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Im Verborgenen


Szene aus dem Film Samir betet. Samir betet fünf Mal am Tag. Nach dem Pokern breitet er den Gebetsteppich aus. Samir ist Iraker aus Essen, mitten im Ruhrgebiet. Auf seinem Schreibtisch steht ein Koran. Daneben liegen eine leere Bierflasche und ein voller Aschenbescher. Bei Samir stimmt etwas nicht.

Der U-Bahn-Übergang „Berliner Straße“ in Essen. Zugbremse, Handymusik, Babygeschrei. Es riecht nach Döner. Eine Oma geht an mir vorbei. Ihr Gesicht sehe ich nicht. Mein Blickt verharrt auf einem Mann mit kurzen dunklen Haaren mitten im Menschenstrom. Seine Haut ist dunkel. Das ist Samir: breite Jacke mit Kapuze, Jeans, Sportschuhe. Er zieht die Kopfhörer aus seinen Ohren heraus, reicht mir die Hand. Er wird mir von der verborgenen Seite seines Lebens erzählen. Er will nicht, dass sein richtiger Name genannt wird. Denn es geht nicht nur um ihn, sondern um die Ehre seiner Familie. Und das ist seinen Eltern am allerwichtigsten.

Samirs Geschichte begann an dem Tag, als ein unbekannter Mann zu ihm nach Hause kam. „Ich war damals zwölf“, sagt der heute 22-Jährige. Er schüttelt vorsichtig eine Prise Tabak auf ein schneeweißes Papierstück, dreht mit seinen Fingern eine Zigarette. Der Mann wurde seiner Schwester vorgestellt. Nach einigen Wochen heirateten sie. Die Schwester zog aus. „Wenn unsere Verwandten nach ihr fragten, sagten die Eltern immer, bei ihr ist alles in Ordnung“.

Samir ging in die Schule. Er hatte viele Freunde. Aber er besuchte sie nicht. Samir durfte nur unter dem Balkon spielen – damit ihn die Mutter im Blick behalten konnte. Klassenfahrten waren verboten. Die Eltern wollten, dass sich möglichst wenige Leute in die Erziehung ihrer Kinder einmischen. Samir beschwerte sich nicht. Als er Liebeskummer und Stress bei seinen Abi-Vorbereitungen hatte, schwieg er. Verliebt sein und Probleme haben – diese Themen waren in der Familie tabu. Er redete nicht mit seinen Eltern. Und seit einiger Zeit nicht mehr mit Gott.

Vor drei Jahren wollte Samir nichts mehr mit seiner verstellten Realität zu tun haben: „Ich habe angefangen Drogen zu nehmen. Es fing an mit Kiffen, dann ging es mit Koks und Ecstasy weiter. Ich wollte einfach wieder mal glücklich sein.“ Doch das half nicht. Es war nur „Glück auf Zeit“. Danach ging es ihm noch schlechter. Einmal packte Samir seinen Koffer und haute von Zuhause ab. Einen Monat lang pendelte er zwischen den Wohnorten seiner Freunde. Immerhin erlangte er dadurch seine Freiheit: die Erlaubnis alleine zu wohnen. Kneipen, Pokern, Bier, Tabak. Diese Bestandteile seines unabhängigen Lebens muss er vor seinen Eltern verheimlichen. Der Kontakt mit berauschenden Mitteln jeglicher Art ist in der muslimischen Familie verboten. Vor einem Jahr erlaubten Samirs Eltern seiner Schwester sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. „Ich werde ihnen nie verzeihen, dass sie es nicht früher gemacht haben“, sagt Samir.

Er schaut die Zigarette an, die in seiner Hand verglimmt. Sie wird immer kürzer, ihr Feuer berührt seine dunklen Finger. Einige Monate nach der Heirat erzählte die Schwester Samir, dass der Mann sie schlägt und demütigt. Einmal rief sie ihn an und erzählte heulend, dass er sie mit dem Messer bedrohte. Als der Mann bemerkte, dass sein kleiner Sohn sich hinter ihrem Rücken versteckte und zitterte, senkte er das Messer in der Hand mit den Worten: „Du wirst schon sehen, was ich heute Abend mit dir mache.“ Samirs Hand zittert, die Asche fällt auf den Boden: „An jenem Abend vergewaltigte er sie.“

Als Samir seinen Eltern von diesem Vorfall erzählte, erwiderte die Mutter nur: „Wie kann sie denn von ihm vergewaltigt werden? Sie sind doch verheiratet.“ Samir sagt mit leiser Stimme: „Das war der Punkt, an dem ich mit meinen Eltern gebrochen habe. Sie wollten nach Außen immer als eine Vorzeigefamilie gelten. Die Gesellschaft war ihnen wichtiger als eigene Tochter.“ Wenn Samir vom Inhalt des Spielfilms „Die Fremde“ hört, sagt er, die Story sei wie über seine Familie geschrieben. Zum Glück hat seine Geschichte im Unterschied zum Film kein tragisches Ende.

Samir besucht ab und zu seine Eltern. Seiner Schwester geht es gut. Samir nimmt keine Drogen mehr. Er glaubt wieder an Gott. „Es sind so viele gute Sachen in der letzten Zeit passiert. Ich kann nicht anders, als an Gott zu denken“, sagt Samir. Er schaut auf die Uhr. Er muss sich beeilen. Gleich besuchen ihn Freunde zum Pokern. Samir steckt seinen Tabak in die Hosentasche, setzt seine Kopfhörer auf und verschwindet im Menschenstrom der Essener U-Bahn.

Bild: Szene aus dem Film „Die Fremde“.

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Ernst
Ernst
13 Jahre zuvor

gefällt mir.

schreit nach einer Fortsetzung: was ist aus „Samir“ geworden, in … Jahren?

Malte
13 Jahre zuvor

Und? Warum…steht das jetzt hier? Eine Geschichte von vielen! Bitte um kurze Erklärung!

Thomas
13 Jahre zuvor

Stärkster Text seit Wochen hier.

Nicht nur wegen der Geschichte. Sondern auch wegen der Lakonie.

crimejournal
13 Jahre zuvor

Nun sitze ich hier, mit diesem Text – und bin beeindruckt, überrascht gar, tief berührt, musste schlucken. Eigentlich schaue ich bei euch „nur mal eben schnell so mal rein“, eurer guten Kontakte und der schnellen Meldungen wegen überfliege ich das dann. Wie so viele andere Seiten. Und nun stelle ich fest: „Malte“ ist doof. Aber nicht selten beeindrucken mich auch eher pragmatische Menschen. Das ist wie beim Fotografieren, die Kunst des Fotografen ist, das Motiv zu erkennen. Hier traf gute Story auf echt begabten Schreiber. Ich bin im Web selten auf derart guten Schriftsatz gestoßen wie diesen hier. Wer immer das geschrieben hat, ihr solltet zusehen diese Person zu verpflichten regelmäßig einen fürwahr literarischen Hauch in dieses Weblog zu befördern.

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