die Linie U35, die den Hauptbahnhof mit der Universität verbindet, befördert 85.000 Fahrgäste am Tag.

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