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Erinnerung an Tschernobyl

Im Reaktor Atomkraftwerk Fukushima I in Japan ist es zu einer Explosion gekommen. Die Aussenhülle wurde zerstört. Radioaktivität tritt aus. Das alles gab es schon einmal: 1986 in Tschernobyl. Olga Kapustina hat es als Kind miterlebt:

Der 26. April 1986 war ein sonniger Tag. Meine Mutter, die damals so alt war, wie ich heute, ging mit mir spazieren. Wir lebten in einem kleinen Ort in Weißrussland. Nach dem Regen gab es überall Pfützen. Es blühte Löwenzahn. Ich war gerade ein Jahr alt und genoss meinen ersten Frühling. Ich wusch meine Hände in den glänzenden Pfützen und platschte mit meinen Beinen drin herum. Die Pfützen hatten einen gelben Rand, erinnert sich meine Mutter heute. Damals dachte sie, es sei Blütenstaub vom Löwenzahn. Sie wusste noch nicht, dass seit diesem Tag unser Löwenzahn, unser Wasser und unser Boden vergiftet sind.

Ein paar Tage später gab es eine kurze Information in den sowjetischen Medien: In der Nacht auf den 26. April ist der vierte Block des Atomkraftwerks in Tschernobyl explodiert. Es gebe keinen Grund zur Panik, hieß es, niemand sei betroffen, alles in Ordnung. Es wurde allerdings empfohlen, die Fenster in den Wohnungen zu schließen. Am Tag der Arbeit versammelten sich Menschen in unserer kleinen Stadt Tschausy im Osten Weißrusslands auf dem Lenin-Platz. Es waren die üblichen Feiern. Die Leute waren aufgeregt wegen der Nachricht und wegen des Frühlingsfiebers.

Ich kann mich an diese sonnigen Tage nicht erinnern. Dafür habe ich viele positive Erinnerungen aus meiner Kindheit, die mit Tschernobyl verbunden sind. In der Schule bekamen wir drei Mal am Tag kostenloses Essen. Zum Mittag gab es Suppe, Fleisch oder Fisch mit Beilage und einem Getränk. Manchmal gab es Algen. Das mochten wir aber nicht, obwohl (oder gerade weil) sie wegen des hohen Jod-Gehaltes als besonders gesund galten. Was wir wahnsinnig mochten, war das Obst, das wir jeden Tag zum Mittagessen bekamen. Dies wurde vom Staat und den internationalen Organisationen finanziert. Sie hießen „Hoffnung“ oder „Kinder von Tschernobyl“. Wir, die Kinder von Tschernobyl, waren eigentlich ganz glücklich.

Zum Neujahr gab es regelmäßig Pakete aus dem Westen – die so genannte humanitäre Hilfe. In den Päckchen gab es leckere Schokolade, Bonbons, Kaugummis, Kakao. Manchmal gab es auch Briefe, die in einer Fremdsprache verfasst wurden. Dort stand zum Beispiel: „Hallo! Ich heiße Tom und ich bin 8 Jahre alt. Ich wohne in einem Haus mit Garten in Deutschland. Mein Lieblingsspielzeug ist Teddybär. Schöne Weihnachten!“ Als ich etwas älter wurde, antwortete ich auf einen dieser Briefe. Ich schrieb: „Hallo Tom! Ich heiße Olga. Ich bin 10 Jahre alt. Ich habe einen Bruder. Wir wohnen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Ich gehe zur Schule und lerne dort Deutsch“. Ich habe keine Antwort bekommen. Trotzdem sagte ich allen, dass ich einen Brieffreund habe.

Die wichtigste Freude der Kinder von Tschernobyl ist mir allerdings entgangen – die Chance, einen Sommer in einer Gastfamilie im Westen zu verbringen. In meiner Klasse gab es 25 Kinder, 22 davon waren im Ausland. Die meisten flogen nach Kanada, aber auch nach Italien, Belgien oder Deutschland. Ich war unter den drei, die nicht im Ausland waren. Meine Mutter wollte das nicht. Sie meinte, es wird mir nicht gut in einer fremden Familie gehen. Ich war ein kränkliches Kind. Sie sagte: „Ich kaufe dir alles selber und wenn du erwachsen bist, gehst du, wohin du willst.“ Ich nahm es ihr übel. Ich war neidisch auf die vollen Koffer vom Spielzeug und Süßigkeiten und auf die unzähligen Fotos mit einem großen Haus und einem Swimming Pool im Hintergrund, die meine Mitschüler aus Kanada mitbrachten.

Meine Cousine war ihrerseits neidisch auf mich. Sie wohnte in einem Ort 50 Kilometer von uns entfernt. Im Unterschied zu Tschausy überstiegen die Messungen dort die Grenzwerte nicht. Offiziell gehörte die Stadt nicht zu den radioaktiv verseuchten Gegenden. Deswegen hatte ihre Bevölkerung keine Tschernobyl-Vergünstigungen. Meine Cousine durfte nicht wie ich für einen Monat im Jahr kostenlos ins Sanatorium in einen „sauberen“ Ort in Weißrussland.

Während dieses Erholungsmonats waren wir Schüler unter uns, weit weg von den Eltern. Wir hatten nur vormittags Unterricht und bekamen keine Hausaufgaben. Dafür gingen wir abends in die Kinderdiskothek oder ins Kino, schrieben einander Liebesbriefe und organisierten Konzerte. Das sind meine besten Erinnerungen an die Schulzeit.

Dank Tschernobyl bekam mein Bruder letztes Jahr einen Platz im Studentenwohnheim in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Die Wohnheimplätze sind rar. Studenten mit einer Behinderung, Waisen oder Jugendliche aus einer anderen „sozialen Kategorie“, wie zum Beispiel Leute aus einer radioaktiv verseuchten Gegend, haben Vorrang. Die Miete beträgt 40 Euro im Jahr. Sonst sind die Mietpreise in der Minsk ungefähr so hoch wie die in Berlin.

Radiozäsium, Plutonium und Radiostrontium kann man nicht riechen, sehen oder hören. Ich weiß nicht, ob ich ohne Tschernobyl seltener krank gewesen wäre. Man kann nicht genau nachweisen, ob die sinkende Lebenserwartung der Weißrussen mit Tschernobyl verbunden ist.

Im Kindergarten, den meine Mutter leitet, sind nur drei von 87 Kindern völlig gesund. Der Rest hat eine Krankheit. Irgendeine. Das heißt nicht, dass die Kinder drei Arme oder zwei Köpfe haben. Aber sie haben schlechte Augen, Probleme mit den Nieren und der Schilddrüse oder sind „allgemein kränklich“. Man kann nicht nachweisen, ob das mit dem Atomunfall zu tun hat. Der Staat bezahlt für diese Kinder aber die Hälfte der täglichen Verpflegung im Kindergarten, die ungefähr zwei Euro kostet. Einen Euro zahlen die Eltern.

Meine Mutter hat sich bis jetzt nicht verziehen, dass sie mich damals in den Pfützen hat planschen lassen.

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Pat Boone
Pat Boone
13 Jahre zuvor

Danke, Frau Kapustina für die Story.

Daniel Drepper
13 Jahre zuvor

Das Gleich wollte ich auch schreiben. Also: Danke, Olga, für die Geschichte.

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[…] gehen jetzt von der Kernschmelze aus. Das alles gab es schon einmal: 1986 in Tschernobyl. Olga Kapustina hat es als Kind miterlebt. Der Ernstfall ist nun auch in Japan eingetreten: Die Explosion hat das Atomkraftwerk Fukushima 1 […]

Frank
Frank
13 Jahre zuvor

Ein Jahr alt.

Und dann können Sie sich genau erinnern? Wow, dann muß das Unglück ja tiefe Spuren hinterlassen haben.

Oder ist das mit dem einen Jahr ein Irrtum?

Helmut Junge
13 Jahre zuvor

@Olga,
Damals hat der staatliche Rundfunk in der UddssR erst von einer „Havarie“ gesprochen. Aber da war es schon längst eine Kathastrophe.
Diese Verniedlichungen haben bis heute Tradition.
Die japanische Regierung hält an dieser Tradition scheinbar fest.

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[…] selbst gehen jetzt von der Kernschmelze aus. Das alles gab es schon einmal: 1986 in Tschernobyl. Olga Kapustina hat es als Kind miterlebt. Der Ernstfall ist nun auch in Japan eingetreten: Die Explosion hat das Atomkraftwerk Fukushima 1 […]

Rudi Gems
Rudi Gems
13 Jahre zuvor

Damals hatte eine Band gesungen:

„Oh,oh,oh,oh Tschernobyl, das letzte Signal vor dem Overkill.“ Schade, leider haben sie Recht behalten. Das sind Sachen, wo man alles dafür geben würde, zu denen zu gehören, die Unrecht haben. Schade immer nur, das man in „Normalen Zeiten“, keine Chance hat, Gehör zu finden.

Ich habe in meinem Leben, wirklich alles Zumutbare getan, um den Atomkraftwahn, zu stoppen. Allein, ich hatte keine Chance. Warum muss die Mehrheit der Menschheit, immer nur so dumm und borniert sein?

Liebe Olga!

Versteh mich bitte nicht falsch? Und ich missgönne Dir auch nichts, was Du in deinem Leben erfahren hast, aber mir wäre es 1000 mal lieber gewesen, Du hättest dies alles und noch viel mehr, bekommen, ohne das Reaktor-Tschernobyl in die Luft geflogen wäre. Und, deine Gesundheit, und das deiner Freunde, wäre mir auch tausendmal wichtiger gewesen, als alle Sachen, die Du wegen Tschernobyl bekommen hast.

Grüße, Rudi Gems

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[…] Zwischenfall in Japan: Erinnerung an Tschernobyl (Ruhrbarone) – Die Ruhrbaronin Olga Kapustina aus Weißrussland erinnert – leider mit aktuellem […]

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[…] selbst gehen jetzt von der Kernschmelze aus. Das alles gab es schon einmal: 1986 in Tschernobyl. Olga Kapustina hat es als Kind miterlebt. Der Ernstfall ist nun auch in Japan eingetreten: Die Explosion hat das Atomkraftwerk Fukushima 1 […]

Thorsten Müller
Thorsten Müller
13 Jahre zuvor

In Tschernobyl haben die Sowjets einen graphitmoderierten Reaktor weitgehend ungeschützt, quasi unter freiem Himmel betrieben. Man sollte halt kein von vornherein fehlkonstruiertes Kernkraftwerk von gewissenlosen Bürokraten betreiben lassen, und in bekanntermaßen hochgradig erdbebengefährdeten Gebieten haben die Dinger auch nichts zu suchen.

Gegen deutsche Kernkraftwerke, vor allem moderne Druckwasserreaktoren, spricht das aber alles nicht. Daher ja auch der Versuch, die Debatte mit Beiträgen wie diesem von Frau Kapustina zu emotionalisieren. Soll der Durchschnittsbürger doch ruhig weiter fürchten, Tschernobyl wäre auch hierzulande möglich.

Stefan Laurin
Admin
13 Jahre zuvor

@Thorsten Müller: So simpel ist es technisch nicht. Tschernobyl war auch die Folge eines Experiments mit dem reaktor. Graphitmoderierte Reaktoren sind ziemlich robust. OK, ein Containement haben sie nicht, aber das hält ja nun einmal einer Wasserstoffexplosion nicht stand. Genau die ist aber die Folge, wenn der Kühlkreislauf zusammenbricht: Der Wasserdampf spaltet sich unter der hohen Energie in Wasserstoff und Sauerstoff auf und dann kommt es zur Explosion. „Knallgas“ – Kennen wir alle aus dem Chemieunterricht. Das Problem ist nicht primär eines des Reaktortyps sondern eines der Kühlung. Bricht die zusammen wird es gefährlich – und in Erdbebengebieten ist die Gefahr deutlich größer als hier. In Würgassen, dem letzten Reaktor den es in NRW gab, hing die Notstromversorgung allerdings wohl auch nur an einer Leitung. Die vorgeschriebene Redundanz gab es erst auf dem Gelände des Kraftwerks – nicht in der Zuführung. Und eine Kombination aus Stromausfall (Wie im Winter 2005/2006) und Probleme mit den Notstromdieseln kann auch in Deutschland zu Probleme führen. Nehmen wir noch ein Hoch- oder Niedrigwasser dazu und kommt es damit bei Druckwasserreaktor zu einem Problem beim zweiten Kühlkreislauf kann es eng werden. Davon ab: Das die Japaner es so lange geschafft haben eine Haverie zu verhindern, obwohl die Kühlung ausgesetzt hatte, war eine Meisterleitung der Crew in der Warte. Dumm nur, dass die Verantwortlichen die Zeit nicht für weitgehende Evakuierungsmaßnahmen genutzt haben.

Helmut Junge
13 Jahre zuvor

@Thorsten Müller,
Sie haben aber viel Vertrauen zu Menschen, die Sie gar nicht kennen.
Da kann ich nur Staunen.
In Japan sind nicht die Reaktoren die Ursache gewesen, sondern die Kühlung funktioniert nicht. Warum das so ist, kann man nur ahnen.
Schlamperei bei den Japanern? Kann ich mir nicht vorstellen. Meiner Meinung ist da was eingepart worden, was jetzt fehlt. Die mußten sogar Kühlmittel heranschaffen. und daß Japan ein Erdbebengebiet ist, ist schon bei der Planung bekannt gewesen. Daß da ein Kabel fehlte, deutet darauf hin, daß es keinen 2. Stromerzeuger in der Nähe gab.
Und,
wissen Sie eigentlich, daß Deutschland auch Erdbebengebiet ist?
Wir liegen zwar mitten auf einer tektonischen Platte, aber es gab Erdbeben.
Die Experten sind dann jedesmal erstaunt.
Es hat auch Experten gegeben, die den Salzstock Asse für geeignet hielten.
Gucken Sie sich die Bilder über Asse an, und Sie werden verstehen, wovon ich spreche.

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huhu
huhu
13 Jahre zuvor

„Das heißt nicht, dass die Kinder drei Arme oder zwei Köpfe haben.“ Was wissen Sie denn, Frau Kapustina, von den Kindern, bei denen solche Anomalien tatsächlich der Fall waren/sind? Ich bezweifle sehr, ob Sie Ahnung von solchen Fällen haben und ob Sie mit Kindern, die tatsächlich mit drei Armen oder Ähnlichem durch diese Katastrophe zur Welt kamen, jemals in Berührung gekommen sind. Ihre „Übertreibung“ ist in Wirklichkeit kein poetisches Mittel, sondern ein unüberlegt-abwertender Spruch. Meine Empfehlung für Sie: sich die Tatsachen anschauen und sich nicht von den Gerüchten leiten lassen!

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[…] Strahlung versucht wurde. Die Bilder aus Japan rufen bei der weißrussischen Bevölkerung dunkle Erinnerungen und Bilder […]

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