„Die kulturelle Hegemonie, der politische Zeitgeist sind oft entscheidender als die Frage, welche Partei grade den Kanzler stellt“

Martin Hagen Foto: FDP-Fraktion im Bayerischen Landtag Lizenz: CC-BY-SA 4.0

Während viele über die AfD reden, sucht R21 nach Antworten: Martin Hagen, Geschäftsführer von R21,  erklärt im Ruhrbarone-Interview, warum Deutschland einen neuen Liberalismus braucht – und warum Abgrenzung allein keine Politik ersetzt.

Ruhrbarone: Was R21 von den meisten Denkfabriken, die es in Deutschland gibt – wie das Institut Solidarische Moderne, das Zentrum Liberale Moderne oder Agora Energiewende – unterscheidet, ist seine liberal-konservative Ausrichtung. War die Gründung vor vier Jahren überfällig?

Martin Hagen: Wir haben auf jeden Fall ein Alleinstellungsmerkmal. Es gibt in Deutschland zwar einige wirtschaftsliberale Thinktanks. Aber eine bürgerliche Denkfabrik, die sich neben ökonomischen Themen auch mit auch mit Fragen von Staat und Gesellschaft auseinandersetzt, mit Medienpolitik, Migration oder Meinungsfreiheit, die gab es bis zur Gründung von R21 nicht. Also ja, es war überfällig, dass Konservative und Liberale intellektuell aufrüsten, um dem in den 2010er-Jahren dominierenden linksgrünen Zeitgeist etwas entgegenzusetzen.

Ruhrbarone: Der ist in Deutschland seit spätestens Frühjahr 2023 auf dem Rückzug. In den USA war das bereits ein Jahr zuvor absehbar.

Hagen: Der Vibe Shift, der in den deutschen Medien häufig als Rechtsruck bezeichnet wird, ist im Grunde eine Gegenbewegung: Eine Reaktion auf die Übertreibungen einer bisher tonangebenden, progressiven Elite. So hat mir 2016 in Washington ein kluger, junger Republikaner den Erfolg von Donald Trump erklärt. Solche Trends schwappen ja meist mit etwas Verzögerung zu uns hinüber. Inzwischen ist das Pendel auch in Deutschland umgeschwungen.

Ruhrbarone: Wobei die Exzesse der Wokeness zwar in den USA größer waren als in Deutschland, aber auch unter Biden oder Obama gab es nie eine so irrationale Energiepolitik, die das Land ja wirklich in eine Sackgasse geführt hat.

Hagen: Das stimmt. Unter Obama sind die USA dank Fracking-Technologie sogar zum größten Öl- und Gasproduzenten der Welt aufgestiegen. Und Biden gehörte ja noch zu der alten Garde von Demokraten, für die die ökonomischen Bedürfnisse der einfachen Bürger im Mittelpunkt standen und nicht die postmaterielle Agenda der Neuen Linken. In Deutschland gab und gibt es in der Tat eine dramatische Wohlstandsvernichtung durch eine irrgeleitete Energiepolitik. Leider muss man zugeben: Die wurde nicht nur von grünen Ideologen betrieben, sondern auch von den bürgerlichen Parteien mitgemacht.

Ruhrbarone: CDU und FDP haben vieles mitgetragen. Aber genau das macht ja eine Hegemonie aus: Sie wirkt weit über die Parteien hinaus und prägt das Denken ganzer Gesellschaftsschichten.

Hagen: Deswegen sage ich immer: Die kulturelle Hegemonie, der politische Zeitgeist sind oft entscheidender als die Frage, welche Partei grade den Kanzler stellt. Wir hatten um die Jahrtausendwende herum, als weltweit ein neoliberaler Zeitgeist dominierte hat, die segensreiche Agenda 2010 – umgesetzt von einem sozialdemokratischen Kanzler. Ähnlich war es in den USA mit Clinton und im Vereinigten Königreich mit Blair. Umgekehrt hat in den 2010er-Jahren eine CDU-Kanzlerin eine Politik betrieben, die man eher von den Grünen erwartet hätte – denken Sie an den Atomausstieg oder die Flüchtlingspolitik.

Ruhrbarone: Aber es war ja nicht nur die CDU, die die Seiten gewechselt hat. Wenn man sich anschaut, was die FDP in der Ampel alles mitgetragen hat – vom erneuten Ausstieg aus der Kernenergie Anfang 2022 auf dem Höhepunkt einer Energiekrise bis hin zum sogenannten Selbstbestimmungsgesetz –, das waren ja alles Entscheidungen, die für die meisten FDP-Wähler schwer zu schlucken waren.

Hagen: Leider, ja. Die FDP hat den Großteil ihrer Wähler, die sie 2021 noch unterstützt haben, in den drei Ampeljahren vergrault. Sie steht jetzt vor einem Neustart, beziehungsweise sie ist mittendrin – vielleicht die letzte Chance für die Partei, der ich seit 25 Jahren angehöre. Ich bin unverändert überzeugt, dass es in Deutschland eine starke liberale Partei braucht. Wir von R21 veranstalten am 11. November eine Konferenz zur Zukunft des Liberalismus, wo wir – jenseits von parteipolitischen Routinen – den Fragen nachgehen wollen: Welche Bedeutung hat der Liberalismus im 21. Jahrhundert überhaupt? Wie kann er sich gegenüber autoritären Bewegungen behaupten? Wo ist sein Platz im deutschen Parteiensystem? Wie schützt man wirtschaftliche und bürgerliche Freiheit vor einem zur Übergriffigkeit neigenden Staat? Da haben wir ein tolles Programm mit hochkarätigen Gästen. Ich freue mich sehr darauf – und vielleicht ergeben sich ja auch wertvolle Impulse für meine Partei.

Ruhrbarone: Wurde R21 am Ende nicht viele Jahre zu spät gegründet? Es gibt ja durchaus die berechtigte Kritik – zum Beispiel an der Industrie –, dass viele Unternehmen und viele Unternehmer das alles eben auch freudig mitgemacht haben.

Hagen: Mein Eindruck ist: Gerade börsennotierte Großkonzerne agieren oft opportunistisch, laufen gern der politischen Mode hinterher. Wenn dann sind es Familienunternehmen, die sich trauen, auch mal öffentlich gegen den Strom zu bürsten. Ja, es wäre besser gewesen, es hätte einen Akteur wie R21 schon früher gegeben – aber besser spät als nie. Die Herausforderung aus bürgerlicher Sicht ist ja inzwischen eine Doppelte: Einerseits linksgrüne Narrative zu hinterfragen und ihnen etwas entgegenzusetzen. Und andererseits das Pendel, das inzwischen schon von links zurückschwingt, in der bürgerlichen Mitte aufzufangen – denn sonst rauscht es nach Rechtsaußen durch.

Ruhrbarone: Um das zu verhindern, müsste allerdings auch die Wirtschafts- und Energiepolitik geändert werden. Und da stelle ich mir die Frage, ob das bei der Energiepolitik nicht zu spät ist. Man kann ja jetzt hingehen und neue Gaskraftwerke bauen. Die müssen natürlich kommen, um die Versorgung zu sichern. Aber natürlich wird das sehr teuer, und es wäre viel klüger gewesen, die Kernkraftwerke laufen zu lassen.

Hagen: Klar, der Schaden, der schon entstanden ist, lässt sich natürlich nicht ungeschehen machen. Trotzdem ist es nie zu spät, noch umzusteuern. Das betrifft zum Beispiel das illusorische Ziel, Deutschlands Strombedarf bis 2045 zu 100 Prozent mit Erneuerbaren zu decken. Und auch, ob der Ausstieg aus der Kernkraft tatsächlich irreversibel ist, wird unter Fachleuten kontrovers diskutiert. Ich habe zu diesem Thema kürzlich für den Podcast unserer Denkfabrik ein sehr interessantes Gespräch mit der Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland geführt. Es gibt durchaus Experten, die sagen, man könnte einige der stillgelegten Kernkraftwerke mit einem überschaubaren Aufwand reaktivieren.

Ruhrbarone: Alleine das zu prüfen hat die SPD in den Koalitionsverhandlungen mit der Union verhindert.

Hagen: Unverständlicherweise, ja. Die Energiepolitik der letzten 25 Jahre ging ja vor allem zu Lasten der so genannten kleinen Leute. Die EEG-Umlage war eine gigantische Umverteilung von unten nach oben – von den Menschen, die in Mietswohnungen leben, zu den Hausbesitzern mit PV-Anlage auf dem Dach. Dazu vernichten hohe Strompreise natürlich Industriearbeitsplätze. Eine Arbeiterpartei müsste hier eigentlich einen ganz anderen Kurs fahren – genauso wie beim unsinnigen Verbrennerverbot.

Ruhrbarone: Deutschland steckt, was die Energiepolitik betrifft, eigentlich in einer Falle. Es zerstört seine alten Industrien und sorgt dafür, dass neue Branchen nicht entstehen können.

Hagen: Richtig. Nehmen Sie die Künstliche Intelligenz: Rechenzentren werden den Strombedarf in den kommenden Jahren massiv ansteigen lassen. Wir drohen bei dieser technologischen Revolution den Anschluss zu verpassen – einerseits durch unsere verfehlte Energiepolitik, andererseits durch unseren sehr restriktiven Datenschutz. Denn KI wird getrieben von Daten und von Energie.

Ruhrbarone: Wenn man verhindern will, dass dieses Pendel, das ausschlägt, nicht in der Mitte bleibt, sondern weiter nach rechts ausschlägt, dann liegt die Hauptverantwortung doch eigentlich im Moment bei der SPD. Weil bei der CDU hat man in weiten Teilen das Gefühl – zumindest unter Merz –, dass sie es verstanden hat.

Hagen: Hat sie das? Ich bin mir nicht immer ganz sicher. In der Migrationspolitik ja, da erkenne ich auch in der konkreten Regierungspolitik einen Kurswechsel. Was Rentenpolitik und Neuverschuldung angeht, geht es meines Erachtens in die ganz falsche Richtung. Sie wollen aber auf die Wirtschafts- und Energiepolitik hinaus. Stimmt, da ist die Union natürlich auf die Kooperationsbereitschaft der SPD angewiesen. Und sie hat ja aktuell keine Alternativen zu dieser Koalition – unter anderem, weil sie eine Minderheitsregierung kategorisch ausschließt.

Ruhrbarone: Es gab ja auch bei uns im Blog – nach einem Interview mit Andreas Rödder von Ellen Daniel und Michael Miersch – eine Diskussion, ob Rödder und damit R21, er ist ja der Vorsitzende, nicht für eine Öffnung zur AfD eintritt. Sie klangen eben so, als wollten sie verhindern, dass das Pendel zu weit nach rechts ausschlägt.

Hagen: Ich will nicht, dass die AfD in Deutschland zur bestimmenden politischen Kraft wird. Ich saß fünf Jahre lang im bayerischen Landtag direkt neben diesen Leuten, ich mache mir überhaupt keine Illusionen, was da teilweise für ein Gedankengut herrscht – von offener Fremdenfeindlichkeit bis zur Sympathie zu Autokraten wie Wladimir Putin. Gerade weil ich mich um den liberalen Charakter unseres Landes sorge, finde ich, wir sollten den bisherigen Umgang mit der AfD kritisch hinterfragen. Denn er war ja offenkundig nicht erfolgreich: Die AfD wurde nicht kleiner, sondern immer größer. Gleichzeitig hat sie sich nicht gemäßigt, sondern weiter radikalisiert. Deshalb lohnt es sich doch, über einen Strategiewechsel nachzudenken, anstatt solche Überlegungen reflexhaft zu diffamieren.

Ruhrbarone: Die AfD ist keine bürgerliche Partei, sondern eine Ansammlung von Landesverrätern, die auf der Seite von Potentaten wie Putin stehen. Wenn wir gerade vom Vibe-Shift gesprochen haben – ist nicht die SPD das eigentliche Problem? Sie könnte heute die Rolle übernehmen, die sie unter Schröder einmal hatte: eine pragmatischere, wirtschaftsnahe Mitte.“

Hagen: Wenn die SPD eine am Erhalt von Industriearbeitsplätzen orientierte Wirtschafts- und Energiepolitik machen würde, wenn sie sich zum Anwalt der fleißigen Menschen machen würde statt zum Anwalt von Totalverweigerern im Bürgergeldbezug, wenn sie eine Migrationspolitik machen würde, wie Sozialdemokraten in skandinavischen Ländern sie seit Jahren sehr erfolgreich betreiben, – dann hätte sie eine Chance, wieder Volkspartei zu werden. Und dann würden die Wähler aus der Arbeiterschaft vermutlich auch nicht in Scharen zur AfD laufen.

Ruhrbarone: Nachdem R21 auf X das bei uns erschienene Interview mit Andreas Rödder geteilt hat, wurde gleich versucht, R21 als rechtsradikal zu denunzieren. Ist das eine Erfahrung, die Sie häufiger machen?

Hagen: Das ist eine Erfahrung, die jeder macht, der sich linken Denk- und Sprachverboten verweigert. Ich glaube, dass das auch etwas ist, was dazu beigetragen hat, die AfD so groß zu machen. Weil über viele Jahre hinweg jede Position, die rechts vom Realo-Flügel der Grünen angesiedelt war, als rechtsradikal diffamiert wurde. Und wenn man den Leuten lange genug erzählt, dass ihre Position – sei es zur Migration, zu Coronamaßnahmen, zur Klimapolitik oder zur Frage, ob Transfrauen bei Sportwettkämpfen gegen biologische Frauen antreten sollten – rechtsradikal ist, dann treibt man diese Leute irgendwann auch in die Arme rechtsradikaler Parteien. Deswegen ist es wichtig, den Meinungskorridor wieder zu verbreitern und den Diskurs zu beleben. Dazu leisten wir als Denkfabrik seit vier Jahren einen Beitrag. Wir müssen in der Demokratie wieder lernen, zu streiten und Meinungen zu tolerieren, die wir selbst nicht teilen.

Ruhrbarone: Eine Quelle des Einflusses des linksgrünen Umfelds aus Denkfabriken und NGOs ist, dass sie stark öffentlich finanziert werden. Das ist aus guten Gründen kritisiert worden, auch von der Union. Umso größer war dann die Enttäuschung – zum Beispiel bei Anna Schneider in der Welt und Marc Felix Serrao in der NZZ –, dass R21 jetzt auch Geld aus der Staatskasse bekommt und nicht – was ich zum Beispiel auch sehr ehrenhaft finden würde – sagt: „Wir wollen nichts von euch, wir bleiben unabhängig.“

Hagen: Die Haushälter der Union haben ihren SPD-Kollegen wohl vorgeschlagen, die Förderung für alle Thinktanks zu streichen. Als die SPD dazu nicht bereit war, hat die Union gesagt: Okay, wenn das nicht möglich ist, muss es zumindest politisch ausgewogen sein – ein Argument, dem auch ich mich als Kritiker der ausufernden staatlichen NGO-Finanzierung anschließen kann. So kam es dazu, dass der Bundestag beschlossen hat, die Arbeit unserer Denkfabrik künftig zu fördern. Für R21 gilt aber: Wir bleiben unabhängig und unbequem und finanzieren uns auch künftig überwiegend aus privaten Spenden und Fördermitgliedsbeiträgen.

Mehr zu dem Thema:

 

„Die Fake News der Rechten sind die hässliche Schwester des postmodernen Dekonstruktivismus“

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtigen bei
guest
0 Comments
Älteste
Neueste
Inline-Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Werbung