
Stirbt das Lesen aus? Gibt es Bildung ohne Lesen? Sind deutsche Verlage zu konformistisch? Wolfgang Ferchl blickt auf ein halbes Jahrhundert Verlegererfahrung zurück und weiß Antworten. Von unseren Gastautoren Ellen Daniel und Michael Miersch
Dir geht der Ruf voraus, eine Nase für Bestseller zu haben. Als Chef großer Publikumsverlage hast du Autorinnen und Autoren entdeckt oder betreut, die von Millionen Menschen gelesen werden. Walter Moers, Dörte Hansen, Hape Kerkeling, Gabor Steingart, um nur ein paar zu nennen. Welcher Erfolg hat dich am meisten überrascht?
Wolfgang Ferchl: Die ganz großen Bestseller waren alle eine Überraschung. Übrigens ist das mit dem „Entdecken“ so eine Sache. Verlagsarbeit ist Teamarbeit. Entsprechend hat der Erfolg viele Väter und Mütter.
Bestseller kann man also nicht planen?
Absolut. Das gilt natürlich vor allem für Erstlinge. Wenn ein Autor bereits einen Erfolgstitel geschrieben hat, ist das etwas anderes. Dann kann man davon ausgehen, dass das zweite Buch auch ganz ordentlich verkauft wird, wenn der Autor nicht gerade das Genre wechselt und der Verlag keine Fehler macht.
Wie steht es mit Prominenz? Sind da von vornherein ein paar Zehntausend verkaufte Exemplare sicher?
Wenn der Autor in der Öffentlichkeit bekannt ist, hilft das. Autoren, die in den sogenannten „Sozialen Medien“ eine fünf- oder sechsstellige Zahl von Followern haben, finden leichter einen Verlag und auch ein Publikum. Solche Autoren bringen praktisch ihre eigene Zielgruppe mit. Das hilft, ist aber auch kein Erfolgsrezept. Auch Bücher bekannter Politiker oder Schauspieler können floppen. Dazu kommt: Berühmtheiten verlangen oftmals sehr hohe Vorschüsse. Da kann der Abschreibungsbedarf den Verkaufserfolg schon mal konterkarieren – für den Verlag, nicht für den Autor und seinen Agenten. Verlegen hat also immer auch etwas von Glücksspiel. Das macht aber einen Teil des Reizes aus.
Warst du mal total überzeugt vom Erfolg eines Titels, der dann auf dem Buchmarkt gefloppt ist?
Einmal? Unzählige Male. Die große Enttäuschung findet permanent statt. Es ist wie beim Fußball. In dem Moment, in dem du 18 Meter vorm Tor einen Freistoß schießt, gehst du davon aus, dass du triffst. Weil du das ja geübt hast, weißt, wie das geht. Aber die Statistik sagt, dass nur fünf bis zehn Prozent der Freistöße im Tor landen. Immer, wenn man als Verleger einen Vertrag mit einem Autor unterschreibt, ist man überzeugt: Das wird ein Erfolg! Man braucht beim Verlegen also eine recht hohe Frustrationstoleranz, darf nicht zu viel an die aktuellen Enttäuschungen denken, sondern immer ans nächste Buch. Auch das kennen wir aus dem Sport: Wir denken ans nächste Spiel.
Du hast in deinem Verlegerleben viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller kennengelernt. Gibt es etwas Gemeinsamens, etwas, was allen eigen ist?
Wenn sich ein Mensch die enorme Mühe macht, einen Roman zu schreiben, dann möchte er dafür wahrgenommen werden. Der Wunsch nach Aufmerksamkeit ist wohl allen gemeinsam.
Ganz am Anfang deines beruflichen Werdegangs hast du bei einem traditionsreichen Wissenschaftsverlag gearbeitet. Gelten da andere Gesetze?
Ja, völlig andere. Das unternehmerische Risiko ist viel geringer. Mehr kluge betriebswirtschaftliche Planung, weniger Glücksspiel. Erstens müssen die meisten Autoren selbst ziemlich viel Geld beisteuern, damit ihr Buch verlegt wird. Das gilt sogar für die Koryphäen der jeweiligen Disziplin und wird „Druckkostenzuschuss“ genannt. Und zweites sind die Kunden in erster Linie Bibliotheken, die die relevanten Werke eines Fachgebiets in ihrem Bestand haben müssen. So kann der Verlag wesentlich solider kalkulieren.
Wie ökonomisch bedeutend ist die Buchbranche in der Gesamtwirtschaft?
In den 1990er-Jahren wurden deutlich mehr Bücher verlegt als heute. Es waren damals im deutschsprachigen Raum etwa 90.000 neue Titel pro Jahr. Heute sind es noch gut 60.000. Der Umsatz ist dennoch gestiegen. Der lag damals bei sechs oder sieben Milliarden Euro, heute bei rund neun Milliarden. Ungefähr 100.000 Menschen arbeiten in der Buchbranche. Volkswirtschaftlich ist sie also völlig unbedeutend, aber eine riesige Windmaschine. Weshalb viele Menschen sie für viel größer halten, als sie ist. Wenige Produkte werden wohl in der Öffentlichkeit so intensiv wahrgenommen wie Bücher.
Laut einer Allensbach-Umfrage nimmt etwa jeder zehnte Deutsche mindestens einmal in der Woche ein Buch zur Hand…
Ich glaube bei der Buchlektüre wird ähnlich geschwindelt, wie bei der Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs. Wer will schon zugeben, dass er nur einmal im Jahr in einem Buch liest?
Wie hat sich das Leseverhalten in der jüngeren Vergangenheit verändert?
Die Forschung sagt, dass die Menschen insgesamt weniger lesen, wenn es um lange Texte, also um Bücher geht. Die aber, die noch Bücher lesen, lesen mehr davon. Die meisten lesen heute wohl nur kurze Texte, bedingt durch die Angebote für die Smartphones. Aber keine Regel ohne Ausnahme: Im Fantasy-Genre zum Beispiel werden die Bücher immer dicker. Beim eskapistischen Lesen ist die lange Strecke beliebt.
Stichwort Eskapismus: Wir haben in der Vorbereitung für dieses Interview gelesen, dass die Genres „Romantasy“ und „New Adult“ gerade boomen. Meist sind dies einfach gestrickte Geschichten, die jedoch ein großes Publikum finden. Leben wir in einer Zeit der Regression, des Rückzugs in Traumwelten?
Die Käuferinnen sind Mädchen und junge Frauen, etwa von 12 bis 25. Solche Phänomene gab’s schon immer. Die Twilight-Serie Anfang der 2000er-Jahre war so ein Phänomen. Die Geschichte der weiblichen Lektüre geht aber zurück bis ins 18. Jahrhundert, schon damals war man der Meinung, Romane würden junge Frauen verwirren und verderben. Eine Kollegin erklärte mir übrigens auf der letzten Buchmesse, dass sich dieses Genre immer mehr in Sub-Genres aufteilt. Anders als bei der früheren Trivialliteratur für Frauen würde die Erotik in diesen Geschichten immer expliziter werden. Mal sehen, wie lange das anhält.
In diesem Genre gibt es auch viele jüngere Autorinnen, die im Selfpublishing sehr preisgünstige E-Books oder Books on Demand herausbringen.
Ja, Selfpublishing ist ein relevanter Markt geworden, diese Bücher kosten in digitaler Form oft nur 99 Cent oder 1,99 Euro.
Stimmt es, dass immer mehr Menschen Bücher schreiben?
Das ist jedenfalls auch mein Eindruck. Verlage und Agenturen erhalten seit Jahren immer mehr unverlangt eingesandte Manuskripte, und das Selfpublishing ist eine feste Größe geworden. Zugespitzt formuliert: Die Leser werden weniger, die Autoren und solche, die es werden wollen, werden mehr. Wohlgemerkt bei schwindenden Programmplätzen.
Welcher Typ Mensch ist der verlässlichste Buchkäufer?
Ganz allgemein kann man das nicht beantworten, nur für den Bereich der Genre-Literatur. Da gibt es tatsächlich unerschütterliche Käuferinnen und Käufer, die sind regelrecht süchtig nach frischem Lesestoff. Die lesen drei, vier, fünf Bücher die Woche. Ähnlich wie die Seriengucker bei den Streamingdiensten immer weitere Folgen ihrer Lieblingsserie haben wollen. Oder auch vergleichbar mit der Heftchenliteratur im 20. Jahrhundert. Da gab es ja auch Menschen, die unentwegt Arztromane, Liebesgeschichten, Krimis, Science-Fiction oder Western konsumiert haben. Diese Gruppe war immer für die Verlagsbranche als Ganzes ein stabilisierender Faktor. Jetzt wird dieses Geschäft aber durch die erwähnten Dumpingpreise der Selbstpublisher geschmälert – für die Verlage.
Wie ist die Stimmung bei den Verlagen? Man hört und liest seit Jahren, dass die Buchbranche in der Krise steckt.
Die Zahl der Leser nimmt ab und die der Buchverkäufe. Es sind Preiserhöhungen, die in den vergangenen Jahren zu einem leichten Umsatzzuwachs geführt haben. Offiziell ist die Stimmung gut. Die Branchenfunktionäre verbreiten gern Optimismus. Kürzlich wurde wieder ein Besucherrekord für die Leipziger Buchmesse gemeldet. Ob das ein Indikator für einen Aufschwung ist, bezweifele ich. Spricht man mit Verlagsleuten jenseits der öffentlichen Bühne, hört man eher Klagen über die sich ballenden Probleme. Doch ist die Verlagswelt nach wie vor sehr segmentiert, obwohl seit Jahrzehnten ein Konzentrationsprozess stattfindet. Deshalb kann ein einzelner Verlag immer eine Sonderkonjunktur haben, auch wenn´s der Branche insgesamt weniger gut geht. Wenn ein mittelgroßer Verlag beispielsweise eine neue mehrteilige Serie à la Harry Potter ins Programm bekommt, hat er über Jahre ausgesorgt, unabhängig davon, ob und wie die anderen darben.
Warum sind Bücher so teuer?
Sind sie nicht. Seit der Umstellung von D-Mark auf Euro sind die meisten Produkte längst bei Eins zu Eins angekommen. Sie kosten so viele Euro wie früher D-Mark. Man denke nur an die Tafel Markenschokolade oder den Kinobesuch. Auch beim Taschenbuch ist es so. Doch das gebunde Buch, das Premiumprodukt der Verlage, hat nicht mitgehalten. Ein Hardcover-Roman mit 288 Seiten hat früher 36 Mark gekostet. Entsprechend müsste er heute 36 Euro kosten, kostet aber etwa nur 22 Euro. Die Verlage haben es nicht geschafft, den Preis für ihre Hardcover anzupassen – wohl aus Angst vor der eigenen Courage. Aber auch, weil die sogenannten „Zeitungs-Bibliotheken“ die Preise für Hardcover – fünf Euro pro Band – verdorben haben.
Mit welchen großen Umbrüchen haben die Verlage zu kämpfen?
Es gibt nicht das eine große Ereignis, das wie ein Komet auf die Verlage herniederging. Es ist ein Prozess, der sich immer weiter zuspitzt, das Geschäftsmodell kommt von vielen verschiedenen Seiten unter Druck. Da ist einerseits die technische Entwicklung, durch die ein relevanter Teil des Buchhandels ins Internet abgewandert ist, weshalb unabhängige Buchhändler aufgeben. Mit jedem Outlet verschwindet Umsatz. Dazu kommen gesellschaftliche Entwicklungen, wie die Ausdifferenzierung der Milieus, meint: Zielgruppen werden immer kleiner. Mit ihnen die Auflagen. Die Verbindlichkeit dessen, was man gelesen haben sollte, nimmt ab. Alternative Freizeitangebote nehmen zu: Gaming, Social Media, aber auch das Fitness-Studio sind Konkurrenz zum Bücher-Lesen. Jeder Ökonom weiß, dass erst ein skalierbares Geschäft ein wirklich gutes Geschäft ist.
Dazu kommt: Die Konzentration im Buchhandel. Die immer größer werdenden Buchhändler haben die Macht, immer höhere Rabatte zu verlangen. Obendrein haben sich auch in der Papierindustrie und bei den Druckereien Oligopole gebildet, was sich auf die Preise auswirkt. Das Agentenwesen hat ebenfalls viel verändert. Früher sind die Autoren direkt an die Verlage herangetreten – oder umgekehrt. Heute steht der Agent als Makler dazwischen. Auch grundsätzlich verlagstreue Autoren werden in Versuchung geführt, wegen höherer Vorschüsse den Verlag zu wechseln. Doch im Gegensatz zum Fußball werden leider keine Ablösesummen bezahlt.
Und noch etwas: Immer mehr kaufen sich englische Originalausgaben gleich bei Erscheinen, die oft auch billiger sind als die Übersetzung. Der deutsche Buchmarkt lebt traditionell nicht zuletzt von Übersetzungen. Auch so wird das Geschäft enger. Schließlich Marketing, Werbung und PR: Früher musste man „nur“ die klassischen Kanäle bedienen mit Pressearbeit und Werbung wie Anzeigen. Heute muss man zusätzlich Suchmaschinen optimieren, immer mehr Social-Media-Kanäle bedienen. Das Verlegen ist, ökonomisch gesehen, immer anspruchsvoller geworden. Der Wind weht aus allen Richtungen gleichzeitig, das muss man im Blick haben und man muss Lösungen finden, um noch eine auskömmliche Rendite zu erwirtschaften.
Ist das Feuilleton der großen Zeitungen heute für den Buchmarkt überhaupt noch relevant?
Die Frage nach der Relevanz des Feuilletons für Buchverkäufe war auch früher schon schwer zu beantworten. Es ist mit Sicherheit insofern relevant, als dass Autor, Lektor und Verleger sich über eine gute Rezension freuen. Ein einzelner Artikel in einer großen Zeitung oder ein einzelner Fernsehbeitrag bringt aber nur sehr selten eine messbare Absatzsteigerung. Etwas anderes ist es, wenn es zu einer Ballung kommt. Wenn ein Buch bei Erscheinen in fast allen großen Feuilletons Aufmerksamkeit findet, dann wirkt das auch auf den Verkauf. Oft sind die Beiträge allerdings keine Rezensionen mehr, sondern Interviews oder Homestories, die machen eher den Autor interessant und nicht unbedingt das Buch.
Wie weit liegen Feuilleton und Leser auseinander? Wir haben manchmal den Verdacht, dass es Autorinnen und Autoren gibt, die von Feuilleton geliebt werden, aber eine winzige Leserschaft haben.
Aber ja. Das gilt übrigens auch für die Literaturpreise. Es gibt Autoren, die mit Preisen überhäuft und von Kritikern in den Himmel gehoben werden, die aber kaum ein Mensch liest. Und es gibt welche mit riesiger Leserschaft, deren Namen niemals in einem Feuilleton auftauchen, es sei denn als „Phänomen“. Es kommt stark drauf an, wie gut Autor, Verleger und die Presseabteilung des Verlags mit dem „Milieu“ vernetzt sind. Berühmt für eine perfekte Vernetzung war der Suhrkamp Verlag zu Zeiten von Siegfried Unseld und der berühmt-berüchtigten Gruppe 47. Da waren nicht wenige Autoren gleichzeitig Buchrezensenten in großen Zeitungen und vor allem in Rundfunkanstalten. So haben sie ihre Bücher wechselseitig bekannt gemacht. Eine perfekte Marketingmaschine. Manche nannten es „Rezensionskartell“.
Eine interessante Erklärung, warum heute weniger gelesen wird, bietet die These vom „Iconic Turn“. Sie besagt, dass wir uns mehr und mehr zu einer Bilderkultur zu entwickeln. Erleben wir gerade das Ende der Schriftkultur?
Das können Soziologen oder Psychologen sicherlich besser beantworten. Es ist nicht mein Fachgebiet, aber ich glaube, da ist etwas dran. Bilder werden immer wichtiger. Es gibt außerdem einen starken Trend vom Lesen hin zum Hören. Stichwort Podcast. Vielleicht geht die Epoche der Schrift ihrem Ende entgegen. Menschen erfanden die Schrift einst im Alten Orient für Buchhaltung und für Verträge. Mythen und Geschichten, auch Nachrichten, wurden lange weiterhin mündlich verbreitet. Selbst als später das Erzählte schriftlich fixiert wurde, blieb es noch lange eine vorwiegend mündliche Angelegenheit. Seit es Tonträger gibt und erst recht seit Sprache und Bilder elektronisch übermittelt werden können, brauchen wir die Schrift immer weniger. Vielleicht liegt die absolute Hochzeit der Schriftkultur hinter uns.
Wir haben kürzlich den Arzt und Psychologen Dietmar Hansch interviewt, der sagte, dass Lesen unabdingbar ist, um eine innere Vorstellungswelt, einen inneren Reichtum zu entwickeln.
Das Lesen spricht wohl im Gehirn zusätzlich andere Areale an als das Hören und das Betrachten von Bildern, auch wenn es Überschneidungen gibt. Aber warum soll das besser sein für die geistige Entwicklung eines Menschen? Warum soll man sich eine innere Vorstellungswelt nicht genauso gut über das Hören aneignen, auch das Hören von Musik. Jeder Schulunterricht vermittelt Wissen zu einem großen Teil mündlich. Jeder, der seinem Kind etwas vorliest, erweckt doch eine innere Welt. Ich fürchte, wir neigen dazu, die kulturellen Standards, mit denen wir aufgewachsen sind, als das Richtige und das Gute zu betrachten.
Auf TikTok gibt es derzeit einen Trend, vor Bücherregalen zu posieren. Darin stehen meist prächtige, gebundene Bücher. Wir haben das Gefühl, dass die Bücher wieder schöner werden, seit es E-Reader gibt, bei denen die Haptik und Ästhetik eines Buches keine Rolle mehr spielt.
Ja, die Ausstattung von Büchern ist wieder wichtiger geworden. Wir erleben eine Auratisierung der Form. Eine Art Gegen-Trend zum Billig-E-Book für 99 Cent. Wobei auch das nicht völlig neu ist. In den 1990er-Jahren haben wir bei Eichborn „Die Andere Bibliothek“ verlegt; Bücher, die nicht nur inhaltlich etwas Besonderes waren, sondern auch ästhetisch und in ihrer handwerklichen Verarbeitung. Die Ausstattung auch etwas mit der Buchpreisbindung zu tun. In Deutschland müssen Bücher wie auch Medikamente überall gleich viel kosten, egal ob im Kaufhaus oder in der kleinen, edlen Buchhandlung. Somit gibt es kaum Möglichkeiten, über den Preis zu konkurrieren. Die Ausstattung ist eine Möglichkeit, sich von den anderen Anbietern abzuheben. Allerding kommt man dabei schnell an ökonomische Grenzen. Aufwändig gemachte Umschläge sind teuer. Ich bin gespannt, wie lange diese Welle anhält.
In den vergangenen Jahren wurden einige kleinere Verlage im nationalkonservativen bis rechtsextremen Milieu gegründet. Der Bereich des politischen oder philosophischen Essays war einmal links verortet. Hat sich das gewandelt? Ist die Zielgruppe für politische Literatur heute eher rechts?
Mein Eindruck ist, wir haben diese Radikalisierung in den politischen Lagern, links wie rechts. Verlage bedienen das. Auf den Bestsellerlisten scheint mir das linke Lager noch deutlich stärker vertreten – Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Haltung vieler großer Verlage ist nach wie vor eher links, grün oder auch woke. Autorinnen und Autoren, die damit nicht konform gehen, werden eher aussortiert. Oftmals reicht dafür schon ein politischer Dissens in Einzelfragen, um das Merkmal „rechts“ verpasst zu bekommen. Letztes prominentes Beispiel war der Welt-Herausgeber Ulf Poschardt. Aber der hat, wie beispielsweise Monika Maron vor ihm, schnell einen Verlag gefunden, den ich nicht als „rechts“ einstufen würde.
Das führt uns zur nächsten Frage. Uns fiel auf, bei Themen wie Klimawandel, Atomkraft oder Gentechnik findet jedes apokalyptische Buch aus Amerika sofort einen deutschen Verlag. Bücher, die solche Themen differenzierter behandeln, werden selten übersetzt. Selbst wenn sie auf Platz eins der amerikanischen Bestsellerlisten stehen. Sind die deutsche Sachbuchverlage zu konformistisch?
Ja, das entspricht auch meiner Beobachtung. Ich fürchte, es gibt eine unterschwellige Ideologisierung von Verlagsprogrammen. Viele in dieser Branche haben wohl Angst, ausgegrenzt zu werden. Verleger und Lektoren sind Teil der kulturellen Blase, die sich traditionell als „links“ versteht, man will geliebt, wenigstens geschätzt werden. Ich nehme mich da nicht aus. Wenn man sich zum xten Mal wegen eines unliebsamen Autors oder Buches abschätzige Bemerkungen anhören muss, von den Kollegen, im Freundeskreis, dann fragt man sich, ob es nicht einfacher ist, diesen Autor nicht mehr zu verlegen. Wer beispielsweise ein kritisches Buch über die vorherrschende Sicht auf den Klimawandel veröffentlicht, gilt schnell selbst als „Klimaleugner“. Viele reden darüber, dass sie Bücher „gegen den Strom“ und „out oft the box“ machen wollen. Aber wenn’s drauf ankommt, geht man lieber auf Nummer sicher und bedient den „Mainstream“. Dabei täte uns allen eine größere Offenheit und das Aushalten von Widersprüchen ganz gut.
Solange ich Verleger war, habe ich versucht, ein breites Forum für unterschiedliche Stimmen zu schaffen. Ein Sachbuch durfte linke, liberale oder auch konservative Positionen vertreten, wenn sie gut begründet waren. Man sollte Verlagsprogramme sehen wie Zeitungen. Wenn beispielsweise die ZEIT Interviews mit Kritikern der Coronamaßnahmen bringt, so gilt sie als „liberal“. Wenn ein Verlag entsprechende Bücher verlegen würde, würde er wohl schnell als „rechts“ gelten. Es gibt aber noch ein anderes Hemmnis, kritische US-Bücher zu den von euch genannten Themen zu übersetzen und zu verlegen, neben der Angst, sozial isoliert zu werden. Gerade wenn solche Bücher in den USA Bestseller waren, erwarten die Agenten meist hohe Garantiezahlungen für die Übersetzungsrechte. Auch die Übersetzung selbst muss finanziert werden. Diesen Aufwand gibt der deutsche Markt oft nicht her. It´s the economy, stupid – nicht Selbstzensur.
Gibt es ein Sachbuchthema, von dem du denkst, das muss doch mal endlich einer schreiben – und auch einer verlegen?
Es gibt ein Thema, für das ich in meiner Zeit als Verleger immer mal wieder Autoren begeistern wollte – leider vergeblich: das Thema „Opportunismus“ beziehungsweise „struktureller Opportunismus“. Es geschieht in unserer Gesellschaft so viel aus Opportunismus, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur. Und dies, obwohl derjenige, der sich nicht-opportunistisch verhält, in liberalen Demokratien zwar Nachteile in Kauf nehmen, aber anders als in Diktaturen nicht um seine Freiheit oder gar sein Leben fürchten muss. Wenn Frau Merkel in ihrer Autobiographie über ihren eigenen Machtopportunismus reflektiert hätte, hätte ihr Buch das Land ein Stück weiterbringen können. Nicht wenige ihrer Entscheidungen sind, nach der berühmten Wahlnacht 2005, soweit ich das sehe, aus machtopportunistischen Erwägungen gefallen.
Dr. Wolfgang Ferchl war Lektor bei Rotbuch und Verleger bei Eichborn, Piper, Knaus und Penguin. Er war an zahlreichen Bestsellern und der Entdeckung von erfolgreichen Autoren beteiligt. Bis heute lektoriert er Autoren wie Jenny Erpenbeck und Walter Moers. Wenn er sich nicht mit Texten beschäftigt, ist er auf Reisen
Der Text erschien bereits auf dem Blog von Michael Miersch